Robert Seethaler: Der Trafikant
Der Franzl aus dem Salzkammergut geht in die große Stadt, nach Wien. Er hat eine Stelle gefunden bei einem „befreundeten“ Trafikanten, Otto Trsnjek. Viel ist nicht zu tun, Franzl soll ein bisschen im Laden helfen und vor allem Zeitungen lesen. Man schreibt das Jahr 1937 und es kommt, wie’s muss: Franzl verliebt sich in das erste Mädelchen, das ihm unter die Augen kommt. Eine „Runde“ aus Böhmen, mehr weiß er nicht von ihr. Bald ist sie wieder weg, Franzls Weg zum Franz endet in der erwarteten Enttäuschung. Franz ist verwirrt. Die Mama, mit der sich Franz(l) Postkarten und dann Briefe schreibt, heißt jetzt Mutter. Die Trafik liegt im Alsergrund, in der Währinger Straße und da ist nicht weit entfernt die Berggasse und da wohnt, wie man weiß, im 37-er Jahr noch der Professor Sigmund Freud, der sich mit Frauen auskennen soll und mit der Liebe. Der kommt ab und zu in die Trafik, um sich seine Zeitungen und seine Zigarren zu holen, und er kommt wie gerufen, denn er könnte ja dem Franzl in Liebesdingen professorale Hilfe leisten. Freud und Franzl freunden sich an, hilfreiche Ratschläge hat aber auch der väterliche Freund nicht zu bieten.
Franz sah ihn mit großen Augen an. Ein Zittern lief ihm durch den ganzen Körper. Ja, dachte er, ja, ja, ja! Und im nächsten Moment brach es aus ihm heraus: »Ein Mädchen!«, rief er derart gellend, dass die drei alten Damen, die sich auf der anderen Straßenseite eben erst zu einer kurzen Gassentratscherei zusammengerottet hatten, verschreckt ihre kunstvoll ondulierten Köpfe nach ihnen umdrehten. »Ja, wenn das so einfach wäre … ! Endlich hatte er das ausgesprochen, was ihm schon seit langer Zeit, im Grunde genommen schon seit dem Tag, an dem seine ersten Schamhaare zaghaft zu sprießen begonnen hatten, sowohl das Hirn als auch das Herz umrührte. »Bislang haben das noch die allermeisten geschafft«, meinte Freud und bugsierte mit seinem Gehstock zielsicher einen Kiesel vom Trottoir. »Das heißt aber noch lange nicht, dass ich es schaffen werde! »Und warum ausgerechnet du nicht?« »Da, wo ich herkomme, verstehen die Leute vielleicht was von der Holzwirtschaft und davon, wie man den Sommerfrischlern ihr Geld aus den Taschen zieht. Von der Liebe verstehen sie rein gar nichts!« »Das ist nichts Außergewöhnliches. Von der Liebe versteht nämlich niemand irgendetwas.« »Nicht einmal Sie?« »Gerade ich nicht!« »Aber warum verlieben sich dann alle Leute ständig und überall?« »Junger Mann«, sagte Freud und hielt an. »Man muss das Wasser nicht verstehen, um kopfvoran hineinzuspringen!« »Ach!«, sagte Franz in Ermangelung passenderer Worte, die die unermessliche Tiefe seines Unglücks zum Ausdruck bringen könnten. Und gleich noch einmal hinterher: »Ach!« »Wie dem auch sei«, sagte Freud. »Wir sind angekommen. Darf ich um meine Zigarren und meine Zeitung bitten?« »Aber natürlich, Herr Professor!«, sagte Franz mit hängendem Kopf und reichte ihm das Paket. BERGGASSE NR. r9 stand auf dem Schildchen über dem Hauseingang. Freud nestelte einen Schlüsselbund hervor, sperrte auf und lehnte seinen schmächtigen Körper gegen das schwere Holztor. »Darf ich Ihnen …« »Nein, du darfst nicht«, knurrte der Professor, während er sich schnell durch den Türspalt ins Innere drängte. »Und denk daran«, schob er hinterher und reckte seinen Kopf noch einmal ins Freie. »Mit Frauen ist es wie mit Zigarren: Wenn man zu fest an ihnen zieht, verweigern sie einem den Genuss. Ich wünsche einen angenehmen Tag!« Damit verschwand er im Dunkel des Hausflurs. Mit einem leisen Knarren schloss sich das Tor, und Franz stand alleine im Wind.
