Nachrichten vom Höllenhund


Stricker
7. Juni 2014, 20:19
Filed under: - Belletristik

Sarah Stricker: Fünf Kopeken

stricker

Die Hauptperson heißt Schneider, einen Vornamen braucht sie nicht, denn sie ist die „Mutter“ der Erzählerin, „meine Mutter“. Natürlich ist das Fiktion. „Wenn man gute Geschichten schreiben will, muss man seiner Phantasie vertrauen“, weiß Marcel Reich-Ranicki. Sarah Stricker macht das wie selbstverständlich, sie mischt die Realitäten, dass man fast geneigt ist, ihr zu glauben. Sie findet die Worte und Bilder für das, , was ihr „ihre Mutter“ im Krankenhaus anvertraut. Die Mutter hat nicht mehr lange zu leben, sie will ihr Leben doch noch in den Griff kriegen,damit sie es weitergeben kann.

Ihr Blick ging ein Stück an mir vorbei, heftete sich irgendwo ins Leere, wo er Raum hatte, die staubigen Bilder wieder auseinanderzufalten. Aber die Zeit, die sie sich nahm, die Worte in ihrem Mund anzuwärmen, änderten nichts an der Kälte, die ihnen innewohnte, an der Brutalität, konnten den Widerspruch zwischen dem Wie und dem Was nicht auflösen.
Anfangs fragte ich mich oft, warum sie mir das alles erzählte. Warum musste ich das wissen? Warum sollte überhaupt irgendjemand so etwas über seine Mutter wissen?
Aber je weiter ihre Geschichte voranschritt, desto mehr begriff ich, dass es vor allem diese Stellen waren, die, die man ihr nicht zutrauen wollte, die sie erzählen musste, die sie laut aussprechen musste, um sich zu vergewissern, dass sie sich die Frau, die all die Jahre nur in ihrem Gedächtnis weitergelebt hatte, nicht nur ausgedacht hatte. Um zu überprüfen, ob die Vergangenheit auch der Wirklichkeit Stand halten würde. Mein Zuhören sollte ihre Erinnerung beglaubigen. Und ich tat ihr den Gefallen. Stempelte ihr alles ab, jede einzelne Szene. Wie sie sich in den Schlingen wand. Wie sie schrie. Wie ihr Kopf gegen den Bettrahmen stieß, während sein Grinsen über ihr immer schiefer wurde.

Unmerklich geht das in die Erzählung, in die Romanhandlung über, die Ebenen werden vermischt, Mutter und Tochter werden bald austauschbar, wer erzählt eigentlich? Aber das ist egal. Was eben noch Schmerzensschreie waren, sind schon Schreie der Lust, Tod und Liebe finden sich, endlich.

Wie sie sich in den Schlingen wand. Wie sie schrie. Wie ihr Kopf gegen den Bettrahmen stieß, während sein Grinsen über ihr immer schiefer wurde.
Erst danach, als sie neben ihm lag, sah sie die aufgerissene Kondomverpackung, auch wenn sie sich nicht erinnern konnte, dass er eines angezogen hatte. Sie hob den Kopf, folgte seinem Haar, das wie ein Wegweiser zwischen seine Beine führte, sah tatsächlich den Ring um seinen Penis. Aber das Gummi darüber war zu nassen Fetzen zusammengerollt.
»Ach herrje!«, rief sie aus.
Alex öffnete die Augen und schaute an sich herab. »Ah, gerissen?«, fragte er, anscheinend weder besorgt, noch sonderlich interessiert.
Meine Mutter schüttelt verwirrt den Kopf. »Das kann einfach so reißen?«
»Kommt schon vor«, murmelte er und wischte sich übers Gesicht, »wenn’s heftig hergeht.«
»Ach, war das denn so heftig?«, fragte meine Mutter mit klopfendem Herzen.
Alex zuckte die Schultern. »Schon.«
»Ist dir das denn schon mal passiert?«
»Kann schon sein, vielleicht ein-, zweimal.« »Ach, dann ist das also ganz normal?«
Alex grinste. »Keine Sorge, Buba, du bist die Beste.«
Meine Mutter zuckte zusammen, »ich äh, ich hab nicht, also nicht weil …«, stammelte sie, drehte den Kopf zur Seite. Aber diesmal kam er ihr nach. Seine Finger strichen ihr das Haar aus der Stirn, fuhren an ihren Ohrläppchen hinab und wieder hinauf, wie auf einer Schaukel.
»Ich hab Hunger«, sagte er endlich und löste die Knoten um ihre Handgelenke.

