Jacques Decours: Philisterburg
Ich habe mir selbst versprochen, dass ich bloß Tatsachen wiedergebe. Bis jetzt habe ich vor allem räsoniert. Das geht auf Kosten der Einheitlichkeit. Aber ein Kunstwerk will ich sowieso nicht hervorbringen.
Jacques Decour schreibt in sein Tagebuch, was er bei seinem Aufenthalt als französischer “Austauschlehrer” in Deutschland 1930 wahrnimmt. Neben der Schule mit ihren Lehrern, Schülern und Methoden sind das Leute, denen er begegnet, etwa seine Zimmerwirtinnen, Zeitungen, die Stadt mit ihren Gebäuden, Straßen, Aufmärschen. Es fallen ihm viele Unterschiede zu Frankreich auf, doch ihm geht es darum, diese Diefferenzen einzuordnen, zu lelativieren. Decour ist erst 20 Jahre, kaum älter als die deutschen Schüler, doch er urteilt differrenziert, er denkt: politisch. Decour “behauptet seine Zweifel nicht nur, er führt sie vor. (…) Der in Tagebuchform geschriebene Text entwickelt Gedanken, unterzieht sie scharfer Kritik, verwirft oder verbessert sie, rekapituliert sie, resümiert. Philisterburg zeigt die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Schreiben.
Aber Philisterburg leistet noch viel mehr: In einer unbarmherzigen Genauigkeit protokolliert Decour die eigenen Regungen, gerade auch die peinlichen, ob das Mitgerissenwerden vom lutheranischen Choral oder vom Choral der marschierenden SA, ob den Ekel vor hässlichen Passanten oder das Fasziniertsein von einer Entschlossenheit, die ihm selbst noch unmöglich ist. Weil er sich nichts durchgehen lässt, weil er mit seiner Leidenschaft erkennt, nicht gegen sie, weil er sich selbst als Teil des Geschehens begreift, wird sein Bericht wahrhaftig. Er zieht sich nicht vorsichtig auf den Beobachterposten zurück, denn »Ansichten verpflichten«” schreibt Stefan Ripplinger in seinem Vorwort. Das Tagebuch ist also mehr als bloße Beobachtung, Decour “räsoniert”, man sollte das beim Lesen auch tun. Daraus entsteht Geschichte.
Ein Historiker bin ich nicht und verstehe nichts von Methodenfragen. Ich weiß nur, dass ich noch nie solch eine Geschichtsstunde erlebt habe. Für die meisten Schüler in Frankreich sind die Geschichts- und die Geographiestunde die langweiligsten und am wenigsten nützlichen Schulstunden von allen. Wer überhaupt etwas am Geschichtsunterricht findet, betont, wie gut er das Gedächtnis übt. Der Unterricht wird frontal vom Lehrer erteilt, der, meist mit Notizzetteln bewaffnet, die ganze Zeit über redet. Am wichtigsten sind die Daten und das am häufigsten eingesetzte Lehrbuch ist das nicht vorhandene des Kammerdieners.
Was soll Geschichtsunterricht? Soll er dem Gedächtnisjunger Bourgeois ein paar Namen, Daten, Anekdoten einprägen, die sie dann später im Salon abspulen können, damit jeder merkt, dass sie »Kultur« haben? Das ist die äußerliche Geschichte, die Geschichte der Dummköpfe. »Übrigens ist mir alles verhasst, was mich bloß belehrt, ohne meine Tätigkeit zu vermehren oder unmittelbar zu beleben.« Dieses Goethewort hat Nietzsche seiner Betrachtung über die Historie vorangestellt. Darin ist die ganze Diskussion zusammengefasst. Das Gedächtnis ist bloß ein Hilfsmittel. Wir lernen die Geschichte kennen, um die Ereignisse zu begreifen, denen wir beiwohnen, damit wir ihnen unsere Haltung und unser Handeln logisch anpassen können.
Die Art, wie Herr Apel unterrichtet, macht es möglich, die Barriere beiseitezuräumen, die für viele zwischen der Geschichte der Vergangenheit und derjenigen, die sich vor unseren Augen ereignet, befindet. So vermittelt er seinen Schülern nützliche Kenntnisse, was dem Herrn Kammerdiener wohl kaum in den Sinn käme. Unversehens sahen sich die Deutschen in die Republik versetzt. Statt an die Leine genommen zu werden, erhielten sie nun Wahlzettel. Dass sie nicht mehr an der Leine sind, bedauern viele, und viele wissen nicht, was sie mit einem Wahlzettel anfangen sollen.
Sie sollten Lektionen in Politik erhalten.
Die meisten falschen Vorstellungen, die gerade im Umlauf sind, sind aus absurden Verallgemeinerungen entstanden, die in einer ungezügelten Eingebildetheit ihren Ursprung haben. (Alle spotten über den Engländer mit seinen rothaarigen Frauen und alle kopieren ihn.) Die frechsten Verallgemeinerungen gehen aus dem Glauben an den Fortschritt und die Gottähnlichkeit des Menschen in der Natur hervor. Goethe ruft aus: Zurückhaltung in der Beobachtung des Wirklichen! Aber darin liegt genau die Schwierigkeit.
