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Michael Köhlmeier: Die Abenteuer des Joel Spazierer
Was heißt: Etwas hat einen Sinn? Allegra meinte, Dinge, die sein können oder sind, ohne dass der Mensch ist, die haben keinen Sinn und können keinen haben und brauchen auch keinen zu haben. Eben das Weltall zum Beispiel. Aber wenn etwas tatsächlich einen Sinn hat, darf es nicht nur ein Begriff sein, es muss einen Namen haben und ist entweder gut oder böse. Da musste ich für mich denken: Also hat das Leben eines Menschen in jedem Fall einen Sinn. Und musste weiter denken: Also kommt niemand darum herum, in seinem Leben nach Gut und Böse zu suchen. Und ich suchte. Das wird Ihnen seltsam erscheinen und wird Sie sogar abstoßen: ein Mörder, ein Lügner, ein Dieb – und der borgt sich Philosophie aus, um Gewissenserforschung zu betreiben? Ein paar schöne Märztage hatten wir, bis das Wetter über die Osterwoche eintrübte. Wir spazierten auf den Kahlenberg und blickten über Wien, setzten uns mit dem Rücken an einen Holzzaun, an dem entlang das Gras vom vorangegangenen Jahr stand, nun gelb und borstig. Die Latten waren warm von der Sonne und wärmten meinen Rücken. Über uns in der weiten, erst wenig grünen Dolde einer Buche rief eine Taube – Gru-gru gru! Gru-gru gru. Allegra legte ihren Kopf in meinen Schoß, ich strich mit dem Daumen über ihre kräftigen Brauen. In einerr perfekten Geraden lagen ihre Lippen aufeinander, die zwei Kerben zwischen ihren Brauen waren scharf gezogen. Ebenso wie ich nie in den klaren Nachthimmel schauen konnte, ohne erschüttert zu sein durch die bare Existenz der Sterne, wunderte ich mich immer über Augenbrauen, Nasenflügel, Mundwinkel und Stirnfalten, weil in ihnen die Seele, dieses theoretische Konzept, dieser reine Begriff, auf ihre reale Existenz hinzuweisen schien. Aber ist es so?
Das ist die Geschichte von Joel Spazierer. Sie beginnt unter anderen Namen 1956 in Ungarn. Die Familie wird verdächtigt, zu den Aufständischen zu gehören und flieht nach Wien. Der Bub macht sich aber bald frei von Eltern und Großeltern und beginnt seine „Abenteuer“. Schon mit sieben verdient er Geld damit, älteren Männern einen zu blasen, er wird von einem ungarischen Geheimdienstler als sprachkundige Geisel nach Oostende geschleppt und schlägt sich bei der Rückkehr mit einem schwarzen US-Deserteur, Staff Sergeant Winship, durch die Wälder Deutschlands. Seine Familie hat ihn kaum vermisst, nimmt ihn aber mit, als sie nach Vorarlberg zieht. (Auch Autor Köhlmeier wohnt dort.) Er heißt noch András und schiebt sich in dubiose Gesellschaft, landet schließlich wegen Mordes im Gefängnis. Er/Köhlmeier erzählt ein Soziogramm der Zellengenossen. Als er nach 8 Jahren freikommt, zieht es ihn wieder nach – Wien. Er lernt weitere interessante Leute kennen: einen glaubensmüden Pfarrer, Drogensüchtige, Allegra, die italienische Kommunistin mit reichen Eltern. Weitere Stationen auf der Weltenfahrt des Joel Spazierer sind Kuba, lange die DDR mit ihrer Nomenklatura, Italien, immer wieder Wien, das Gasthaus Wickerl und viele Gegenden dazwischen und daneben. Joel Spazierer ist schon als Kind über die Maßen hübsch, mit lockigem Haar und Sommersprossen, er ist gescheit, raffiniert, in allem der Beste, spricht nahezu jede Sprache, er ist „moralisch deviant“, gottlos, er kocht superb. Sprich: ein Kotzbrocken. Er darf so sein, denn der Roman ist ein „Schelmenroman“. Darauf legt Köhlmeier wert.
