Nachrichten vom Höllenhund


Modiano
16. November 2014, 17:55
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Patrick Modiano: Dora Bruder

dorabruder

Vor acht Jahren stieß ich in einer alten Zeitung, dem Paris-Soir vom 31. Dezember 1941, auf Seite drei zufällig auf eine Rubrik »Zwischen gestern und heute«. Ganz unten las ich:

»PARIS
Gesucht wird ein junges Mädchen, Dora Bruder, 15 Jahre, 1,55 m, ovales Gesicht, graubraune Augen, sportlicher grauer Mantel, weinroter Pullover, dunkelblauer Rock und Hut, braune sportliche Schuhe. Hinweise erbeten an Monsieur und Madame Bruder, 41 Boulevard Ornano, Paris.«

50 Jahre später macht sich der Erzähler, den man mit dem Autor ineinssetzen darf, auf die Spur dieser Dora Bruder. Nicht die wenigen Fundstücke, Dokumente, Listen, Fotos führen ihn, er sucht eher, wie sich die Lebenswege der Dora Bruder in die Stadtlandschaft eingeschrieben haben. Paris ist Modianos Terrain, er durchstreift die Stadt auf der Suche nach Abdrücken, findet vieles zerstört oderverändert, gleicht die Ansichten mit seiner Erinnerung ab. Er erinnert sich an seinen Vater, seine Kindheit, an Texte, assoziiert. Das Ergebnis sind Mutmaßungen, so könnte es gewesen sein, Sicherheit gibt es nicht, dafür hat das Leben der Dora Bruder zu wenig historisch dokumentierte Bedeutung. Modiano interessiert auch das Schicksal des Mädchens, doch mehr beschreibt er die Windungen und Zufälle seiner Suche, die Kreuzungen von Lebenswegen mit den Orten der Stadt. Leise, tastend, auf den Wegen des Vergessens und den Spuren von sich selbst.

Dieses Viertel um den Boulevard Ornano herum kannte ich schon lange. In meiner Kindheit begleitete ich meine Mutter zum Flohmarkt von SamtOuen. Wir stiegen an der Porte de Clignancourt aus dem Bus und manchmal auch vor dem Rathaus des achtzehnten Arrondissements. Das war immer am Samstag oder am Sonntag nachmittag.

Es sind Menschen, die wenig Spuren zurücklassen. Als wären sie namenlos. Sie heben sich nicht ab von gewissen Straßen in Paris, von gewissen Vorstadtlandschaften, wo sie – wie ich durch Zufall entdeckte – gewohnt haben. Was man von ihnen weiß, kann oft in einer bloßen Adresse zusammengefaßt werden. Und diese topographische Angabe steht im Kontrast zu all dem in ihrem Leben, was man nie erfahren wird – dieser weiße Fleck, dieser Block aus Unbekanntem und Schweigen.

Man sagt sich, daß wenigstens die Orte einen leichten Abdruck von den Menschen bewahren, die an ihnen gewohnt haben. Abdruck: Einbuchtung oder Ausbuchtung. Ich habe jedesmal ein Gefühl von Abwesenheit und Leere verspürt, wenn ich an eine Stelle gekommen bin, wo sie gewohnt hatten.
Zwei Hotels gab es damals in der Rue Polonceau: Das eine, im Haus Nr. 49, wurde von einem nicht näher bezeichneten Rouquette geführt. Im Straßenverzeichnis war es unter der Bezeichnung »H6tel Vin« eingetragen. Das zweite, im Haus Nr. 32, stand unter der Leitung eines gewissen Charles Campazzi. Diese Hotels trugen keine Namen. Heute sind sie verschwunden.

In jenem Winter 1926 verlieren sich die Spuren von Dora Bruder und ihren Eltern in der nordöstlichen Vorstadt, am Ufer des Canal de 1’Ourcq. Eines Tages werde ich nach Sevran fahren, aber ich fürchte, daß auch dort die Häuser und Straßen ihr Gesicht verändert haben, wie in allen Vorstädten. Ich kenne die Namen einiger Betriebe, einiger Bewohner der Rue Liegeard aus jener Zeit: Nummer 24 war das Trianon de Freinville. Ein Cafe? Ein Kino? In der Nummer 31 lagen die Caves de 1’Ile de France. Ein Doktor Jorand belegte die Nummer g, ein Apotheker, Platel, die 30.

Mit siebzehn war Les Tourelles für mich nichts weiter als ein Name, den ich am Ende von Jean Genets Buch Wunder der Rose entdeckt hatte. Darin zählte er die Orte auf, an denen er dieses Buch geschrieben hatte: LA SANTE. GEFÄNGNIS LES TOURELLES 1943. Auch er war hier inhaftiert gewesen, als Strafgefangener, kurz nachdem Dora Bruder fortgebracht worden war, und sie hätten einander begegnen können. Wunder derRose war nicht nur von den Erinnerungen an die Strafkolonie Mettray durchdrungen – eine jener Erziehungsanstalten, in die man Dora schicken wollte -, sondern auch, wie mir heute scheint, von der Sante und Les Tourelles.
Aus diesem Buch konnte ich ganze Sätze auswendig. Einer davon kommt mir wieder in den Sinn: »Dieses Kind lehrte mich, daß der wahre Kern des Pariser Argots traurige Zärtlichkeit ist.« Dieser Satz beschwört mir Dora Bruder so eindringlich herauf, daß ich das Gefühl habe, ich hätte sie gekannt. Man hatte den gelben Stern Kindern mit polnischen, russischen, rumänischen Namen aufgezwungen, die so pariserisch waren, daß sie mit den Häuserfassaden, den Gehsteigen, den unzähligen Grautönen verschwammen, die es nur in Paris gibt. Wie Dora Bruder sprachen sie alle mit Pariser Akzent und gebrauchten Argotwörter, deren traurige Zärtlichkeit Jean Genet verspürt hatte.

