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Ulrich Raulff:
Wiedersehen mit den Siebzigern
Die wilden Jahre des Lesens
2014
Von einem Direktor des Deutschen Literaturarchivs Marbach hätte man solch vergnügliche Lektüre nicht erwartet. Ulrich Raulff kann nicht anders, als seine Biografie mit seiner Lektüre zu verbinden, denn eins bedingt das andere. Sogar im Kapitel „Le sexe“ grundiert er die erotische Komponente mit Roland Barthes und diskutiert die Übersetzungsprobleme der Begriffe Erotik und Sex und belegt damit grundlegende Unterschiede der Lektüren in Deutschland und Frankreich. Aus der deutschen Ideologie treibt es ihn hinaus in die Luftigkeit des französischen Strukturalismus und – mit den Erfahrungen – wieder zurück nach Deutschland ins Archiv. Lesesäle sind für Raulff Tempel fast erotomanischer Bibliophilie, die fanzösischen Strukturalisten sieht er als seine Überväter. Er beschreibt seine Manien aber mit Charme, Leichtigkeit und oft auch mit der ironischen Distanz, die solche Belesenheit erträglich macht. Raulff kennt alle, verehrt viele, beschreibt ehrfürchtig ihre Spleens. Er darf das, denn er ist ja selbst „einer der einflussreichsten Intellektuellen Deutschlands” geworden (Klappentext).
Man erfährt wenig über die Themen wie Strukturalismus oder Ikonographie, kann sich aber ein anekdotisches Bild über das Leben und Lesen eines Intellektuellen machen, der aus einer theorieverliebten Zeit ins 21. Jahrhundert hereinragt.
Die geläufige Kritik der frühen Jahre verlief nach einem einfachen Schema. Zunächst demonstrierte man anhand einiger isolierter, ebenso flamboyanter wie erratischer Zitate aus Lacan, Foucault oder Derrida den Nonsens solcher Sätze, dann diagnostizierte man die generelle Unverständlichkeit ihrer Texte. Noch heute spüre ich die Befreiung, die ich empfand, als Wolfgang Hildesheimer mit gespielter Naivität Lothar Baier fragte: warum er eigentlich über Artaud schreibe, wenn ihm am Ende nichts Besseres einfiele, als sich auf seinen gesunden Menschenverstand zu berufen? Wozu es solcher »Bekundungen verstockter Irritation vor dem Unerfahrenen« bedürfe und warum er sich lieber dessen Unerfahrbarkeit rühme, als sich um Einsicht zu bemühen?
Ich genoss die Provokation, die von der strukturalistischen Marx-Lektüre und der foucaultschen Subversion der Aufklärung ausging. Wen hätten die Kriegstänze eines Gralshüters der Kritischen Theorie wie Alfred Schmidt nicht begeistert? Keine Stunde verging im Frankfurter Seminar, in der nicht der massige Mann die Pfeile seines Zorns über Rhein und Main nach Westen schleuderte. Ungeschichtliches Denken lautete ein häufiger Befund, Geschichtsverlust im Spätkapitalismus die kritische Diagnose. Beides konnte nicht oft genug wiederholt werden. Immer ging es um den Begriff der Geschichte, weniger um den der Struktur.
