Peter Henisch: Mortimer & Miss Molly
“Italien 1944: Kurz vor Kriegsende landet in San Vito in der Toskana ein amerikanischer Soldat mit seinem Fallschirm mitten in einem malerischen Renaissancegarten, ausgerechnet unter dem Fenster der englischen Gouvernante, die ihn vor den deutschen Besatzern versteckt. Das ist die Geschichte von Mortimer und Miss Molly, eine Liebesgeschichte. Jedenfalls der Anfang davon.” So kündigt sich der Roman an, doch der Autor bremst sofort und meldet seine Bedenken an:
Die Geschichte könnte damit beginnen, dass Mortimer vom Himmel fällt. Ein Fallschirmspringer, der im Zentrum des Renaissancegartens landet. Dieser Renaissancegarten ist geometrisch gestaltet, sechs von Hecken gesäumte Trapeze umgeben ein kreisförmiges Zentrum. Radius: nicht mehr als fünf Meter. In diesem Zentrum landet Mortimer.
Steht Miss Molly am Fenster? Zweifellos wäre das eine schöne Szene. Für einen Film, den ein Fellini hätte drehen können. Miss Molly steht am Fenster, sie hat den weißen Vorhang ein wenig beiseite geschoben. Und sieht Mortimer, einen soeben mit dem Fallschirm gelandeten, amerikanischen Soldaten.
Das heißt: Sie sieht ihn noch nicht – er ist ja vorerst vom Fallschirm bedeckt. Oben Miss Molly, die den Vorhang ein wenig beiseite gezogen hat, unten Mortimer, der unter der Fallschirmseide hervor muss. Das soll möglichst rasch gehen, aber es ist nicht so einfach. Verwicklungen kommen vor, bei aller Routine.
Miss Molly wartet, bis sich der Mann entpuppt. Gewiss, eine schöne Filmszene, sagte Julia.
Fellini hat diesen Film nicht gedreht, Gott sei Dank. Denn vielleicht werde ich ihn eines Tages drehen, sagte Marco.
Damit sind Julia und Marco eingeführt, die Hauptpersonen. Julia studiert Kunstgeschichte in Wien, Marco Medizin in Mailand, sie treffen – in den achtziger Jahren – in der Toscana aufeinander und es beginnt die Sommerliebe. Die eigentliche Liebesgeschichte, denn Mortimer und Miss Molly sind fortan nur noch die Projektionen. Julia und Marco versichern sich ihrer Liebe in ihren Phantasien über die beiden Alten, die vor über 50 Jahren im selben giardino zueinander fanden. Die Geschichte von Julia und Marco ist liebreizend, warmherzig, sentimental in ihren Problemphasen, arg klischeehaft, nicht weit vom Groschenroman. Schön erzählt, das schon. Und man kann viel Italienisch lernen dabei, denn Peter Henisch muss natürlich vieles auf Italienisch sagen, das gehört so zum Ambiente und die Geschichte fängt an zu fliegen: der Roman einer Sommerliebe.
Der Mond hing als schmale Sichel über der Erde. Und die Erde vibrierte vom Zirpen der Grillen. Und der Himmel erschien ihnen nicht flach wie sonst, sondern als Gewölbe. Ein Himmel, wie er in alten Büchern stand.
Sie gingen den Hohlweg, der an den Feldern entlangführt. Und da sahen sie tatsächlich die Glühwürmchen. Die Glühwürmchen, die Julia im Zug vor ihrem inneren Auge gesehen hatte. Sie schwebten im Brombeergesträuch, glitzernd wie winzige Strassdiamanten.
Siehst du, sagte sie, da sind sie, ich hab es gewusst! Lucciole hießen diese netten Leuchtkäfer auf Italienisch. So viele lucciole, sagte Julia, wie schön! Marco lachte. Irgendetwas schien ihn zu amüsieren.
Ja, sagte er, so viele gibt es nicht einmal im Bahnhofsviertel in Rom.
Es dauerte eine Weile, bis sie begriff.
Lucciole hießen auf Italienisch auch die Prostituierten. Una lucciola (Singular), molte lucciole (Plural).
Ecco, sagte Marco. Das hast du bei deinem Fulvio nicht gelernt.
