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Philipp Felsch:
Der lange Sommer der Theorie.
Geschichte einer Revolte 1960 – 1990
2015
Am Anfang – wie Adorno – war die Theorie kritisch, am Ende löste sie sich in C2H6O auf. Marx ist tot, die Dialektik siecht – Gemma Biertrinken. Die Theorie versucht die Welt zu erklären, damit man sie verändern kann, doch die Welt sträubt sich. Also verändert man sich selbst, sucht sich eine leichtere Theorie, liquidiert auch diese im „Franzosengemurmel“ (Rainald Goetz) und landet in der Kneipe oder im Edelrestaurant oder in Thailand. So geht der Zyklus, „die Zukunft der Theorie ist ungewiss“ lautet der letzte Satz von Philipp Felschs kultureller Studie über die „Geschichte einer Revolte“.
Von 1960 – 1990 erzählt Felsch den schnörkelhaften Verlauf des Theoretisierens in Deutschland und speziell in (West)Berlin (als „Allegorie des Zeitgeists“). Er erzählt in Windungen entlang von Peter Gente („Ich habe keine Bücher, die Bücher haben mich.“) und seines „Merve“-Verlags, der sich intensiv um Sammlung und Verbreitung aktueller theoretischer Strömungen bemühte und sich nach der Lektüre Adornos um die „Ästhetisierung der Gegenaufklärung“ (Kapitelüberschrift) verdient machte. Gemeint ist damit „Französisch im Deutschen Herbst“ (Kapitelüberschrift), die „Frankolatrie in den Kulturwissenschaften“ (Klaus Laermann) von Althusser und Foucault über Baudrillard, Lyotard, Virilio bis zu „Lacancan und Derridada“ (Laermann). Felsch zeigt, wie die deutsche Rezeption durch den Katalysator der französisch inspirierten „Posthistoire“ zu Nietzsche, Ernst Jünger und Carl Schmitt zurückfand und wie alles im „White Cube“ der „Museumsverpackung“ und in der „Kunst des Biertrinkens“ (Kapitelüberschrift) endet.
In den letzten Kapiteln bewegt sich Felsch mit Gente und den anderen Theoriesüchtigen von den „Antizipationen der freien Gesellschaft“, den Altberliner Wohnzimmern, durch die beschleunigten Stehdiskurse in „abgewetzten“ Studentenkneipen und die Galerien der gedanklichen Ästhetisierung bis zur „Paris Bar“ und zur Disco als „Kampfgetümmel“ (Ulrich Raulff). Der Weg rundet sich von den Kaffeehäusern als Kristallisationspunkte des öffentlichen Diskurses und damit der Aufklärung (Habermas) bis zu Michael Rutschkys Beobachtung: „Die allmähliche, unmerkliche, am Ende vollkommene Entgrenzung durch das Weißweintrinken ist die immer wiederholte Probe darauf, daß Kommunikation mit der Außenwelt im allgemeinen möglich ist.»
Philipp Felsch schreibt im Rückblick als Nachlebender des “langen Sommers”, er hat vieles (wieder)gelesen und das Archiv des Merve-Verlags ausgewertet. “Der Verlag ist als «Reclam der Postmoderne» und rechtmäßiger Urheber des deutschen Wortes «Diskurs» bezeichnet worden. In den achtziger Jahren hatte er sich vor allem durch die Übersetzung der französischen Poststrukturalisten einen Namen gemacht. Unter eingefleischten Theorielesern galten seine billig geleimten Bändchen als Garantie für avanciertes Denken, und wegen ihrer unakademischen Machart galten sie außerdem als Pop. Die farbige Raute des Internationalen Merve Diskurses war ein gut eingeführtes Logo; sie besaß ein ähnliches Renommee wie der Regenbogen des Suhrkamp-Verlags.” (Felsch)
Felsch schreibt abgeklärt, in sympathisch ironischer Außensicht, obwohl er selbst in den Merve-Bändchen “intensivere Bildungserlebnisse” gesucht hat. Ich habe die “Geschichte eines Genres” (Felsch) schnell und gerne gelesen und meine, dass mir Felsch vieles nähergebracht hat, was seit den mittleren 70er Jahren an mir vorbeigegangen ist, weil mich der Beruf ablenkte und weil mir das “französische Denken” von Anfang an suspekt war.
