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Saša Stanišić: Vor dem Fest
Fürstenwerder gibt’s wirklich. Bei Saša Stanišić heißt es Fürstenfelde, aber die Ähnlichkeiten sind groß. Fürstenwerder hat 800 Einwohner und gehört zur Gemeinde Nordwestuckermark. Das ist jetzt Mecklenburg-Vorpommern und war bis 1990 DDR und das merkt man Fürstenwalde natürlich immer noch an. Die Geschichte schreibt sich ein in die Menschen und ihr Gedächtnis, in die Bauwerke, in das Aussehen der Landschaft. Jeder Ort wird zum Spiegel, zum Brennpunkt.
Saša Stanišić spiegelt den Ort und seine Menschen wie im Kaleidoskop. Da sind viele Bildsplitter, die sich ein wenig anders gruppieren, wenn man das Objektiv dreht. Der Blick ist scharf und sicher und gilt doch nur dem Moment: einem Tag, den Tag vor dem St. Annenfest, wo sich alles noch einmal sammelt. Bis auf die, die weg sind aus der Uckermark und bis auf den Fährmann.
WIR SIND TRAURIG. Wir haben keinen Fährmann mehr. Der Fährmann ist tot. Zwei Seen, kein Fährmann. Zu den Inseln gelangst du jetzt, wenn du ein Boot hast. Oder wenn du ein Boot bist. Oder du schwimmst. Aber schwimm mal, wenn die Eisbrocken in den Wellen klacken wie ein Windspiel mit tausend Stäben.
Um den See kannst du theoretisch zu Fuß, immer am Ufer entlang. Allerdings haben wir den Pfad vernachlässigt. Der Boden ist sumpfig und die Stege morsch und unglücklich, das Gebüsch hat sich ausgebreitet, brusthoch steht es dem Pfad im Weg.
Die Natur erobert sich zurück, was ihr gehört. Würde man woanders sagen. Wir sagen das nicht. Weil es Unfug ist. Die Natur ist inkonsequent. Auf die Natur ist kein Verlass. Und auf was du dich nicht verlassen kannst, damit bau keine Redewendungen.
Unterhalb der Ruine von Schielkes ehemaligem Hof, wo der See die Landstraße zärtlich berührt, hat jemand seinen halben Hausrat am Ufer entsorgt. Ein Kühlschrank steckt im matschigen Grund, eine Dose Tunfisch noch darin. Der Fährmann hat es uns erzählt. Und dass er wütend geworden sei. Nicht wegen des Abfalls generell, sondern wegen Tunfisch speziell.
Jetzt ist der Fährmann tot, und wer uns erzählen soll, was die Ufer treiben, wissen wir nicht.
Die beiden Seen bewahren nicht nur den Abfall, sondern auch die Mysterien der lokalen Vergangenheit. Das Personal zeigt mehr Spuren von Überlebtheit als von Aufbruch. Abgewickelte DDR halt, die Vergangenheit ist schneller als die Zukunft. Herr Schramm, der ehemalige Oberstleutnant der NVA, hätte sich fast umgebracht, wenn ihm nicht die junge Anna über den Weg gelaufen wäre, Frau Reiff, die Apfelkuchen bäckt als gäbe es keinen zu kaufen, Johannes, der nicht mehr auf die Straße geht, aber seine Eier-Box dort abstellt: 20 Stück für zwei Euro, Ana Kranz, sie stammt aus dem Banat, ist 90 geworden und malt noch immer die Bilder des Ortes, sogar nachts, wenn sie nichts sieht,Frau Schwermuth bastelt in ihrem Heimatmuseum an einer Ordnung der Lokalgeschichte. Der taube Suzi und Lada, “den man Lada nennt, weil er als Dreizehnjähriger mit dem Lada von seinem Großvater nach Dänemark gefahren ist, hat heute zum dritten Mal binnen drei Monaten seinen Golf im Tiefen See geparkt”. Im Barockschlösschen wohnt jetzt wieder der Besitzer der Landmaschinenfirma aus dem Geschlecht derer von Blankenburg. – Und die ewige Fähe, die durchs Dorf schnürt auf der Suche nach Eiern und ihren Hühnern. Sie hat es aufs Titelbild geschafft, doch auch sie ist nicht unbeschädigt geblieben.