So sehr das Ritual mich begeisterte, so wenig verstand ich den Vorwurf selbst: Hatte ich nicht soeben durch Foucault einen neuen, furiosen Stil historischer Arbeit, der Lektüre vergessener Autoren und übersehener Quellen kennengelernt? Diejenigen, denen ihre deutschen Kritiker ahistorisches Denken vorwarfen, waren es, die der Historie neue Lichter aufsteckten und Entdeckungen in einem Raum machten, in dem niemand das geistige Abenteuer vermutet hatte: dem Raum des Archivs. Außerdem hatte der Strukturalismus, wie Roland Barthes schon früh bemerkt hatte, der Welt nicht die Geschichte entzogen. Er hatte sie nur nicht mehr an Inhalte gebunden, sondern bevorzugt an Formen, »nicht nur an das Ideologische, sondern auch an das Ästhetische.«
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Noam Chomsky: Die Herren der Welt
Der Band versammelt Essays und Reden von 1970 – 2013. „Intellektuelle, Sozialstaat und Krieg“ (1970) – „Die göttliche Lizenz zum Töten“ (1987) – „Wird die menschliche Kultur den real existierenden Kapitalismus überleben?“ (2013) Die Themen Chomskys bleiben ähnlich: die USA und ihre demokratische Verfasstheit, ihr Agieren in der Weltpolitik, zuletzt ergänzt durch die Sorge um die Umwelt und die Ignoranz der amerikanischen Öffentlichkeit. Chomsky bleibt radikal in Analyse und Kritik – und ungehört. Die Demokratie in den USA sei zur Plutokratie entartet, in der Welt spielten sich die USA als „Herren“ auf, die sich nicht einmal an eigene Regeln hielten. Das Völkerrecht würde nur soweit beachtet, wie es eigenen ökomischen und politischen Interessen dient, Verträge, die die USA zur Einhaltung von – z.B. – Menschenrechten verpflichteten, würden nicht ratifiziert.
Nichts Neues, aber interessant, wenn man diese „alten“ Erkenntnisse auf die aktuelle Politik der USA überträgt und damit etwa die „Konflikte“ im Nahen Osten oder der in Ukraine bewertet. Es bleibt erstaunlich, wie energisch sich Chomsky angesichts der Randständigkeit seiner Position(en) und seiner Erfolglosigkeit weiter einmischt.
Obamas Auftritt bei der (internationalen Klima-Konferenz 2009) war natürlich sehr wichtig aufgrund der Macht und der Rolle der USA bei jedem internationalen Treffen. Und er hat sie im Grunde zerstört. Keine Emissionsbeschränkungen; weg mit dem Kyōto-Protokoll. Seit zwei Jahren haben die USA nicht daran teilgenommen. In der Zeit haben sich die Emissionen in den USA stark erhöht, und man tut nichts, um sie einzuschränken. Ein paar kosmetische Maßnahmen hier und da, aber im Grunde nichts. Schuld daran ist natürlich nicht nur Obama, sondern unsere ganze Gesellschaft und Kultur. Die Struktur unserer Institutionen macht es sehr schwierig, irgendetwas zu erreichen.
Noam Chomsky Überblick auf wwikipedia mit weiterführenden links
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Tilman Seidensticker: Islamismus
Tilman Seidensticker gibt einen nicht wertenden Überblick über Geschichte, Vordenker und Organsiationen des Islamismus. Das kleine Buch ist 2014 erschienen, behandelt Al-Qaida und den Jihadismus, Muslimbrüder und Salafismus, geht aber – natürlich – auf die Aktionen des IS” nur ganz am Rande ein. Dennoch zeigt Seidensticker, dass solche Organsiationen nicht aus dem Nichts auftauchen und es sich lohnt, besser: nötig ist, sich mit der Geschichte zu befassen. Die Definition des Autors: “Beim Islamismus handelt es sich um Bestrebungen zur Umgestaltung von Gesellschaft, Kultur, Staat oder Politik anhand von Werten und Normen, die als islamisch angesehen werden. Der Begriff «Bestrebungen» wurde gewählt, weil unter ihn verschiedenste Aktivitäten gefasst werden können, angefangen bei missionarischer oder erzieherischer Tätigkeit über das Engagement in politischen Parteien bis hin zu revolutionären Plänen.” Wichtig ist, dass, seit es den “Islam” gibt, auch versucht wurde, die religiösen Ideen in islamisch fundierte Gesellschaften und – zu deren Schutz – auch Staaten umzusetzen. Dabei ist der Islam mehr als Koran- und Glaubensbekenntnis, sondern Wertesystem und Sozialnorm für das Zusammenleben. (Das war beim Christentum wenig anders, doch wurde es seit der Aufklärung säkular moderiert.)