“So virtuos wurde Gelebtes und Gedachtes selten miteinander verwoben. “Der lange Sommer der Theorie” liest sich wie ein hervorragend geschriebener Krimi.” (etwas übereuphorische 3SAT-Empfehlung von Svenja Flaßpöhler)
Seit 2011 ist Philipp Felsch Juniorprofessor für Geschichte der Humanwissenschaften am Institut für Kulturwissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin.
Peter Gente starb 2014 in Thailand.
2015 240 Seiten plus umfangreiche Anmerkungen und Literaturverzeichnis
Leseprobe beim Verlag C.H.Beck
Audio-Clip von Wolfram Wessels in der SWR-Mediathek (12 Minuten)
taz.studio auf der Leipziger Buchmesse 2015 – Video-Gespräch mit Tania Martini (25 Minuten)
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Teja Fiedler:Mia san mia.
Die andere Geschichte Bayerns
2014
Teja Fiedlers „Mia san mia“ ist nicht die andere Geschichte Bayerns, die der Untertitel verspricht. Es ist auch keine Sozialeschichte, das „gemeine Volk“ kommt vor, aber eher als traditionsbehaftete Dulder, was ja wohl auch so richtig ist. Die kleinen Leute hatten immer unter den „Verheerungen“ zu leiden und da war es meist egal, ob es fremde Heere oder das eigene waren. Im wesentlichen schreibt sich Fiedler,wie gewohnt, an den Herrschergestalten entlang, beleuchtet ihr Wirken jedoch durchaus kritisch und mit antiklerikalem Unterton. Er wahrt stets die lieberale Distanz zur den Obrigkeiten von den Agilolfingern bis zur CSU. Die CSU wird in die Tradtion der bayerischen Sonderwege gestellt, die aber meist nur in Gedanken erfüllt wurden, woraus Fiedler einige Hoffnung schöpft. Der erste Teil liest sich so unübersichtlich wie es dem anhaltenden Wechsel der Heinrichs und Ludwigs und Maximiliane entspricht, doch genügt es, daraus das unablässige Kämpfen um den Machterhalt vor allem der Wittelsbacher zu abstrahieren. Das Vergnügen liegt in der Alltagssprache, mit der Fiedler die Abgehobenen wieder auf unsere Erde herabzieht.
Das war Aufruf zur Revolution und zum Umsturz aller Werte! Und ausgerechnet auf bayerischem Boden, noch dazu in der Pfalz, seiner geliebten Heimaterde, musste die skandalöse, aufrührerische Veranstaltung stattfinden. Ludwig fühlte sich nicht nur politisch bedroht, sondern auch persönlich gekränkt. Hatte er nicht seinem Volk eine Verfassung gewährt, sie trotz vieler Bedenken auch eingehalten und stets das Wohl seiner Untertanen im Auge gehabt? Und nun wandten sich diese Elemente, mehrheitlich höchstwahrscheinlich protestantisch, gegen ihn! Undankbares Pack. Nun gut, dann musste er eben andere Saiten aufziehen. Liberal war gestern.
Doch sechs Jahre danach nahm der Staat Bayern den Eisenbahnbau schon selbst in die Hand. Ludwig hatte sich überzeugen lassen. Die Strecke von Lindau bis Hof und weiter durch Sachsen bis Leipzig trug wieder seinen Namen: Ludwig-Nord-Süd-Bahn. Diesmal hatte sie es verdient. Das Festgedicht zur Einweihung pries den Bayernkönig denn auch als Visionär des Schienenstrangs: »Und fragt dereinst nach vielen, vielen Tagen/ Die Nachwelt, wer die neuen Bahnen brach, / So wird es laut ihr die Geschichte sagen: /Der teutsche Ludwig war’s, ein Wittelsbach!«
Ein insgesamt vergnüglicher Überblick mit vielen dezenten Spitzen gegen die da oben und die devoten Geschichtsschreiber, die sie dort hinaufgeschrieben haben.
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Michael Lüders: Wer den Wind sät.