Inzwischen ist es 1938 geworden, in Wien wehen immer mehr rote Fahnen mit Hakenkreuzen, die Nazis werden rotzfrech, nisten sich ein, die Wiener machen sich klein, die Trafik verliert Kunden. Steine fliegen, Franz muss das Geschäft für Herrn Trsnjek führen, die Böhmin Anezka schließt sich einem Nazi an, Professor Freud hat sich mit der “Reichsfluchtsteuer” seine Ausreiseerlaubnis erkauft. Es dauert lange, bis der brave Franz die Geduld verliert und seine politische Unschuld. Der Ton der Erzählung wird bitterer. Robert Seethaler hat einen sympathischen Roman mit einem liebenswerten “Helden” in diese Stadt in Aufruhr geschrieben. Er nimmt sich Zeit für die bescheidenen Höhepunkte und die Katastrophen des Lebens. Zeit auch für die kleinen Dinge, das Essen und die Gerüche und die unscheinbaren Ecken des Bezirks. “Der Trafikant” ist ein leises politisches Buch, wie der Franz ein leiser Mensch ist. “Wer nichts weiß, hat keine Sorgen, dachte Franz, aber wenn es schon schwer genug ist, sich das Wissen mühsam anzulernen, so ist es doch noch viel schwerer, wenn nicht sogar praktisch unmöglich, das einmal Gewusste zu vergessen.“ Doch auch für die Ruhigen werden die Abgründe immer tiefer. “Der Trafikant” ist ein österreichischer Roman, Gerhard Polt sieht ihn “in der Tradition von Alfred Polgar und Joseph Roth”. Das Grauen schleicht sich durch die Lakonie des Erzählens, die feine Beiläufigkeit. Ohne Schmäh, dafür ist die Lage zu ernst. Freud und Franz trennt nicht nur das Alter, aber sie verstehen sich. Franz hat sich sogar angewöhnt, seine Träume aufzuschreiben; er pickt die Traumhappen als “aufgeklebte Absonderlichkeiten” an die Scheibe seiner Trafik und die Passanten beglotzen sie, ohne “auch nur das Geringste zu verstehen”.
„Freuds Gesicht hellte sich auf. Eigentlich hatte er sich in Gegenwart sogenannter ,einfacher Leute‘ immer ein wenig unbeholfen und deplatziert gefühlt. Mit diesem Franz aber verhielt es sich anders. Der Bursche blühte. Und zwar nicht wie die über Jahrzehnte ausgebleichten und durchgesessenen Strickblüten auf einer der vielen Decken, die seine Frau immer so sorgfältig über die Couch drapierte und in deren dicken Wollfasern sich auf magische Weise der Staub der ganzen Wohnung zu sammeln schien. Nein, in diesem jungen Mann pulsierte das frische, kraftvolle und obendrein noch ziemlich unbedarfte Leben.“
„‚Hm‘, meinte Franz und legte eine Hand an seine Stirn, um das wilde Durcheinander seiner Gedanken dahinter ein wenig einzudämmen. ‚Könnte es vielleicht sein, dass Ihre Couchmethode nichts anderes macht, als die Leute von ihren ausgelatschten, aber gemütlichen Wegen abzudrängeln, um sie auf einen völlig unbekannten Steinacker zu schicken, wo sie sich mühselig ihren Weg suchen müssen, von dem sie nicht die geringste Ahnung haben, wie er aussieht, wie weit er geht und ob er überhaupt zu irgendeinem Ziel führt?‘ Freud hob die Augenbrauen und öffnete langsam den Mund. ‚Könnte das sein? Habe ich etwas unglaublich Blödsinniges gesagt?‘ wiederholte Franz. Freud schluckte. ‚Nein, das hast du nicht. Das hast du ganz und gar nicht.'“
2013 250 Seiten (TaBu)
Homepage von Robert Seethaler mit Video-Lesung und Leseproben
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