Auffällig ist, wie stark sich der Islamismus auf Geschichte und Traditionen beruft, die bis auf den Propheten zurückgehen und die von vielen heutigen Aktivisten nicht modifiziert oder gar in Frage gestellt werden. Auffällig auch die herausragende Rolle (universitärer) Rechtsschulen und die zentrale Ablehnung als dekadent markierter “westlicher Werte” wie Materialismus, Individualismus, sexuelle Freizügigkeit. “Dass der Islam für alle Lebensverhältnisse zuständig ist und für alle Probleme Lösungen bereithält, ist eine islamistische Kernthese. Deshalb kann die islamistische Propaganda in vielen Ländern mit islamischer Bevölkerungsmehrheit erfolgreich Lösungen für die zahllosen Alltagsprobleme versprechen.”
Als einer der wichtigsten islamistischen Denker des 20. Jahrhunderts gilt Sayyid Qutb. Seine Ausführungen „bringen seine tiefe Überzeugung zum Ausdruck, dass nur die Erringung der weltweiten Herrschaft durch den wahren Islam die Menschheit von der Versklavung des Menschen durch den Menschen erlösen kann. Qutb legt in seinen zahlreichen Publikationen die Grundzüge und die Vorzüge des idealen Staates detailliert dar. Im Zentrum von Qutbs Ausführungen steht die soziale Gerechtigkeit. Der Einfluss von Sayyid Qutb hält bis heute an und ist kaum zu überschätzen; bei radikalen Gruppen ist die Zustimmung zu seinen Grundgedanken ungebrochen.”
P.S. Peter Sloterdijk, spirituell selbst-erfahren, schreibt über Qutb: „Nach wenigen Kapiteln ist der Leser benommen, ja fast betäubt von dem autohypnotischen Qualm einer Persönlichkeit, die ihre Phantasmen hinschreibt, als wären sie Zeichen spiritueller Berufung, während sie kaum mehr als neurotische Symptome sind. Noch in der Übersetzung kommt das puritanische Vibrato des Self-Made-Theologen beklemmend zur Wirkung.“
Zum Thema Konflikt zwischen westlichen und „östlichen“ Gesellschaftsentwürfen und ihre Rolle in Geschichte und aktueller Weltpolitik auch : Pankaj Mishra: Aus den Ruinen des Empire
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August 1914 – „Mit dieser Welt muss
aufgeräumt werden“
Autoren blicken auf die Städte Europas
Das Netzwerk der Literaturhäuser „hat 23 Autoren aus ganz Europa beauftragt, Städtebilder Benjamin‘scher Prägung zu entwerfen. Sie fragen danach, was die Menschen 1914, vor und mit Beginn des Ersten Weltkrieges, bewegt hat, was sie notierten und welche Schlagzeilen die lokale Presse bestimmten. Auch forschen sie den Debatten nach, die in den Salons, Hinterzimmer oder auch auf offener Straße geführt wurden, und weben so an einem kleinmaschigen Netz zeitgeschichtlicher Ereignisse.“ Mitgeschrieben haben u.a. Marcel Beyer (Köln), Katrin Seddig (Hamburg), Steffen Kopetzky (Berlin), Lukas Hammerstein (München), Angela Krauß (Leipzig), Karl-Markus Gauß (Salzburg), Melinda Nadj Abonji (Zürich), A. L. Kennedy (Glasgow).
Nicht alle Texte sind gleich informativ und interessant, manches, wie etwa A.L.Kennedys Glasgow-Porträt, zeigt die Ereignisse des August 14 nur als Einschub, manches bleibt – für mein Interesse – zu sehr im „Hinterzimmer“. Auf ihrem Weg in die Peripherien Europas nehmen die Wallungen zwar ab, doch reichen die Auswirkungen weit. Aufgrund der Rationierungen schon vor dem Krieg steigen die Lebensmittelpreise, Waren werden knapp, Söhne werden aus den Familien gerissen, Pferde werden rekrutiert, man sucht nach Verbündeten und Feinden. Vielfach laufen die nationalistischen Exzesse heiß: Ein „Französisches Café“ muss umbenannt werden, Menschen mit ausländisch klingenden Namen werden als Spione verdächtigt, man taumelt mit vaterländischen Gesängen druch die Städte. Skurril, wie diese Namenshetze in Salzburg misslingt, weil Österreich-Ungarn zu viele Menschen mit slawischen Namen beherbergt; ein Problem der Schweiz, dass man einen deutsch und einen französisch sprechenden Landesteil hat; in der Steiermark sind ein Viertel der Einwohner Slowenen, das „Bosniakische Regiment“ gilt als besonders kampfstark und staaatstreu.