Was westliche Politik im Orient anrichtet
2015
Kinder sterben, aber «wir glauben, dass es den Preis wert ist». Michael Lüders zitiert Madeleine Albright, frühere Außenministerin der USA. Man braucht Bücher, um die weitgehend bloß tagesaktuelle Berichterstattung in TV und Zeitungen zu verstehen bz. um zu verstehen, dass die Nachrichten oft unvollständig, vordergründig an Zahlen orientiert, auch einseitig sind und morgen vergessen, was gestern wichtig war. Auch Politiker bräuchten solche Bücher – und die Zeit, sie zu lesen, um sich nicht nur in getriebenem Krisenmanagement zu gefallen, sondern um zu „nachhaltigen“ Lösungen zu kommen. Michael Lüders „war lange Jahre Nahost-Korrespondent der Hamburger Wochenzeitung DIE ZEIT“ und ist als solcher nicht unmittelbar ideologieverdächtig. Er analysiert die globale Einbettung der Konflikte und Zustände in der arabischen Welt des Nahen Ostens, geht ein auf die „Arabellion“, auf Terrororganisationen, er nennt die Herrscher Despoten, egal ob Assad in Syrien, Ghaddafi in Libyen, Saddam Hussein im Irak oder die Stammesherrscher in Saudi-Arabien oder den Emiraten. Lüders’ zentrales und mit Verve vertretenes Anliegen ist jedoch zu zeigen, was „westliche“ – und das meint natürlich in erster Linie die USA –Politik „im Orient anrichtet“. Die Thesen: „Der Westen“ ist nur an kurzfristig machterhaltender und ressourcenabgreifender Politik interessiert. „Der Westen“ operiert mit „Werten“ wie Freiheit und Demokratie, ohne sich um die Strukturen der Länder des Nahen Ostens zu kümmern, ja, ohne sie zu kennen oder gar zu verstehen. Demokratisierung im „westlichen“ Sinne sei, so Lüders, kaum zu realisieren, weil in vielen arabischen Ländern häufig die Voraussetzungen fehlen. Es gab keine durchgreifende Industrialiserung, es fehlen demzufolge stabile und potenziell staatstragende Mittelschichten, es gibt oft keine säkularen gesellschaftlichen Infrastrukturen. Wenn „der Westen“ Despoten aus dem Land bombt, wie im Irak, in Libyen oder versucht in Syrien und anderswo, schafft er damit ein Machtvakuum, das – in meist gewaltsamer Konkurrenz zueinander – von Stämmen und Clans ausgefüllt wird, die sich als ideologische Rechtfertigung häufig auf einen selbsterklärten Islam berufen. „Der Westen“, so Lüders, habe die zerfallenden Staaten und die einfallenden Terrorregime selbst zu verantworten und sei auch unfähig, „aus seinen Fehlern zu lernen“. So werde Terror weit stärker geschürt als in seinen Grundlagen bekämpft. Der „Islamische Staat“ – als aktuelles Beispiel – sei ein Produkt „westlicher“ Politik. Gleichzeitig setzen die USA auf Diktatoren und Feudalherrscher, wenn diese mit dem Westen kooperieren.
Im Irak „Betrug die Alphabetisierungsrate 1989 noch 95 Prozent, die höchste in der arabischen Welt, war sie 2000 um mehr als die Hälfte gefallen. Das Gesundheitssystem, vormals eines der besten der Welt, lag am Boden, die Kinder-Sterblichkeitsrate war innerhalb von zehn Jahren von einer der niedrigsten weltweit umgeschlagen in eine der höchsten. Diese namentlich von den USA und Großbritannien vorsätzlich herbeigeführte Verelendung der irakischen Bevölkerung gehört zu den am wenigsten bekannten oder besser gesagt zur Kenntnis genommenen Verbrechen westlicher Politik nach dem Zweiten Weltkrieg. Sie ist eine der wesentlichen Ursachen für den Zusammenbruch zivilisatorischer Werte im Irak wie auch des irakischen Staates. Auf diesen Zusammenbruch folgte, wenige Jahre und einen weiteren Krieg später, die Schreckensherrschaft der Milizen, allen voran des «Islamischen Staates».
Wütend wird Lüders, wenn er auf Israel zu sprechen kommt. Rhetorisch fragt er, ob es einen „Freibrief für Israel?“ gebe. Er zeiht die israelische Poltik des ethnische Nationalismus und des Rassismus gegenüber den Palästinensern und auch gegenüber der arabischen Bevölkerung in Israel.
