Christoph Poschenrieder: Das Sandkorn
Christoph Poschenrieder verflicht die Motive mutig und routiniert. Gediegen im Stil, im Ausdruck behutsam der Zeit angepasst und aus wechselnder Perspektive erzählt er vom lebendigen und doch anstrengenden Süditalien und seinen Stauferburgen, von den Anstrengungen der Homosexualität, vom kaiserzeitlichen Berlin. Der Roman ist in die Jahre 1914/15 gesetzt, doch der Krieg spielt nur eine Rahmenrolle, auch wenn er die Arbeiten beeinflusst.
In der Abendausgabe hat die Gazzetta del Mezzogiorno aus Bari von der Generalmobilmachung der russischen Armee berichtet: Der Zar will seinen slawischen Brüdern ernsthaft beistehen. Oder doch nur Österreich-Ungarn Angst einjagen? Es wird viele Tage dauern, bis die Armee des riesigen Landes einsatzfähig ist, denkt Tolmeyn, bis dahin werden sie sich doch in Gottes Namen geeinigt haben. Bitte: wegen eines ermordeten Thronfolgers und eines unbedeutenden Kleinstaates auf dem Balkan. Die Habsburger werden in ihrer verzweigten Familie einen brauchbaren Thronersatz auftreiben, und die serbische Regierung, der bislang keine Mittäterschaft am Attentat nachgewiesen werden konnte – davon war in den italienischen Blättern jedenfalls nichts zu lesen -, wird die Attentäter vor Gericht stellen und verurteilen. Die Reservisten gehen wieder nach Hause, die Generalstäbler falten die Karten zusammen. Und ich kann hier in Ruhe weiterforschen, an Friedrichs steinernen Hinterlassenschaften, an meinem Reisegefährten. Und an dem verdammten Sand.
Jacob Tolmeyn ist als Kunsthistoriker und Archäologe unterwegs in Süditalien, um die Bauwerke des Staufers Federico Secondo zu kartieren, fotographieren (Man darf sich das nicht so einfach vorstellen.) und in inventarisieren. Diese Aufgabe mag dröge erscheinen, für Tolmeyn ist sie aber sein Leben, auch weil er deswegen unabkömmlich für den Krieg ist. Der deutsche Kaiser Wilhelm II. protegiert den Forschungsauftrag, denn sie erhebt ihn in die Reihe deutscher Potentaten. Der Krieg ist fern in Apulien, aber man spürt sein Rumoren.
Hier oben stand im April 1914 Kaiser Wilhelm II. und ließ die Erinnerungen der glanzvollen Stauferzeit an sich vorüberziehen.
Danke Wilhelm, denkt Tolmeyn beim Demontieren der Kamera, an deine glanzvolle Regierungszeit wird sich keiner gerne erinnern, wenn der Krieg erst vorbei ist. Dein Denkmal wird die Pickelhaube. (…)
Höhepunkt der Forschungsreise, so eine Art Synthese, für die er sich immer wieder in die Person und Lage Friedrichs versetzen möchte, auf der Spur seiner Reisen während dreißig Jahren durch Apulien: als Herrscher im Märchenpalast von Foggia, als (trauernder?) Witwer in Andria, Sarazenenfürst von Lucera, als Falkner und Jäger in Castel del Monte, als Kreuzritter vor der Einschiffung in Brindisi (noch zu besuchen), als Sterbender in Castel Fiorentino. So, denkt er, muss man die Geschichte erzählen, um nicht nur Kaiser Wilhelm, sondern ein großes Publikum zu erreichen. Geschichten. Und den Rest in die Fußnoten.
Die Mühen des Forschens nehmen so schnell kein Ende, aber Poschenrieder lädt sie mit persönlichen Komplikationen auf. Tolmyn sammelt in Süditalien Sande, er hofft, sie könnten Aufschlüsse über die Geschichte der Bauten Friedrichs II, des stupor mundi, erlauben. 2015, wieder in Berlin, verstreut er seine „Sandkörner“ in den Berliner Asphalt. Das macht ihn 1915 verdächtig. Kommissar Treptow soll ermitteln. Er wird zum interessierten und toleranten Adressaten Tolmeyns.