Sich dem Untersuchungsobjekt unterzuordnen, zu versuchen, es nicht zu zergrübeln – das ist gerade das, wozu Wesen unfähig sind, denen die Rhetoriklehrer beigebracht haben, noch die letzte Geringfügigkeit in ihre Ausführungen einzubauen.
Um den ins Leere gehenden Spekulationen den Weg zu verlegen, bemühe ich mich darum, hier nur bescheidene, wahre Fakten aufzuzeichnen. Hin und wieder ergibt sich eine Folgerung von selbst, und ich will in meinem Bericht nicht voreingenommen sein und eine naheliegende Schlussfolgerung bloß aus Feigheit aussparen. Ansonsten bloß bescheidene, wahre Fakten. Ihren Wert haben sie in sich selbst. Für den, der sich ein umfassendes Bild von Deutschland machen will, sind sie wertlos. Um den Verallgemeinerern den Wind aus den Segeln zu nehmen, betone ich: Ich befinde mich in Philisterburg und bewege mich nicht vom Fleck. Hier ist nicht Deutschland, sondern Preußen und selbstverständlich nicht das ganze Preußen. Inwiefern diese Industriestadt von 300 000 Einwohnern repräsentativ ist, mögen die Journalisten entscheiden.
Hiermit gebe ich mir den Auftrag, alle Fakten, die ich als einzelne und besondere festhalte, zu überdenken.
Manchmal werde ich eine Meinung haben. Ich werde sie aussprechen. Aber wie alle Meinungen wird sie unzureichend begründet sein. Auch will ich niemanden von ihr überzeugen. Sie steht da, um sich Luft zu schaffen und um die kostbare Maschine, mit der wir ins Blaue räsonieren, nicht einrosten zu lassen.
So einfältig bin ich nicht, dass ich an die Objektivität glaubte. Ich habe meine Vorurteile. Sie ergeben sich aus meiner Ablehnung bestimmter Dinge. Gegen die Pest des Nationalismus bin ich geimpft. Wenn ich überhaupt voreingenommen bin, dann für Deutschland. Das übliche Gerede vom germanischen oder vom romanischen Charakter, von der deutsch-französischen Verständigung finde ich lächerlich. Sie sind bloß ein Grund dafür, sich weiterzuentwickeln. Weil ich das Deutschland liebe, das ich kenne – das einiger Bücher -, wünsche ich, dass diese berühmte Verständigung kommt, und ebenso wünsche ich, von ganzem Herzen, die Vereinigten Staaten von Europa.
Die Utopie zu veralbern ist leicht, das weiß ich wohl. Die Idealisten nennen diese Haltung »grobianischer Materialismus« oder »Vulgärrationalismus«. Tatsächlich sollte man sich vor dieser Veralberung hüten, sie ist unergiebig.
Ebenso hüte ich mir vor dem Idealismus des Astrologen (er mag in mancher Hinsicht der edelste Mensch überhaupt sein, aber kann uns über irdische Dinge nichts sagen). Zwischen diesen beiden Haltungen hindurch steuere ich auf die Fakten zu, die ich respektiere; ich habe mich zum Sehen entschlossen. Meine Vorurteile kenne ich ja, ich will sie, so gut es geht, außen vor lassen.
Dezember
Die älteren Schüler, die mir zugeteilt worden sind, waren am Anfang noch neugierig und argwöhnisch. Beim ersten Mal kamen sehr viele. Binnen vierzehn Tagen hat sich ihre Zahl halbiert. Und nun sind es gerade noch vier oder fünf und unsere Unterhaltungen werden recht intim.
Was verblüfft, ist ihre Selbstsicherheit. Mit 17 scheinen sie sich schon in allen Fragen festgelegt zu haben. Sie wissen ganz genau, was sie lieben und was sie verachten, und sie halten damit nicht hinter dem Berg.
»Was halten Sie von Heine?«, habe ich sie gefragt.
»Heine ist kein Deutscher.«
»Warum?«
»Er ist Jude.«
»Und außerdem?«
»Sein Talent hat nichts Deutsches. Er gehört nicht zu den Unseren.«
So kategorisch zeigen sie sich in allem. Sie beurteilen ihre Lehrer nach deren politischen Meinungen. Beim Wort »Pazifist« verziehen sie vor tiefem Ekel ihr Gesicht. Ich befragte sie nach einem ihrer Lehrer, der mir gegenüber in zwar linkischen, aber aufrichtigen Worten viel Sympathie für Frankreich bekundet hat.
»Dieser Herr taugt nicht viel. Er ist Sozialdemokrat.«
Ich berichtete ihm diesen Ausspruch und zeigte mich über den Chauvinismus der Schüler erstaunt. Er gab mir die Antwort, die ich erwartet hatte:
»Das ist das Alter, das geht vorbei. Wir waren alle mal in dem Alter. «
„’Philisterburg’ – so heißt das Buch – ist ein literarisches Kleinod, kurzweilig, ja mitreißend.“ (Franziska Augstein, SZ) „Philisterburg“ ist als Beispiel Magdeburg.
125 Seiten
Rezension von Annett Gröschner im „Freitag“
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