Thomas Stangl: Regeln des Tanzes
Thomas Stangl steigert die Merkmale des modernen Ichs ins Extrem. Von den „Segnungen“ der Moderne ist nichts geblieben, geblieben ist das vereinzelte, vereinsamte, ungebundene Individuum. Alles, alles hat sich aufgelöst, die Zeit, der Raum, die Form, der Sinn. Vergangenheit und Gegenwart schieben sich ineinander, Zukunft ist allenfalls als zeitlos ahnbar. Vielleicht implodiert die Zeit aber auch. Innenräume gehen in Außenräume über – und umgekehrt, wo hier ist, ist vielleicht auch woanders, vielleicht nirgends. Die Personen sind zum Verwechseln und verwechseln sich selbst. (164) Wo kein Ziel ist, kann es keine Leidenschaft geben, keinen Willen, das Ich ist völlig zurückgeworfen auf sich selbst. Nicht einmal der Tod ist eine Perspektive, am ehesten noch das Zerfließen.
Du läufst hier herum und tust dabei nur noch so, als würdest du herumlaufen. Jeder Atemzug sagt dir, dass nicht selbstverständlich ist, dass du atmest; etwas Unerträgliches kann in der Wohnung sein, irgendwo in der Wohnung, eine Leiche; jemand Fremdes kann jederzeit in die Wohnung eindringen; jemand Fremdes beobachtet sie, bei allem, was sie tut; jemand Fremdes, eine Anwesenheit, eine Leiche, eine Leiche, die lebt. Sie trinkt ihren Kaffee und hofft, er könnte wenigstens die Watteschicht von ihrem Kopf ablösen, sie würde gern mit jemandem reden, jemanden anrufen, aber es ist Sonntagvormittag, und außerdem weiß sie nicht, was sie überhaupt erzählen kann; ob das, was sie erlebt, eine Geschichte ist, die sich erzählen lässt, ob irgendjemand etwas davon verstehen könnte. Und bist du nicht schon so weit, dass du mit niemandem mehr sprichst, weil du die Behauptungen der anderen nicht mehr erträgst; noch viel weniger deine eigenen Behauptungen, so künstlich bist du dir geworden. Du erträgst nur noch stumme Zeichen.
Stangl ist konsequent. Er beschreibt die Auflösungen nicht nur, er macht sie zum Stilprinzip seines Erzählens. Wenn die Personen unfähig sind zu handeln, kann es keine Handlung mehr geben. Nur mit ihren Tentakeln tasten die Ichs nach anderen, sie kommen sich selbst und allen anderen abhanden. Walters Partnerin Pre ist nicht mehr da, das einzige, was Walter vermag, ist vage zu ahnen, dass er allein ist. Auch Mona ist nicht mehr da, ihre Schwester stellt das fest, spürt Relikte, Düfte, Wäsche, Angewohnheiten, an die sie sich zunehmend unbestimmt erinnert. Mona treibt durch die „Stadt“ und den „Wald“, dann unmotiviert wieder zurück, wo sie ist, ist egal, wer sie ist, auch. Stangl schreibt über seine Personenfragmente in der 3. Person, wechselt aber ständig ins Du: Wer ist gemeint? Du könnte persönlich sein, du ist jede(r).
Beschreibend ist das nicht möglich, das Verfahren Stangls ist nachvollziehend. Stangl ist es so gut gelungen, wie ich es selten gelesen habe. Das ist aber auch das Problem des „Romans“. Es wird zur Zumutung, von der Langeweile nicht nur zu sprechen, sondern sie erzählend zu doppeln. Es wird zur Qual, psychische Deformationen als solche lesend verspüren zu müssen. Wie soll man darstellen, dass eine Person keine Antriebe mehr hat, keine Kontakte mehr aushält? Wie soll absolute Individualität kommuniziert werden? „Stangls Blick arbeitet nicht am Panorama, sondern verharrt konsequent in der Innenperspektive seiner Figuren. Welterkenntnis und mögliche Weltveränderung können auf diese Weise, wenn überhaupt, nur Resultate von Selbsterfahrung sein, die aber wiederum permanentem Zweifel unterzogen ist.“ (Christoph Schröder, ZEIT)
Jede Geschichte spielt in der Zeit, also bedarf es zumindest einer Andeutung von Geschehen. Stangl ringt es sich murrend ab.
Also gut, es geht nicht anders, beginnen wir mit den Bildern. Was sind schon Bilder: Formen auf Papier oder Bildschirmen, Licht, versteckte Magie.
Es konnte kein Zufall sein, dass er die Filmdosen fand. Nicht, dass er einen offenkundigen Sinn darin sah oder etwas Ähnliches erwartet hatte, aber er nahm sie bedenkenlos an sich, ruhig, ohne Hast und Aufregung, erst im Nachhinein erfasste ihn eine Art von Erregung, eine Art von Glück: als hätte er schon gesehen, was die Fotos für ihn (für irgendeinen, aber jetzt nur mehr für ihn) bereithielten, einen ganzen Film, in den er umsteigen könnte wie in eine parallele, auf Zelluloidstreifen festgehaltene Existenz.