Es beginnt wie eine Familiengeschichte aus der Geschichte der BRD: Wirtschaftswunder, 1989, Großvater Schneider expandiert mit seinem Modegeschäft von der Pfalz nach Berlin, Startschwierigkeiten im ehemaligen Osten. Seine Frau Hilde, die Goßmutter, ist da, um zu kochen und um sich Sorgen zu machen, die einzige Tochter ist ein Wunderkind. Hier, sagen die Rezensenten, müsse man die genialen, unerhörten ersten Sätze zitieren: „Meine Mutter war sehr hässlich. Alles andere hätte mein Großvater ihr nie erlaubt.“ Der Satz, der das zweite Kapitel einleitet: „Meine Mutter war zu hässlich, um dumm zu sein.“ Das ist (zu) böse, wenn es die Tochter schreibt, aber alles ist ja fiktiv, das Mittel legitimiert sich, wenn es aufmerksam macht und Interesse weckt. „Meine Mutter“ kann alles und alles am besten: singen, tanzen, turnen, rechnen, lesen, alles fällt ihr zu, alles steht ihr offen. „Das Einzige, wozu meiner Mutter leider völlig das Talent fehlte, war die Liebe.

Die Liebe wiederum strafte meine Mutter mit Missachtung. Während sie die anderen Mädchen von einer Gefühlswallung zur nächsten trieb, so dass einer sie eigentlich nur ein bisschen scheiße behandeln musste, damit sie ihm ihr Herz hinschmissen, schien meine Mutter gegen die kuhäugig glucksende Glückseligkeit gefeit, für die sie die Liebe hielt.
Als die dann endlich doch zuschlug, und diesmal richtig, mit voller Kraft, dabei so gut getarnt, dass sie mit bloßem Verstand nicht zu sehen war, traf sie meine Mutter völlig unvorbereitet. Das ist wie mit den Windpocken. Wenn man die nicht beizeiten hinter sich bringt, geht man fast daran ein. Sie wusste nicht, wie umgehen, mit der Angst und Sehnsucht und Verzweiflung, die sich plötzlich in ihr ausbreiteten, kannte nicht mal die simpelsten Regeln, die andere schon als Teenager lernen, die Hebel und Griffe, um ihre Gefühle im Zaum zu halten, hatte nicht gelernt, wie weit sie sich hinauswagen konnte, und wo die Strömung zu stark wurde, um alleine zu stehen. Sie verstand nicht, dass die Unendlichkeit des Schmerzes, der sie mit einer solchen Wucht mitriss, dass ihr all ihre schönen Überzeugungen unter den Fingern wegflutschten, eben doch ein Ende hatte, oder zumindest eins hätte haben können. Dass sie nicht im Schmerz verharren musste. Und sie hatte niemanden, der es ihr hätte erklären können. Sie war dem Angriff schutzlos ausgeliefert, und die Liebe nutzte ihre Schwäche aus, trieb sie vor sich her, als wolle sie sich für die Überheblichkeit rächen. Sie kämpften sich aneinander ab, machten es sich schwer, schwerer als nötig. Am Ende gewann meine Mutter. Zumindest glaubte sie das, auch wenn sie bis zuletzt darauf wartete, dass es sich endlich auch nach Sieg anfühlen würde.

Davon handelt der Roman. Als d e r Mann in ihr Leben einbricht, ist die Muter völlig schutz- und hilflos. Wie ein läufiger Hund hängt sie sich an Alex, verlässt ihr Zuhause, verdrängt ihren Verlobten,drängt in Alex’ Welt, die so ganz anders ist. Alex ist verlottert, pflegt sich nicht, weiß nichts von sich und den Normen, er kommt aus der Ukraine, stromert durch Berlin, jobt in einer Multikultikneipe, halb russisch, halb portugiesisch, halb Halbwelt, Chef ist “Schnuuggibuudsi”. Die Mutter passt da nicht hin und fühlt sich nur dort akzeptiert, sie lügt sich in diese Welt hinein. Sie kann nicht anders.