Was erwartet die israelische Regierung, was glauben ihre westlichen Freunde? Dass Menschen unter solchen Bedingungen keinen Widerstand leisten? Selbstverständlich hat Israel, haben die Bürger Israels ein Recht darauf, in Frieden und Sicherheit zu leben und sich zu verteidigen. Inwieweit die regelmäßigen Angriffe auf den Gazastreifen, von offizieller Seite gerne als «Rasen mähen» bezeichnet, dafür den geeigneten Rahmen schaffen, möge jeder für sich selbst beurteilen.
“Wer den Wind sät” ist auch ein Buch für Politiker, die wie Steinmeier oder “sogar Bundesinnenminister Thomas de Maizière“ (taz) jetzt eine „Stabilisierung in Libyen“ fordern und „in der Lage in dem nordafrikanischen Land eine Ursache für die Flüchtlingsdramen im Mittelmeer“ sehen. Das Eingeständnis müsste weiter gehen und auch berücksichtigen, dass „westliche Politik“ mit verantwortlich für die momentan ausweglose Lage ist. (geschrieben im April 2015)
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Kerstin S. Jobst: Geschichte der Ukraine
Die Ukraine hat eine lange und vielfältige Geschichte, aber es ist nicht die Geschichte der Ukraine. Die Ukraine als eigenständigen Staat gab es nämlich nur für kurze Zeit nach dem Ersten Weltkrieg und es gibt sie seit 1991, seit dem Zerfall der Sowjetunion. Jobst spricht deshalb meist nicht von der Ukraine, sondern von den „ukrainischen Ländern“ mit ihren verschiedenen Ethnien, Sprachen, Religion, Kulturen, Erinnerungen. Diese befanden sich unter verschiedenen Herrschaftgebieten, Polens, Russlands, der K.u.K-Monarchie, der Sowjetunion. Das „nation building“ hat eine lange, weitgehend erfolglose Tradition, doch ging es meist um Anpassung, die Gewährleistung von Religion und Sprache, in der Regel stand im Mittelpunkt der Anstrengungen das Überleben. DieVergangenheiten der ukrainischen Länder sind äußerst unübersichtlich, nicht nur für den Außenstehenden. Kerstin S. Jobst versucht Entwicklungslinien aus dem Wirrwarr der Geschichtsfäden zu ziehen, ohne zu werten. Sie beleuchtet Partikularinteressen, Mythen und Symbole, die eine gmeinsame Nationalität (sobornist’) begründen sollen, rekurriert wird auf den Glauben, auf „Helden“, die „Freiheit der Kosaken“ (Leib und Seele geben wir für unsere Freiheit, und bezeugen, dass unsere Herkunft die Kosakenbrüderschaft ist, heißt es in der Hymne.) Aber auch die Katastrophen
wie der „Holodomor“, die Hungerkatastrophe 1932/33, und sogar die Atomkatastrophe von Čornobyl’ sollen nationalistisch verwertbare Bezugspunkte schaffen. „Der Hunger war nicht länger mit einem staatlich verordneten Schweigen belegt. Vielmehr wurde er in den 1990er Jahren in das nationale Geschichtsbild eingeschrieben und zum Symbol des kollektiven Leidens des ukrainischen Volks. Als integrativer Mythos wird er geschichtspolitisch instrumentalisiert, etwa als Thema einer Briefmarke zum 60. Jahrestag des Holodomor 1993. Unter Präsident Viktor Juscenko wurde diese Ressource gerne und intensiv zur Schaffung eines integrativen Geschichtsbildes genutzt.” Ein Kapitel widmet Jobst der „Krim-Frage“. Sie stellt auch die Frage, „wieso sich ukrainische Nationalisten so bereitwillig auf die Nationalsozialisten einlassen konnten”. Eine Lösung für eine Ukraine als Nationalstaat kann Jobst nicht andeuten, angesichts der gewundenen und konfliktreichen Geschichte scheint sie dem Leser als nahezu aussichtlos, vor allem, wenn man bedenkt, wie wenig Kenntnisse darüber im „Westen“ vorhanden sind und wie bemüht man in der Ukraine, aber auch in Russland die Ereignisse im eigenen Sinn zu deuten versucht. Das Buch stammt aus dem Jahr 2010, liefert aber doch alle Informationen. Nur beiläufig streift Jobst Wirtschafts- oder Sozialgeschichte.
