Robert Seethaler: Ein ganzes Leben
Die dicke Frau lächelte. »Ich glaube, es ist alles ganz geblieben«, sagte sie. »Nur der Schenkel tut ein bisschen weh. Jetzt können wir beide nebeneinander ins Tal hinunterhinken. «
»Nein«, sagte Egger und stand auf. »Ein jeder hinkt für sich allein!«
Muss man noch einmal vom archaischen Leben in den Bergen erzählen? Von einem, der sich nur in der Welt der Berge bei sich fühlt. Dem die Berge weder Wander- noch Wellnessresort sind, sondern eine Welt, die ihn vor den Menschen schützt, denen man sich nicht erklären kann. Sollen wir diese Exotik kennenlernen oder wollen wir uns dafür begeistern? Back to the roots, das einfache Leben, ausgestellt im Gehege des Romans.
Robert Seethaler ist zu Hanser nach Berlin gezogen und er hat seine Berg- und Talgeschichten mitgenommen. Andreas Egger, die Hauptperson, ist ins Tal gekommen und Seethaler erzählt sein Leben, „ein ganzes Leben“. Aber Egger ist nicht im Tal angekommen. Jedes Gefühl treibt ihn wieder in die Höhe, die Strahlen der Sonne wärmen ihn. Meistens jedoch friert er, denn er ist arm, lebt auch im Dorf eher in Hütten und Koben als in wohnlichen Behausungen. Egger mystifiziert die Natur nicht, er ist ja Teil davon. Die Natur ist auch nicht nur erhebend, sie ist – sogar ihm – zu karg, zu bedrohlich.
Einmal, während einer kurzen Rast am Zwanzigerkogel, packte ihn ein vor Ergriffenheit bebender junger Mann an den Schultern und schrie ihn an: »Sehen Sie denn nicht, wie wunderschön das alles hier ist!« Egger blickte in das von Glückseligkeit verzerrte Gesicht und sagte: »Schon, aber gleich wird es regnen, und wenn die Erde zu rutschen anfängt, ist es vorbei mit der ganzen Schönheit.«
Egger hat viel zu ertragen. Als Kind wird er von seinem Ziehvater zum hinkenden Krüppel geschlagen.Das Schlimmste, was Egger im Leben passiert, ist eine Lawine, die seine Frau verschüttet. Die Liebe ist kurz in den Bergen, Geborgenheit lässt sich nur träumen. Andreas Egger ist ein Einfältiger, der nicht zum Denken gemacht oder erzogen ist, sondern zum Arbeiten. Das kann er, wenig mehr. Kein Held – auch nicht für einen Roman von 2014.
Die Zeitgeschichte bleibt im Hintergrund, nicht nur für Egger, der für die Politik zu klein ist, sondern auch für Seethaler. Egger muss in den Krieg, aber der erweist sich für ihn als Fortsetzung der Arbeit auf anderen Gipfeln. Er wird auch im Kaukasus vergessen – und überlebt vielleicht gerade deshalb. In der Zeit nach 1945 erkennt Egger keine neue Zeit: „Der Bürgermeister war nun kein Nazi mehr, statt Hakenkreuzfähnchen hingen wieder Geranien vor den Fenstern und auch sonst hatte sich viel verändert im Dorf.” Zu selten erhebt sich Seethaler so lakonisch.
Egger nahm alle diese Veränderungen mit stiller Verwunderung hin. Nachts hörte er in der Ferne das metallische Knarren der Metallstreben entlang der Hänge, die jetzt Pisten hießen, und morgens wurde er oft vom Lärmen der Schulkinder hinter der Wand am Kopfende seines Bettes geweckt, das schlagartig abriss, sobald der Lehrer das Klassenzimmer betrat. Er erinnerte sich an seine eigene Kindheit, an die wenigen Schuljahre, die sich damals so unendlich lang vor ihm ausgebreitet hatten und die ihm jetzt kurz und flüchtig vorkamen wie Wimpernschläge. Überhaupt verwirrte ihn die Zeit. Die Vergangenheit schien sich in alle Richtungen zu krümmen und in der Erinnerung gerieten die Abläufe durcheinander beziehungsweise formten und gewichteten sich auf eigentümliche Weise immer wieder neu. Er hatte viel mehr Zeit in Russland verbracht als gemeinsam mit Marie, und doch schienen die Jahre im Kaukasus und in Woroschilowgrad kaum länger gewesen zu sein als die letzten Tage mit ihr. Die Zeit beim Seilbahnbau schrumpfte im Rückblick auf die Länge einer einzigen Saison zusammen, während es ihm vorkam, als hätte er sein halbes Leben über einer Ochsenstange hängend verbracht, mit Blick auf die Erde, den kleinen weißen Hintern gegen den Abendhimmel gereckt.