Sie überging das. Die Glühwürmchen waren trotzdem schön. Nicht nur schön: Sie waren ein wahres Wunder. Nicht nur in den Brombeerhecken glitzerten sie, sondern auch in den Feldern.
Und wie! Und wie viele! Unglaublich! Zahllose Glühwürmchen! Je mehr sich das Auge an die schöne Dunkelheit gewöhnt hatte, desto mehr von ihnen sah man. Und jetzt stell dir das bitte im Film vor – was für eine Szene! Mortimer und Molly durch ein von Glühwürmchen übersätes Feld laufend.
Anfangs noch immer gebückt, noch immer mit der Angst im Nacken. Aber nach und nach immer entspannter, immer aufrechter. Und in Großaufnahme sieht man, wie Molly nach Mortimers Hand fasst oder Mortimer nach der ihren. Und den leichten Händedruck, mit dem sie einander bestätigen, dass sie es immerhin bis hierher geschafft haben, muss man buchstäblich spüren.
“Aber wenn die Wirklichkeit nun einmal etwas anders aussieht als die Illusion?, sagte er. Umso schlimmer für die Wirklichkeit, sagte sie. Questa realtà non me ne frega un cazzo.”Ob die Begegnung Mortimer mit Miss Molly sich so abspielte, wie ausgedacht, ist ohne Bedeutung. Titel, Cover und Klappentext locken auf die falsche Fährte, was man zunächst bedauert, weil man einen historischen Roman erwartete. Selbstverständlich sind aber auch Julia und Marco fiktiv, die zweite Ebene, die sich mit der ersten ständig vermischt. Der Autor spielt auktorial mit den Fiktionen – und damit wird der Roman wieder interessant. Er “dekliniert in der Spiegelung zweier Liebesgeschichten Möglichkeitsformen der Liebe allerdings nicht durch, um der Wirklichkeit zu entfliehen, sondern um ihr etwas vom Zauber zurückzugeben, den sie verliert, wenn sie sich auf das Sicht-, Mess-, Plan- und Verhandelbare beschränkt und Traum und Utopie verrät“(Beate Tröger, FAZ).
Ja, sagte Julia, ja, sagte Marco, ja, ja, sagten sie beide. Sie probierten diese Szene: Sie spielten sie nach, sie spielten sie einander vor. An dieser Szene konnten sie sich gar nicht sattspielen. Zweifellos war das der bisherige Höhepunkt ihres Fantasiespiels. Es wäre ideal gewesen, hätte man die Zeit an dieser Stelle anhalten können. Aber das ging nicht. Weder für Mortimer und Molly noch für Julia und Marco. Das würde, bedauerte Marco, nicht einmal in seinem Film gehen. Auch wenn diese Szene in Zeitlupe abliefe, müsste sie einmal enden.
So könne doch die Geschichte nicht stehenbleiben. Das wäre, so leid es ihm tue, sehr unrealistisch. Wir können nicht einfach ausblenden, was draußen geschieht. Draußen ist nach wie vor Krieg. Wir sind im Juni 1944.
Vorausgesetzt, dass die Geschichte sich wirklich so zugetragen hatte. Die wahre Geschichte von Mortimer und Miss Molly. Aber ist die wahre Geschichte immer die wirkliche Geschichte? Oder andersherum gefragt: Ist die wirkliche Geschichte immer die wahre Geschichte?
Sie hat sich so zugetragen, sagte Marco.
So?, sagte Julia. Und woher willst du das auf einmal wissen?
Henisch sei „ein großer Ironiker. Über allen interpretatorischen Bemühungen steht das Lächeln des Autors“, schreibt Helmut Schödel in der SZ. Das kann mit dem „kitsch“ der (periodischen) Sommerliebe schon wieder versöhnen.
Die Sonnenfinsternis dauerte zwei Minuten und dreizehn Sekunden. Ihre Umarmung dauerte deutlich länger. Als sie danach wieder aufstanden und auf die Mauerkrone hinaustraten, stand die Sonne am Himmel und strahlte wie eh und je. Siehst du, sagte Marco, wir haben sie wieder herbeigevögelt.
FINE
2013 320 Seiten
Schön gemachte Homepage von Peter Henisch
Peter Henisch liest aus „Mortimer & Miss Molly“
Video von den „Lesezeichen“ des BR
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