Anthony McCarten: funny girl
Ein Huhn bleibt auf der Straßenseite, auf der es ist!
Das ist ein türkisches Sprichwort. Anthony McCarten sieht, dass das Huhn auf seiner Seite nicht glücklich ist, weil es nicht seine Seite ist, sondern der Platz, der ihm von den Mächtigen zugewiesen ist. Die Macht haben hinten in der Türkei die Väter und die Brüder, beide Männer, und, wenn sie die ihnen zugedachte Seite des Lebens als die ihre in Kauf nehmen, auch die Mütter. Nicht als Individuen üben sie diese Macht aus, sondern als Bestandteil der Traditionen und Normen. Das schafft Zwänge, aber auch Nähe, man kann sich auf die Familie verlassen,auf die Dorfgemeinschaft.
Azime ist ein britisches Mädchen 20 Jahre alt und noch nicht verheiratet. Sie lebt in Green Lanes: „Zwanzig Prozent der Gewaltverbrechen von London, achtzig Prozent des Heroinhandels im ganzen Land. Und ich spreche jetzt nur über die Geschäfte von meinem Onkel Abdullah.“
Ihre Familie ist aus Kurdistan nach England geflohen, weil die Nöte zu Hause zu groß wurden. Die Familie weigert sich aber, im Westen anzukommen – und hat dafür gute Gründe. Den Mädchen, in der neuen “Heimat” geboren, bleibt nicht viel Wahl: Azimes Freundin Banu willigt in ihre arrangierte Heirat ein, wird von ihrem Mann als Besitz betrachtet, muss aber bei ihm bleiben wollen, auch wenn er sie schlägt. Glück ist keine Option. Eine andere Freundin freundet sich gegen den willen ihres Vaters mit einem nichttürkischen Jungen an und verstößt damit gegen den “Ehren”-kodex. Sie sieht keinen Ausweg und rettet die “Ehre” der Familie, indem sie sich vom Balkon stürzt. Azime versucht der Tragödie auf die Spur zu kommen. Azimes kleine Schwester Döndü akzeptiert als Neunjährige, die Hidschab zu tragen. Das sind die Beispiele, die McCarten aus der Welt der zwichen die Kulturen geworfenen nimmt. Azime sucht nach eigenen Möglichkeiten, sie ist stark, eine Einzelkämpferin, McCarten erzählt von ihrem Vorbild.
Für Mädchen ist der Ausbruch zum einen unmöglich, zum anderen aber zwingender, weil die weniger zu verlieren und mehr zu gewinnen haben. Ihre “Freiheit”. Ob damit das Glück kommt, bleibt unsicher. Aber so ist das in England, im Westen. Mit einem Bekannten besucht Azime einen Comedy-Kurs, heimlich, ihre Familie darf nichts erfahren. Lachen ist im Islam unerwünscht.
Und wie stand es mit dem Propheten selbst (möge Allah ihn segnen und ihm Frieden schenken)? Was hatte der zu sagen? Sie fand nur einen einzigen Satz: Wenn ihr wüsstet, was ich weiß, dann würdet ihr wenig lachen und viel weinen.
Hier setzt McCarten seinen Plot: Azime geht in der Burka auf die Bühne – als “weltweit erste muslimische Komikerin”. Schon das allein schlägt ein und lässt sich erählerisch entwickeln. Während ihrer Auftrittserie geschieht das Londoner U-Bahn-Attentat. Azime erhält Morddrohungen. McCarten erzählt weniger komisch als besinnlich. Er hat eine Botschaft, er ist kein Humorist, sondern Prediger – und gleicht damit seiner Azime. Auch sie ist eigentlich Predigerin für die gute Sache, ihre “Witze” sind meist gar nicht so überzeugend. McCarten zitiert ihre Auftritte ausführlich.
AZIME: Ich heiße Azime. Na ja, eigentlich nicht. Den Namen habe ich geändert, damit meine Eltern nicht so viele neue Fensterscheiben bezahlen müssen. Ich komme aus Green Lanes, London. Genau genommen ist es da nicht besonders grün, aber es stimmt, ich komme von da. Meine Eltern stammen aus dem kurdischen Teil der Türkei, aber ich bin hier aufgewachsen und zur Schule gegangen. Ich habe mein ganzes Leben hier verbracht, und jetzt arbeite ich hier und bezahle meine Steuern, mit anderen Worten, ich bin Ausländerin.