Egger erlebt noch das Fernsehen und den beginnenden Alpentourismus. Beides bleibt ihm fremd. Er rebelliert nicht, es ist keine Einsicht, es bleibt Einfalt. Ein „Ausflug“ mit dem Bus führt Egger zu weit weg von seinem Lebensfleck. »Wo wollen Sie denn eigentlich genau hin?«, fragte der Mann. Der alte Egger stand nur da und suchte verzweifelt die Antwort. »Ich weiß es nicht«, sagte er und schüttelte langsam und immer wieder den Kopf. »Ich weiß es einfach nicht.« Das könnte Weisheit sein, es ist aber die Banalität.
Ich kann so einen wie Andreas Egger bewundern und Seethaler macht es mir leicht. Er findet den leichten Ton für das harte Schicksal. Er macht keine überflüssigen Worte, wo sie nicht hinpassen. Er nimmt seinen Andreas Egger ernst. Auf den Bergen ist es kalt.
»In welcher Erde willst du begraben sein?«
»Weiß ich nicht«, sagte Egger. Über diese Frage hatte er noch nie nachgedacht, und eigentlich lohnte es sich seiner Meinung nach auch nicht, auf derartige Dinge Zeit und Gedanken zu verschwenden. »Die Erde ist die Erde, und wo man liegt, bleibt sich gleich.«
»Vielleicht bleibt es sich gleich, so wie sich am Ende alles gleich bleibt«, hörte er den Hörnerhannes flüstern. »Aber es wird eine Kälte sein. Eine Kälte, die einem die Knochen zerfrisst. Und die Seele.«
»Auch die Seele?«, fragte Egger, dem plötzlich ein Schauder über das Rückgrat fuhr.
»Vor allem die Seele! «, antwortete der Hörnerhannes. Er hatte jetzt seinen Kopf, so weit es ging, über den Kraxenrand hinausgereckt und starrte gegen die Wand aus Nebel und fallendem Schnee. »Die Seele und die Knochen und den Geist und alles, woran man sein Leben lang gehangen und geglaubt hat. Alles zerfrisst einem die ewige Kälte. So steht es geschrieben, denn so habe ich es gehört. Der Tod gebiert neues Leben, sagen die Leute.
Aber die Leute sind blöder als die blödeste Geiß. Ich sage: Der Tod gebiert gar nichts! Der Tod ist die Kalte Frau.«
»Die … was?«
»Die Kalte Frau«, wiederholte der Hörnerhannes. »Sie geht über den Berg und schleicht durchs Tal. Sie kommt, wann sie will, und holt sich, was sie braucht. Sie hat kein Gesicht und keine Stimme. Die Kalte Frau kommt und nimmt und geht. Das ist alles. Im Vorbeigehen packt sie dich und nimmt dich mit und steckt dich in irgendein Loch. Und im letzten Stück Himmel, das du siehst, bevor sie dich endgültig zuschaufeln, taucht sie noch einmal auf und haucht dich an. Und alles, was dir dann noch bleibt, ist die Dunkelheit. Und die Kälte.«
Egger sah in den Schneehimmel hinauf und hatte für einen Moment Angst, etwas könnte darin auftauchen und ihm ins Gesicht hauchen. »Jesus«, presste er zwischen den Zähnen hervor. »Das ist schlimm.«
2014 155 Seiten
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2 Kommentare so far
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„Das könnte Weisheit sein, es ist aber die Banalität“, schreibst du. „Banalität“? Vielleicht.Aber als solche doch realistisch und ergreifend.
Kommentar von Anonymous 18. Oktober 2015 @ 21:43Ja, deshalb ergreifend, weil Andreas Egger aus seinem Leben spricht, nicht aus seinerm Kopf. Banal ist nicht abwertend, es bezeichnet nur die Aus-Weg-Losigkeit. (In dieser Schreibweise steckt mein Nach-Denken.)
Kommentar von vomhoellenhund 19. Oktober 2015 @ 13:29