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Dora Bruder war die Tochter von Ernest Bruder, geboren in Wien (Österreich) und Cécile Burdej aus Budapest (Ungarn). Dora wurde am 25. Februar 1926 in Paris geboren. Sie war wie ihre Eltern Jüdin. “Vater und Tochter, verließen Drancy am 18. September zusammen mit eintausend anderen Männern und Frauen in einem Transport nach Auschwitz.” Die französische Verwaltung hat, das erfährt man nebenbei, die deutschen Besatzungsvorschriften willfährig ausgeführt.

1997      150 Seiten

Patrick Modiano:
Die Gasse der dunklen Läden

modianogasseWir waren wieder in der Rue de Rome. Gestern abend ging ich bis zur Nummer 97, und ich glaube, als ich das hohe Gitter sah, die Schienenstränge und drüben auf der anderen Seite die DUBONNET-Reklame, die die gesamte Fläche einer Hauswand einnimmt und deren Farben seither sicherlich verblaßt sind, empfand ich das gleiche Gefühl der Angst wie damals.
Nummer 99, das Hötel de Chicago, heißt nicht mehr Hôtel de Chicago, aber in der Rezeption war niemand in der Lage, mir zu sagen, wann der Name geändert wurde. Es ist auch unwichtig.
Nummer 97 ist ein sehr breites Gebäude. Wenn Scouffi im fünften Stock gewohnt hat, dann befand sich Denises Appartement darunter im vierten. Auf der rechten oder auf der linken Seite des Hauses? Die Vorderfront hat auf jeder Etage wenigstens zwölf Fenster, so daß jedes Stockwerk wahrscheinlich in zwei oder drei Appartements unterteilt ist. Ich betrachtete lange diese Front, in der Hoffnung, einen Balkon oder die Form, vielleicht die Läden eines Fensters wiederzuerkennen. Nein, in meiner Erinnerung war nichts.

Der Erähler weiß nicht, wer er ist. Erstreift durch Paris, sammelt Namen, Adressen, Fotos, die ihm Hinweise auf seine Identität geben könnten, hangelt sich an Erinnerungsfetzen entlang. Wie ein Puzzle setzt er Fundstücke zusammen verschiebt oder verwirft sie. Kennt ihn jemand, kennt jemand einen, die er – vielleicht gekannt hat? “Ist er wirklich dieser Pedro, für den andere ihn halten und für den er sich schließlich selber hält? War er tatsächlich mit dem Mannequin Denise verheiratet, das auf geheimnisvolle Weise verschwand? Und was geschah nach Kriegsende an der Grenze zur Schweiz?” (Klappentext) “Vielleicht wird am Ende daraus dann ein Leben . . . Ob es sich um das meine handelt? Oder um das eines anderen, in das ich geschlüpft bin?

In diesem Labyrinth von Straßen und Boulevards waren Denise Coudreuse und ich uns eines Tages begegnet. Zwei Wege, die sich trafen, zwei von den zahllosen, die täglich Tausende und Abertausende von Menschen gehen, wie Tausende und Abertausende von kleinen Kugeln eines riesigen elektrischen Billards, die manchmal aufeinandertreffen. Und von all dem blieb nichts, nicht einmal die leuchtenden Spuren, die ein Glühwürmchen beim Vorüberfliegen hinterläßt.

Eine Variation von Modianos Thema: die Spurensuche auf dem Stadtplan von Paris nach den “Echolauten” von Personen, die suche nach den Wurzeln des Ich, die Verwehungen, die Unmöglichkeit, zu Gewissheiten zu gelangen. Der Krieg hat die Verhältnisse verwirbelt, die Wege von Personen aus der ganzen Welt überschneiden sich in Paris, sie suchen neue Ziele, neue Lebensräume, neue Gewissheiten. Die Schicksale sind immer auch jüdische Schicksale. Ein wenig Spannung genügt Modiano, viel wichtiger ist die genaue Beschreibung von Straßen, Häusern mit ihren Fassaden und Wohnungen, Cafébars und Restaurants, Interieurs. Auch die Menschen werden exakt beobachtet: Frisuren, Kleidung, Stimmungen, Haltungen. Trotz aller Präzision bleibt alles im Ungewissen. Vorgetäuschte Nüchternheit bei innerer Anspannung.

Ich glaube, man hört in den Hausfluren noch lange die Schritte all der Menschen widerhallen, die dort ein- und ausgingen und die seitdem verschwunden sind. Es bleiben Schwingungen davon zurück, schwächer werdende Wellen, die man aber aufzufangen vermag, wenn man darauf achtet. Wahrscheinlich bin ich nie Pedro McEvoy gewesen, ich war nichts, aber Wellen durchdrangen mich, schwache, die von weither kamen, und stärkere, und alle diese verstreuten Echolaute, die in der Luft schwebten, verdichteten sich und wurden ich.

Übersetzt wurde der Roman von Gerhard Heller, der 1940 bis 1944 literarischer Zensor der nationalsozialistischen Propagandastaffel im besetzten Paris war.

1978      160 Seiten (TaBu)


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