Interessant auch, wie die Zeitungen in den verschiedenen Städten und Ländern ihre Informationen gestalten: mit viel Bedacht auf die „alltäglichen“ Sorgen der Menschen in Dijon, mit professoralem Eifer in Deutschland. Die Berichte von den „Rücklieferungen“ der Verwundeten werden immer länger und wandern gleichzeitig weiter nach hinten. Eine interessante Ergänzung zur Geschichtsschreibung.
Band 254 der Zeitschrift „die horen“ – 2014 – 395 Seiten
Lukas Hammerstein: „Seit Tagen rasen die Götter“
»Wieder ist Frühling. In der Waldlichtung aus den Gräbern der Soldaten sprießt Gras. Die Grabdecke ist dünn, zu dünn, von einem toten Soldaten hat der Regen die Erde weggespült, die seine Beine bedeckte, in schauriger Blöße wachsen zwei derbe rindslederne Stiefel aus dem Boden. In den Stiefeln verwesen Beine, die marschiert sind über die Felder Russlands und Frankreichs, sie haben Stechschritt gelernt […] Millionen Beine verwesen in der Erde Europas, die Stiefel hat man ihnen mitgegeben ins dürftige Grabgewölbe, wie toten Königen das Zepter.« Das Bild aus dem schon Jahre wütenden Krieg stammt von Ernst Toller. Aus Begeisterung wurde bei vielen Entsetzen, und doch scheint mancher einen Ernst empfunden zu haben, wie ihn heute allenfalls ein Kämpfer des Dschihad für sich in Anspruch nimmt. Die wenigsten werden gläubig oder verrückt genug gewesen sein, den Krieg zu lieben, doch mancher hatte noch weit mehr Irrsinn in sich. »München im August 1914« liegt mehr als ein Jahrhundert zurück, zumal zwischen damals und heute noch einmal »tausend Jahre« liegen. Schon deshalb nehmen wir an, dass am 2. August 1914 auch Hitler vor die Feldherrnhalle kam. Ob er der Mann auf dem Foto ist? Ich glaube es nicht, aber natürlich ist er da.
Marcel Beyer: „Mit dieser Zeit muss aufgeräumt werden.“
Eine lange Galerie von steif für den Fotografen posierenden Leberkranken, Schwermütigen, Weltängstlichen, an Hirnerweichung oder einer Teillähmung des Gesichts Leidenden, die aussehen, als hätten ihre Eltern sie unter Qualen gezeugt, oder mit dem Aussehen von im Blutwurstkessel rührenden Metzgersöhnen, die lieber mit Puppen spielen würden, von Bauernkindern, die, kaum dass sie laufen konnten, vom Vater dazu gezwungen wurden, ihr Lieblingsferkel mit der eigens zu diesem Zweck in der fernen Stadt erworbenen Nagelfeile abzustechen, und die, einmal erwachsen, nicht in ihren ärgsten Alpträumen daran zweifeln würden, dass es an ihnen sei, die Welt zu lenken.
Wenn man sich beim Betrachten der Porträts hoher Militärs und Adliger, die zwischen 1914 und 1918 in illustrierten Zeitschriften und Wochenendbeilagen erschienen, nur schwer gegen das mulmige Gefühl wehren kann, man blättere in den Patientenakten einer vor Urzeiten überstürzt evakuierten psychiatrischen Anstalt, an deren Namen sich heute kein Mensch mehr erinnert, dann sollte man sich in Erinnerung rufen, dass dieser gespenstische Eindruck zum guten Teil auch deshalb entstehen mag, weil die Gesichter dieser Menschen noch wenige Jahre zuvor, sofern sie vom Volk überhaupt jemals anders denn als winziger Punkt auf einem fernen, in der Beletage angebrachten Balkon oder, als vorüberwischende, flüchtige Erscheinung, im durch die Menge fahrenden offenen Wagen gesehen wurden, in der breiten Öffentlichkeit ausschließlich als gemalte Gesichter existiert haben.