Ich habe mich inzwischen erkundigt, was ein Schelmenroman ist. Darin wird von einem Helden erzählt, der Schreckliches tut und Schreckliches erleidet, für ersteres nicht zur Verantwortung gezogen wird und am letzten nicht zugrunde geht, weil eigentlich nicht sein Schicksal interessiert, sondern das seiner Zeit, womit alle Menschen gemeint sind – außer ihm.
An seiner Zeit wäre man interessiert, aber sie dient nur als Vehikel. Köhlmeier nimmt sie nur, um seine Figur zu verankern, die Figur dominiert, weil sie ihrerseits kein Interesse an der Zeit hat. Allan Karlsson, „Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand“, phantasiert sich ebenfalls – als Bombenleger – durch die Welt, aber Jonas Jonassons Held ist ein wirklicher Schelm, Jonasson hat Ideen. Joel Spazierer ist aber nicht deswegen ein Unangenehmer, weil es ihm an Moral mangelt oder weil er tabulos tötet, sondern vor allem, weil er enthemmt erzählt. Bei einem Schelmenroman, der ja in barocker Tradition steht, soll das so sein, man muss den Roman breit anlegen und sich kompositorisch einmischen: der Autor als Weltgestalter, der die Fäden hält oder sie auch nach Belieben loslassen kann. Köhlmeier hat kein Ziel, auch keinen Plan. Er weiß das selbst, aber das Eingeständnis ist nur Topos, Trick, es rettet den Roman nicht. Zunehmend kreisen seine „Abenteuer“, wiederholen sich, versanden – in Aufzählungen von Speisen.etwa.
Ich gerate in meiner Geschichte durcheinander. Ich muss mich disziplinieren. Ich werde mich disziplinieren, ich verspreche es, nur einen Augenblick noch … –… und nun, dort angekommen, weiß ich nicht, wie ich in meiner Geschichte fortfahren soll – ein Bienenschwarm an Gedanken und kein Plan, wohin ich die Waben meiner Erinnerungen bauen soll und will. Sebastian, du hast gesagt, ein Buch sei ein mäandernder Fluss. Wenn das so ist, dann sind meine Gedanken und Erinnerungen seine Arme. Es gelingt mir nicht immer, sie zu bändigen. Eine Geschichte ist ein Krake, ein Krake, ja. Verzeih, wenn ich in den Zeiten springe, vor – zurück – und wieder vor. In Wahrheit ist ja alles Gegenwart. Die Vergangenheit ist die Gegenwart eines Gedankens, das hat schon Augustinus gesagt. Der Mensch in der Abgeschiedenheit lebt ohnehin in der Ewigkeit – so habe ich Meister Eckhart verstanden.
A propos Meister Eckhart. Joel Spazierer tut so, als setze er sich mit den Kirchenlehrern auseinander, mit Thomas von Aquin, mit Fragen von Leben und Tod und der Ebenbürtigkeit und Verwechselbarkeit beider. Mit Gott, den Spazierer „der Gott“ nennt, mit dem Bösen, mit dem Verhältnis von Wahrheit und Wirklichkeit. Aber man nimmts nicht ernst, glaubts dem „Schelm“ nicht. Alle 50 Seiten ein metaphysischer Schub, losgelöst vom Geschehen, wie’s einem gerade kommt. Den Zusammenhalt hat Köhlmeier im Kopf, der Leser findet ihn nur mühsam. Man wird ärgerlich, weil Köhlmeier sich anmaßt, mit Angelesenem zu protzen. Direkt in wikipedia zu lesen, wäre ergiebiger. Viel Arbeit beim Schreiben, viel Aufwendung beim Lesen, beides recht müßig. Stephan Speicher nennt Den Roman in der SZ einen „Köhlmeierschen Problemeintopf“, Andreas Breitenstein (NZZ) „zeigt sich allenfalls ermüdet, erschlagen von Details, einer unglaubwürdigen Perspektive und additiver Handlung“ (Perlentaucher).
2013 650 Seiten
Lesung von Michael Köhlmeier bei RavensBuch
Michael Köhlmeier im (winterlichen) LeseZeichen des BR
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