Unausweichlich ist diesem selbstbezüglichen Treiben die Geschichte. Nicht nur die der DDR, die sieht und spürt man noch, sie manifestiert sich in vielen Verlusten und den wenigen erhofften Möglichkeiten. Stanišić’ Erinnerungen gehen zurück bis in die Zeit des dreißgjährigen Kriegs. In den Chroniken findet der Erzähler die Legenden, die Grundierungsfarbe des Kaleidoskops. Die belegten und die aufgefrischten Fundstücke ziehen sich durch den Roman und geben sich durch das stilisierte Barock-Deutsch zu erkennen. Tradition hat auch der Schelmenroman, dem man die Freude am Fabulieren anmerkt, der den Alltag mit den Mythen mischt und die Existenz mit deren Banalität. Stanišic, 1978 in Višegrad in Bosnien-Herzegowina geboren, mischt die Sprachebenen vom hohlen Fernsehton bis zum HipHop-Imitat. Er berichtet von “desillusionierten Fahrrädern”, vom Specht, der “die Millisekunden unserer Sterblichkeit abmeißelt”, die “Seen sind wieder wild und dunkel und schauen sich um”, die die Stege sind “morsch und unglücklich”. Als Erzähler hat sich Stanišić das dörfliche “Wir” geliehen, ein chorisches Kollektiv, in dem Wissen und Meinung, Urteil und Vorurteil zusammenkommen. “Unser Annenfest. Was wir feiern, weiß niemand so recht. Nichts jährt sich, nichts endet oder hat an genau diesem Tag begonnen.“
“ALL DAS WAR VORGEPLÄNKEL.” Das Fest beginnt erst auf Seite 311. “Insgesamt kann man sagen, das antifaschistische Radfahren war ein Erfolg, aber auch irgendwie nicht so wirklich, nicht mal deswegen, weil nach drei Runden im Dorf schon Schluss war, sondern weil Rico und Luise noch gar nicht wach waren um zwölf.” Eico und Luise sind die örtlichen Nazis, sogar sie sind verschlafen. Der Fremdenverkehrsverein Fürstenwerder e.V. hat sein Büro in der Ernst-Thälmann-Straße 26.
UND HERR SCHRAMM, ehemaliger Oberstleutnant, Förster, Rentner, nimmt die Pistole von der Schläfe und entriegelt die Tür für das Mädchen. Anna strahlt ihn mit der Stirnlampe an. »Was machen Sie da mit der Pistole?« Blendet ihn wie im Verhör.
»Naja.«
»Tun Sie die weg.«
Herr Schramm steckt die Pistole in seine Trainingshose. Anna setzt sich auf den Beifahrersitz. »Schramm, erfreut.«
»Ich weiß, wer Sie sind.« Anna schaltet das Innenlicht an und die Stirnlampe aus.
»Mhm«, macht Herr Schramm. Er reibt sich die Augen. Das macht ihn traurig, dass er sich die Augen reibt. Also fragt er: »Was machst du hier draußen?« »Laufen.«
»Das ist gefährlich.«
»Ich steige auch zu bewaffneten Wahnsinnigen ins Auto auf einem Acker mitten in der Nacht.«
Herr Schramm wendet sich ab. Da ist die Nacht und da der Baum und da der Acker. Anna blickt ihn unverwandt an.
Da sind Tränensäcke, Kapillaren auf der Nasenknolle, da sind Härchen im Ohr. Herr Schramm sieht aus wie jemand, der mit seinem Körper nicht mehr viel vorhat.
»Ich bin nicht wahnsinnig«, sagt Herr Schramm.
Unrasiert, das Haar fettig. Herr Schramm sieht aus wie je mand, der mit Zahnbürste im Mund auf dem Klo einschläft. (…)
Anna holt Luft. Es klappt. Sie sagt:
»Sie wollten sich umbringen.«
Herr Schramm sagt: »Gut.«
Anna sagt: »Was mach ich jetzt?«
Herr Schramm versucht, den Wagen zu starten, der Motor springt nicht an.
»Wenn man laufen geht«, sagt Herr Schramm, »hat man eventuell keine Zigaretten dabei.«
»Ich rauch gar nicht.«
»Hast du den Ausweis mit?«
»Wozu denn?«
»Ich hab meinen nicht dabei. Keinen Führerschein, gar nichts. Du könntest mir Zigaretten besorgen. Wenn nicht, könntest du den Ausweis holen und dann Zigaretten besorgen. «
»Warum holen Sie nicht Ihren?«
»Das schaff ich vor dem Selbstmord zeitlich nicht mehr.«
Anna will nicht, muss aber kurz lachen. Ihr Atem stockt sofort. (…)
Ob er Familie habe. Verheiratet sei.
Herr Schramm hat Familie. Aber wie das so ist. Und Frauen? Im Sommer hat er die Frauen ein letztes Mal abgewogen, pro und kontra. Hat sich umgesehen. Aber in seinem Alter und mit seiner Geschichte. Und bei uns, wo kaum einer sagt, was er fühlt. Schwierig. Witwen höchstens. Aber die Witwen macht die Einsamkeit im Alter gläubig. Schwierig.
Das ist amüsant, originell, erstaunlich routiniert in Komposition, Stil, Dialog. Doch wie beim Kaleidoskop faszinieren die ersten Blicke mehr als die folgenden. Die Konstellationen ähneln sich und müssen doch durchgespielt werden.Die Begeisterung für die Erzählmechanik überlagert das Interesse am Inhalt. So werden auch 300 Seiten lang und man ertappt sich beim Weiterblättern.
2014 315 Seiten
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