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Tim B. Müller:
Nach dem Ersten Weltkrieg
Lebensversuche moderner Demokratien
2014
Tim B. Müller fragt, was Demokratien im 20. Jahrhundert lebensfähig macht. Aus den Beispielen USA, Großbritannien und Frankreich und deren Umgang mit der Wirtschaftskrise von 1929destilliert er Grundbedingungen, die notwendig, aber nicht immer ausreichend sind. “Politische Teilhabe, wirtschaftlicher Wohlstand und soziale Gerechtigkeit waren die Grundlagen ihrer Stabilität. Der demokratische Wohlfahrtsstaat war die große zivilisatorische Leistung des 20. Jahrhunderts. Unmäßige soziale und ökonomische Ungleichheit war unvereinbar mit der Demokratie. Erst eine gewisse soziale Sicherheit ermöglichte den Optimismus, ohne den Demokratien schwere Zeiten nicht überstehen konnten.” Dazu müssten natürlich “geeignete Regierende” kommen,welche die Ideen und Visionen mutig vertreten und der “Volksgmeinschaft” nahebringen. “Soziale Gerechtigkeit war ein internationaler Schlüsselbegriff nach dem Ersten Weltkrieg.”. Dazu gehören die Sozialversicherungen, genügend hohe Steuern, der “Wohlfahrsstaat”. Positiv nennt Müller den “New Deal” des US-Präsidenten Roosevelt, aber auch den konservativen Premierminister Winston Churchill, der sich sich als “unermüdlicher Vortragsreisender in Sachen Demokratie betätigte”. Den deutschen Reichskanzler Brüning sieht er als negativen Gegenpol, der “nie verstanden” hat, “wie man Mehrheiten in der Bevölkerung gewinnt, wie man mit Überzeugungskraft und demokratischer Führung den Bürgern Optimismus einhaucht”. Das klingt, wie vieles bei Müller, sehr idealistisch, doch “entscheidend war eine ganz andere Glaubensgewissheit Brünings, die sich ihm eindeutig nachweisen lässt: sein Beharren auf Haushaltssanierung und Sparpolitik, also das, was man in der Sprache unserer Zeit »Austerität« nennt. – So jetztzeitig argumentiert Müller selten. Auch bei seiner Terminologie schlägt oft der Plauderton des Essays durch: “Dem demokratischen Staat standen jedoch weitere Machtmittel zur Verfügung. Er konnte tiefer in die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft eindringen (…) Das war der optimistische Horizont der zwanziger Jahre”, den Müller auch in Zitaten aus einer Rede des sozialdemokratischen Reichstagsabgeordnenten GustavBauer aufspürt.
Müller meint aus dem Überleben der Demokratie Optimismus ableiten zu können. Die deutschen Ansätze zu einer Gestaltung der Demokratie in der Weimarer Republik hält er sogar für die fortschrittlichsten, die Gründe für das deutsche Desaster untersucht er nicht näher, er. Jens Bisky (SZ) nennt Bauers “Lebensversuche moderner Demokratien” einen “klugen revisionistischen Essay“. Erhard Eppler erschrickt, weil Müller eine „Parallele zieht zur Krise unserer Zeit“ (SZ) Das dünne Buch (150 Seiten Text) hält nicht ganz, was ich mir vom Titel versprochen habe.