„Das Sandkorn“ ist eine Liebesgeschichte. Eine Geschichte über verhinderte Liebe. Tolmeyn ist ein „Freundling“, er ist homosexuell. Das Wort fällt erst in der Mitte des Romans. Die Zuneigung zu seinem Mitarbeiter in Apulien, dem Schweizer Beat Imboden, trägt durch den ganzen Roman, sie bleibt aber in den Gedanken. Poschenrieder häuft Anspielungen, man denkt bald bei jedem „hinteren Eingang“ an Anzügliches. Ja, selbst die Bauwerke werden als architektonische Analogien strapaziert. Das achteckige Castel del Monte findet seine Pendants in den „Klappen“ der Berliner Bedürfnisanstalten. Das „Café Achteck“ als Treffpunkt der vom §175 bedrohten Schwulen. Das inwendige Liebes-Schmachten könnte zum Kitsch werden, man respektiert das Herzweh wegen Poschenrieders Anliegen (!) , nimmt es in Kauf.
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Angereichert hat Poschenrieder den Roman durch die junge und emanzipative italienische Forschungsbegleiterin Letizia. Auch die Eifersucht bleibt im Kopf.
Sie setzt sich auf die groben Stufen, mit dem Rücken an das halb geöffnete Tor.
»Charmant ist es, Damen nicht so anzureden, dass sie erstarren, meine ich.«
»Sofern die Dame es erlaubt, ist es geradezu ein Gebot«, sagt sie.
So? Wenn du es hören willst, deine Sprache hat ja reichlich einschlägige Ausdrücke:Ich bin ein frocio, ein feminiolo, ein orecchione, ein invertito, ein checca, ein finocchio oder, unter uns Gebildeten, ein omosessuale – reicht das für vier Sekunden Starre?
Zwei weitere Stunden vergehen. Er sitzt über seinen Planskizzen und zeichnet Symmetrieachsen ein, mit wechselnder Konzentration. Von Achteckturm zu Achteckturm, durch das Zentrum. Das Schloss nimmt die Gestalt einer Blume an, einer mathematischen Blume.
Und dann, zwischendrin, stellt er sich Beat und Letizia vor, in Andria. Albergo Vittorio, laut Baedeker: ganz gut. Für? Den hinteren Eingang beobachtet jedenfalls niemand.
Er zeichnet ein rechtwinkliges Dreieck und daraus ein Quadrat. Satz des Pythagoras, wie einfach, sagt er, als wollte er es einem unsichtbaren Zuhörer erklären, das haben die alten Baumeister mit einer Schnur gemacht, in die, in regelmäßigen Abständen, Knoten eingeknüpft sind.
Vom Tisch aus hat er die Landstraße nach Andria im Blick. Beat betritt das Albergo natürlich vom Domplatz her; der Wirt kennt ihn vom vergangenen Jahr.
Er zeichnet weiter: ins Quadrat die beiden Diagonalen, die Quadratdurchmesser, zirkelt einen Kreis genau hinein. Und in diesen Kreis einen Achtstern, wie einen Drudenfuß, ohne den Bleistift abzusetzen.
Ein graues Tuch über Haar und Schultern, und selbst eine Contessa di Belgioioso geht, ohne aufzufallen, durch die Gasse, um rasch in eine Hintertüre zu schlüpfen.
Er starrt auf den Achtstern. Man sieht es nicht sofort, aber in den Linien, die da wie ein ordentliches Mikado übereinanderliegen, sind zwei sich kreuzende Quadrate enthalten.
„Das Sandkorn basiert auf historischen Ereignissen und Personen. Es gab zwei Kunsthistoriker, Arthur Haseloff und Martin Wackernagel, die zwischen 1904 und 1908 die unteritalienischen Provinzen Kampanien, Kalabrien und Sizilien, vor allem aber Apulien und die Basilikata durchstreiften. Ihr Auftrag: eine möglichst lückenlose Bestandsaufnahme der Bauten aus der Zeit Friedrichs II. (1194-1250). Die in den Roman eingestreute “Eulenburg-Harden-Affäre”, eine Denunzierung wegen angeblicher Homosexualität, war einer größten Skandale des deutschen Kaiserreiches. Dokumentiert sind die Hintergründe auf der sehr informativen und sehr schön gemachten
Homepage Christoph Poschenrieders.
2014 400 Seiten
Gespräch mit Christoph Poschenrieder in den „Lesezeichen“ des BR
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