Meine Mutter senkt den Kopf. »Wie, äh, wie heißt das Gericht noch mal?«, fragt sie, um etwas zu sagen.
»Cozido à portuguesa«, sagt er, »ist das portugiesische Nationalgericht.« Die Augen meiner Mutter fahren über seine Wangen, die jetzt perfekt glatt rasiert sind, folgen seinen Mundwinkeln, die sich ganz langsam zurück in die Waagerechte bewegen.
»Ach wirklich?«, fragt sie.
Seine Hand rutscht ein wenig nach unten, aber er nimmt sie auch nicht weg, warum nimmt er seine Hand nicht weg?, bitte nimm die Hand nicht weg!
»Keine Ahnung«, sagt er, »wenn’s nach Schnuckiputzi geht, ist jedes Essen auf der Karte das portugiesische Nationalgericht.« (…)
»Ah, ach so«, sagt sie. Nickt. Wartet darauf, dass er fortfährt. Aber stattdessen löst sich plötzlich sein Daumen von ihrem Rücken.
»Ist ja witzig, dass er der einzige Portugiese hier ist«, ruft sie schnell.
»Äh, ja.« Sein kleiner Finger zieht sich ebenfalls zurück. Der Stoff bleibt an ihrem Rücken kleben, während er seinen Körper zur Tür dreht.
»Aus welchen Ländern kommen denn die andern?«
Er zuckt die Schultern. »Alles Mögliche.«
»Und äh, wie kommst du dazu, hier zu arbeiten?«
Seine Zähne verschwinden wieder hinter den Lippen. »Irgendwo muss man ja arbeiten.«
Sie nickt eifrig, macht sich noch runder, aber auch der Buckel kann nicht verhindern, dass die verbliebenen drei Finger einer nach dem andern von ihr abfallen. (…)
»Schnuggibuudsi, was mahen mit meina Kellner?« ruft er, »was sollhe Gaste denkhe, wenne ganse Seit quatsche?« Er macht ein Gesicht wie ein Großvater, also natürlich nicht wie mein Großvater, eher wie einer von diesen im Schaukelstuhl sitzenden, Münzen aus den Ohren ziehenden, Werthers Echte verteilenden Großvätern.
»Dann nehme dein Freundin halt mit, dass muss nix esse ganse allein«, sagt er und schüttelt den Wuschelkopf über seine Gutmütigkeit.
Meine Mutter schaut zu Alex, wartet gespannt auf eine Veränderung seiner Mimik, auf ein Zucken, ein Lächeln, ein Runzeln, irgendwas, das sie positiv oder negativ werten könnte.
Aber er stellt nur die Pfanne auf seinen Unterarm, nimmt ihr Glas in die Hand, die Flasche unter den Arm, dreht sich nicht um, während meine Mutter unsicher aufsteht und, die Gabel in der schweißnassen Faust wie ein Kind einen Lutscher, hinter ihm hergeht. Erst als die Schwingtür hinter ihr zufällt, greift er plötzlich nach ihrem Arm und beugt sich zu ihr.

Sarah Stricker erzählt ungemein anschaulich und lebendig. Sie gerät in Überschwang, “stempelte ihr alles ab, jede einzelne Szene.” Oft frage ich mich mit der Erzählerin: “Warum musste ich das wissen?” Wem tue ich einen Gefallen, wenn mich das alles interessiert. Die seitenlange Teilnahme an einem Mittagessen, die schier endlos zähe Nebenrolle bei einer Party, die nicht endende Angstlust der Mutter, alles ergiebig und oft fast zeitdeckend beschrieben. Sie hat den Blick und den Mut fürs Detail, auch was die Sexualität angeht, die die Großeltern der Mutter nicht zugestehen wollten. Ein zeitgeschichtlicher Bezug wird immer mehr in den Hintergrund gedrängt, dass Alex ein ukrainischer Jude ist, interessiert die Mutter nur, um den Kontakt mit ihm nicht abreißen zu lassen. Und so werden die 500 Seiten doch recht lang, tun dem Roman nicht mehr gut, man fühlt sich von Sarah Stricker in ihre Erzähllust und ihr Erzähltalent und ihre Erzählpflicht der Mutter gegenüber eingespannt. Die Mutter stirbt, der Roman findet dann aber doch ein schönes Ende.

2013       506 Seiten

2-3

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Rezension von Felicitas von Lovenberg in der FAZ

Rezension im “Büchersäufer”-Blog von Uwe Mundstock

Video der „Lesezeichen“ des BR

Interview der SWR-Landesschau


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