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Daniel Kahneman:
Schnelles Denken, langsames Denken
Ohne überlegen zu müssen, erkennt man, dass die Frau auf dem Bild wütend ist. Die Aufgabe 17 x 24 kann man nur durch Intuition nicht lösen, man muss den Verstand bemühen. Das braucht Zeit und ist unbequemer als das unbedachte Erfassen. („Faulheit ist tief in unserer Natur angelegt.“) Kahneman nennt das System 1: schnelles Denken und System 2: langsames Denken. Beide Systeme arbeiten mit und gegeneinander. Wichtig ist, dass sich bei Verhaltensentscheidungen immer das System 1 einmischt und unsere Bewertungen verfälscht. Man könnte auch sagen: menschlich macht. Die Psychologen nennen diese Einflüsse z.B. Priming oder Framing. Kahneman bschreibt diese Schemen ausführlich und anschaulich; er lässt den Leser an seinen Studien teilnehmen, indem er ihn mit Fragen wie diese konfrontiert:
“Wie glücklich fühlen Sie sich zurzeit?
Wie viele Verabredungen hatten Sie im letzten Monat?
Die Korrelation zwischen den Antworten betrug ungefähr null. Eine andere Studentengruppe sah die gleichen beiden Fragen, aber in umgekehrter Reihenfolge:
Wie viele Verabredungen hatten Sie im letzten Monat? Wie glücklich fühlen Sie sich zurzeit?
Diesmal kamen ganz andere Ergebnisse heraus. In dieser Abfolge war die Korrelation zwischen der Anzahl der Verabredungen und dem angegebenen Glücksgefühl so hoch, wie Korrelationen zwischen psychologischen Messgrößen überhaupt nur sein können.Die Experimentatoren interessierten sich für die Korrelation zwischen den beiden Antworten. Würden die Studenten, die angaben, viele Verabredungen gehabt zu haben, sagen, dass sie sich glücklicher fühlten als diejenigen mit weniger Verabredungen? Überraschenderweise war dies nicht der Fall: Offensichtlich waren Verabredungen nicht das, was den Studenten als Erstes einfiel, wenn sie aufgefordert wurden, ihr Glücksgefühl zu bewerten.” Kahneman nent das Stimmungsheuristik.
Auch die intuitiven Vorhersagen werden überprüft und führen zur “Neuen Erwartungstheorie”:
Ein Fachbereich will einen jungen Professor berufen und den Bewerber auswählen, der die höchste wissenschaftliche Produktivität verspricht. Der Berufungsausschuss hat die Auswahl auf zwei Kandidaten eingegrenzt:
Kim hat vor Kurzem ihre Dissertation abgeschlossen. Ihre Empfehlungen sind spektakulär, sie hielt einen brillanten Vortrag und beeindruckte alle Anwesenden in ihren Vorstellungsgesprächen. Sie hat bislang allerdings nicht besonders viel publiziert.
Jane hatte in den letzten drei Jahren eine Stelle als promovierte Nachwuchswissenschaftlerin inne. Sie war sehr produktiv, und sie hat exzellente Forschungsleistungen aufzuweisen, aber ihr Vortrag und ihre Vorstellungsgespräche waren nicht so bestechend wie die von Kim.”
Die Ergebnisse der Forschungen Kahnemans erscheinen zunächst oft banal und erwartbar. Es scheint klar, dass der erste Eindruck oft trügt und einer Kontrolle durch „System 2“ unterzogen werden muss. Was letztlich doch ünerzeugt, sind die vielen Belege. Kahneman wendet seine Kategorien auch auf so wichtige Dinge wie die „Lebenszufriedenheit“ an und stellt fest, dass auch hier die Intuition oft dominant ist. Es ergeben sich Anwendungen für staatliches Handeln, etwa was die Gesundheitsvorsorge betrifft.