Zu dieser Zeit hatte Doktor Steiner (wie er zuweilen auch für sich selbst hieß) gerade erst wieder begonnen, ziellos durch die Stadt zu laufen; wie vor Jahrzehnten, als er noch Geheimnisse und kleine Wunder hinter jeder Ecke, in jedem Schaufenster, in jedem Lokal, jedem Lächeln einer Frau, jeder Betrunkenheit, jedem betrunkenen Monolog eines Unbekannten, jeder Ausstellung und jedem Buch erwartet hatte.
Der Leser muss Geduld haben, die minimalistische Handlung ist schwer aufzuspüren, ständig wird sie von Lebensüberdruss der Personen überwuchert. Fast am Ende trifft Steiner eine der Frauen, die auf den Bildern zu sehen waren, bei einer seltsam wattierten Tanzperformance, die auch den Titel rechtfertigen könnte: “Man muss vollkommen vergessen, wie man gehen kann, liest er. So ungeschickt sein, dass man im Stehen stolpert, dann beginnt das Tanzen.” Die Aufführung, in die Steiner hineingezogen wird, ist so esoterisch, dass Stangl sie in einer “Zeitungsnotiz” verreißen lässt: Die Machinationen der Künstlerin, steht am übernächsten Tag in der Zeitung, hinterlassen einen ratlos. Was es mit dem armen Walter Steiner auf sich hat, begreift niemand. Ebensowenig wie die Reminiszenzen an eine längst verstaubte Aktionskunst der Sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts und die anscheinend schlecht verdauten ostasiatischen Mystizismen, die den Abend tragen sollen. Da und dort zu vermutende autobiographische Spuren bleiben im Vagen. Man wartet vergeblich auf ein schlüssiges Konzept, das die gewiss drängenden Komplexe von Erinnerung, Abwesenheit und Identität, wie im Programmheft versprochen, in eine tänzerische Sprache fasst. Alles in allem –
… trifft diese Kritik den ganzen Roman. Der aber durch die Selbsterkenntnis nicht besser wird. Es findet sich noch ein zweites “Handlungs”-Motiv: Die beiden Frauen werden nicht nur durch ihr Leben getrieben, sondern auch durch Demonstrationen, die es in Wien Anfang der 2000er-Jahre gegen das “Mascherl” (Kanzler Schüssel) und seine Koalitionsregierung mit der rechten FPÖ gab. So lokal begrenzt die Relevanz dieser Demonstrationen war, so nimmt ihr Stangl auch noch den letzten Ernst, indem er sie zum Teil der wabernden Existenz seines Personals macht. Ein verquaster Text, der es seltsamerweise 2013 auf die Longlist des deutschen Buchpreises schaffte. Peter Pisa vom Wiener „Kurier“ erkennt „eine neue, vielleicht „wirklichere“ Wirklichkeit“ . „Neben all den Romanen, die heutige Wirklichkeit in kleiner Münze als rein soziale verhandeln, ist Stangls Roman ein Ereignis.“ Schreibt Sibylle Kramer in der SZ. „Wer sich (…) auf die ästhetische Kompromisslosigkeit dieses Texts einlässt, auf die hohe Musikalität der Stanglschen Sprache und das bizarre Setting, das der Autor da auf 280 Seiten entwickelt, für den hält die Lektüre von „Regeln des Tanzes“ den einen oder anderen Glücksmoment bereit.“ (Günter Kaindlstorfer, Deutschlandfunk)
Fast immer ist ihr bewusst, dass es die parallele Wirklichkeit gibt, die sie genau so sehr betrifft und in der sie genau so wenig eine Rolle spielt: zu jedem Moment gibt es einen gleichzeitigen Moment, den ihre Schwester erlebt, irgendwo in dieser Stadt oder schon wer weiß wo sonst in der Welt: sie wünscht sich einen Mechanismus, mit dem sie zwischen diesen Wirklichkeiten hin- und herwechseln könnte; dem Öffentlichen und dem Privaten, der für sie allein seltsam leeren anwesenden Wirklichkeit und der fast alles versprechenden abwesenden Wirklichkeit; fast alles, das heißt jetzt für sie, das größte Glück ebenso wie das größte Entsetzen. Immer ist ihr vorgekommen, ihre Schwester sei wirklicher als sie: sie sähe deutlicher, spürte intensiver, bewohnte ganz anders als sie mit ihrem Körper die Welt. Noch ihr Fortsein ist wirklicher als das Herumleben der anderen Idioten. (…)
Deine Bewegungen sind nur kleine zufällige Züge, du kannst keinen Punkt auf dem Stadtplan, der Weltkarte besetzen, hast keine Schwere. Es gibt eine spezielle Art von Schwere, die nichts als Grazie ist; es gibt eine Grazie, die Schwere in Leichtigkeit verwandelt (und natürlich denkst du an Mona: als wäre diese Frau, die deine Schwester ist, die einzige, die letzte, die überhaupt die Füße auf dem Boden halten, in Verbindung mit dem Boden bringen kann, oder eher noch die einzige und letzte, die den Boden unter ihren Füßen, unter ihrem Körper halten kann: so als wäre ihr Körper, dieser eine Körper, wo auch immer er sein mag, daheim: an einem Punkt auf der Erde, an einem Punkt in der Zeit).
2013 280 Seiten
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