Und ich bin Komikerin. Schön, dass Sie nicht lachen. Ich bin Ihnen wirklich dankbar dafür. Typisch, dass ich mir den einen Job ausgesucht habe, in dem es nicht hilfreich ist, wenn einen die Leute ernst nehmen.
Sie haben wahrscheinlich schon gemerkt, dass ich als Komikerin gerade erst anfange, und wenn’s nicht klappt, muss ich wenigstens meinen Eltern nicht erzählen, was ich mache. Wie ich schon gesagt habe: Die haben keine Ahnung, dass ich das hier mache. Meine Devise ist: Wenn dir etwas nicht auf Anhieb gelingt, dann verwische alle Spuren, dass du’s je versucht hast.
(Das Publikum hätte mittlerweile wenigstens einmal lachen sollen, aber sie sind wie vom Donner gerührt. Vielleicht liegt es daran, dass sie eine Burka trägt.)
(Dieser Teil ihrer Nummer war gutgegangen, hatte durchgängig für Gelächter gesorgt. Doch plötzlich war ihr Gedächtnis wie leer gefegt. Azime starrte ins Publikum und versuchte sich zu erinnern, was sie als Nächstes hatte sagen wollen.)
»Also, Burkas, äh…« (Zum Glück kam die Erinnerung zurück.)
Oh, damit ihr’s wisst. Ich habe mir gründlich überlegt, was da wohl für eine Logik dahintersteckt, wenn man die Frauen so unter Verschluss hält. Nonnen eingeschlossen. Kultur, Tradition, gut und schön – die sind immer schützenswert -, religiöse Überzeugungen, auch gut, und ich finde auch, dass jede Frau das Recht hat, selbst zu entscheiden, wie sie auftreten will – aber kann es wirklich sein, dass der Wert einer Frau nur von Ehemann und Familie begriffen und geschützt werden kann?
(In diesem Moment hätte man eine Stecknadel fallen hören können, und Azime entfernte den dünnen Seidenschleier, der den größten Teil ihres Gesicht bedeckte. Jetzt konnte jeder ihre großen runden Augen, das ovale Gesicht, die makellose dunkle Haut sehen. Sie lächelte.)
Hi.
(Das Publikum jubelte, und aus dem Flirt zwischen Publikum und Azime wurde eine regelrechte Liebesgeschichte. Fasziniert von ihrer Burka, angerührt von ihrer zarten Stimme, ihrem nervösen Auflreten, ihren überraschenden Pointen, ihrem offensichtlichen Mut, ihrer Neuartigkeit, beschloss das Publikum an diesem Punkt einhellig, Azime an diesem Abend zu einem durchschlagenden Erfolg zu verhelfen.)
Und hier meine Meinung zum Thema Burkaverbot. »Verbietet die Burka! Verbietet die Burka!« Also, ich würde ein Verbot ja akzeptieren… – wirklich -, und ich sehe auch, dass es gute Argumente dafür gibt. Als sie in Frankreich die Burka verboten haben, nahmen die Ladendiebstähle um achtundneunzig Prozent ab.
Es wird einem warm ums Herz, wenn McCarten von den Glücksmomenten der Hühner erzählt. Er hat viel Erfahrung damit, seine Geschichten um seine Botschaft aufzubauen. Und dann sitzt auch noch Emin im Publikum.
Das Schaf, das sich von der Herde entfernt, frisst der Wolf, heißt es im kurdischen Sprichwort. Auf das “funny girl” wartet em Ende der – selbst gewählte – Mann. Wie im Märchen.
2013 375 Seiten
Leseprobe beim Diogenes-Verlag
Reales “Vorbild” der Azime ist Shazia Mirza. Anthony McCarten widmet den Roman Zainab Shafia, Opfer eines vierfachen „Ehrenmords“ 2009 in Kanada.
Auch Zülfü Livaneli hat ein Herz für die Nöte der Unterdrückten. In “Glückseligkeit” erzählt er das “Märchen” des Mädchens Meryem, das von Cemal aus Gründen der “Ehre” umgebracht werden sollte, weil sie von ihrem Onkel vergewaltigt wurde. Cemal und Meryem suchen ihr Glück im Westen der Türkei, die zwischen versuchter Modernisierung und kultureller Traditionalität zerrissen ist. (2002)
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