Die intensive Abneigung dagegen, ein erhöhtes Risiko gegen einen anderen Vorteil einzutauschen, manifestiert sich im großen Maßstab in den gesetzlichen Regelungen zur Risikobeschränkung. Dieser Trend ist besonders stark in Europa, wo das Vorsichtsprinzip, das jegliche Handlung verbietet, die andere schädigen könnte, ein allgemein anerkannter Grundsatz ist.Im Kontext der Rechtsordnung verlangt das Vorsichtsprinzip von jedem, der Handlungen unternimmt, die Menschen oder der Umwelt schaden könnten, den zweifelsfreien Nachweis der Unbedenklichkeit. Mehrere internationale Organisationen haben dargelegt, dass der fehlende wissenschaftliche Nachweis möglicher Schadensrisiken keine hinreichende Rechtfertigung für das Eingehen von Risiken ist. Der Jurist Cass Sunstein weist darauf hin, dass das Vorsichtsprinzip kostspielig ist und bei enger Auslegung den Fortschritt lähmen kann. Er erwähnt eine eindrucksvolle Reihe von Innovationen, die den Test nicht bestanden hätten, darunter »Flugzeuge, Klimaanlagen, Antibiotika, Autos, Chlor, der Impfstoff gegen Masern, Operationen am offenen Herzen, Radio, Kältetechnik, der Windpocken-Impfstoff und Röntgenstrahlen«. Die starke Version des Vorsichtsprinzips ist offensichtlich unhaltbar. Aber eine verstärkte Verlustaversion ist in eine starke und weitverbreitete moralische Intuition integriert; sie hat ihren Ursprung in System 1. Das Dilemma zwischen stark verlustaversen moralischen Einstellungen und effizientem Risikomanagement hat keine einfache und zwingende Lösung.
Den größten Teil der Darstellungen verwendet Kahneman auf Risikoabschätzungen im Bereich Wirtschaft:
Problem 1. Was wählen Sie?
900 Dollar sicher erhalten oder eine 60-prozentige Chance, 1000 Dollar zu gewinnen.
Problem 2: Was wählen Sie?
Einen sicheren Verlust von 900 Dollar oder eine 90-prozentige Wahrscheinlichkeit, 1000 Dollar zu verlieren.
Kahneman kommt zum Schluss, dass die “Verlustaversion” die Erwartung eines Gewinns deutlich übertrifft und belegt das mit zahllosen Variationen der Lotteriestudien. Hier bietet es sich durchaus an, Seiten zu überblättern.
Für welche der beiden Optionen bei den Problemen A und B würden Sie sich entscheiden?
A Eine 61-prozentige Chance, 520 000 Dollar zu gewinnen, ODER
eine 63-prozentige Chance, 500 000 Dollar zu gewinnen.
B Eine 98-prozentige Chance, 520 000 Dollar zu gewinnen, ODER
eine 100-prozentige Chance, 500 000 Dollar zu gewinnen.
Auch scheinbar rational handelnde “Econs” sind nicht vor intuitiven Verfälschungen gefeit, auch sie leiden unter “kognitiven Verzerrungen”, handeln wie die “Humans”, die sich mit oft den Ergebnissen von “System 1” zufriedengeben. Für die “Prospect Theory“, im Deutschen auch „Neue Erwartungstheorie“ genannt, , erhielt der Verhaltenspsychologe 2002 den Wirtschaftsnobelpreis. Sie ermöglicht die Beschreibung der Entscheidungsfindung in Situationen der Unsicherheit. Dies sind insbesondere Entscheidungen, bei denen unwägbare Risiken bzw. die Eintrittswahrscheinlichkeiten der künftigen Umweltzustände unbekannt sind (Ambiguität – Zwiespältigkeit). Anwendung findet die prospect theory (urspr. lottery theory) beispielsweise in der ökonomischen Entscheidungstheorie.
Ich habe neue Belege, Systematisierungen und Begriffe für manches, was ich bisher schon ahnte – oder zu ahnen glaubte. Ob diese Vermessungen der Psyche hilfreich sind, wird sich herausstellen. Ich weiß immer noch nicht, ob ich an der Supermarktkasse die Schlange wechseln soll, wenn sie mir zu lang erscheint.
Übrigens: Auch “Wenn man … einen Bleistift quer in den Mund gesteckt hat, sodass man »lachen« muss, erzeugt dies kognitive Leichtigkeit.“
Misstraue dem Vertrauten! – Rezension von Jens Christian Rabe, SZ
«Eine Belohnung von Glück lässt sich nicht wirklich rechtfertigen» – Gespräch mit Daniel Kahneman in der Basler Zeitung
Als wären wir gespalten – SPIEGEL-Gespräch mit Daniel Kahneman
Die Ökonomie entdeckt die Menschlichkeit – Lisa Nienhaus, FAZ
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