Siehe auch: Ukraine-Analysen der Bundeszentrale für politische Bildung vom 26. März 2015
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Ronald Thoden/Sabine Schiffer (Hg.): Ukraine im Visier
Von den Berichten, mit denen man seit WochenMonatenJahren von Zeitungen und TV gefüttert wird, wird man nicht satt. Wenn man von der Weltwirtschaftskrise weiß, von Brüning, Keynes, von den Grundlagen des deutschen Nachkriegs-Wirtschafts-„Wunders“, mag man nicht glauben, dass die Geschichte Griechenland vs. EU unbeeinflusst von historischen (Er-)Kenntnissen geschrieben werden soll. Man sucht nach Hintergründen und Interessen und wird von den Medien nicht bedient. Auch die Ukraine hat eine Geschichte, spielt im globalen Gefüge eine Rolle, doch die aktuelle kriegerische Auseinandersetzung wird auf einen Gegensatz Putin vs. Westen reduziert, wobei Russland die Macht-Interessen, dem Westen aber „Werte“ zugeschrieben werden, ohne zu erklären, was ich darunter verstehen soll. Die Berichterstattung beschränkt sich auf tagesaktuelle Ereignisse, ordnet nicht ein, gibt kein schlüssiges Bild, keinen Sinn, hat keine Logik, oft nicht einmal Plausibilität. Die Thesen relativieren sich, wenn man von der Kriegspropaganda zum Ersten Weltkrieg gelesen hat, von den amerikanischen „Beweisen“ für kriegerische Gegner, von NATO-Strategien und damit verbundenen militärisch-finanziellen Interessen. Das gilt nicht nur für billigen Gesinnungsjournalismus à la Boris Reitschuster (Focus) oder Benjamin Bidder (SPIEGEL), bei denen eine Argumentation gar nicht angestrebt wird und bei denen man sich fragt, wie die Redaktionen solche Schmöcke beschäftigen können, ohne sich zu blamieren. Auch seriöse Zeitungen wie die SZ haben zur Ukraine nur Oberflächliches im Angebot. Cathrin Kahlweit, Daniel Brössler, Julian Hans und einige andere unter der Ägide von Stefan Kornelius geben sich als ortskundige Experten aus, doch fehlen ihren Artikeln erklärende Zusammenhänge, es fehlt das Korrektiv der Reflexion, der Überprüfung festsitzender Meinungen. Man hat immer das Gefühl, hier kann etwas nicht stimmen, da fehlt die Hälfte. Im Sammelband „Ukraine im Visier. Russlands Nachbar als Zielscheibe geeostrategischer Interessen“ finden sich Texte, die Hintergrundinformationen liefern zur aktuellen Krisensituation. Der ehemalige Luftwaffenoffizier Jochen Scholz beleuchtet die “Ukraine-Krise und die geopolitische Konstante auf dem eurasischen Kontinent”, Hannes Hofbauer befasst sich mit sozialen Gegensätzen, Kurt Gritsch und Jürgen Wagner stellen die Ukraine in den Rahmen der Wandlung der NATO-Doktrin und der (Wirtschafts-)Politik der EU. Es wird klar, dass Petro Poroschenko einer von den Oligarchen ist, gegen die sich die “Maidan”-Proteste auch richteten und nicht selbstverständlich “unser Guter”, als den ihn “unsere” Medien gegen “Den Bösen” Putin in Stellung bringen. Nicht alle Texte mögen ausgewogen sein (was bei politischen Themen eh kaum möglich ist), doch werden Fragen gestellt, die in den Medien nicht erwünscht sind. Auch damit setzen sich Artikel auseinander. Da das Buch von 2014 ist, sind die Beispiele nicht immer ganz aktuell, doch regen sie an, selbst kritisch zu sein und genau zu lesen und zu schauen.
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Sebastian Haffner: Die sieben Todsünden des Deutschen Reiches im Ersten Weltkrieg
Haffners Buch stammt aus dem Jahr 1964, es wurde zum 100. Jahrestag des Beginns des Ersten Weltkriegs wieder aufgelegt. Es geht ihm nicht um die Ablehnung des Krieges als solchen, sondern um die “großen Fehler”, die “Deutschland” gemacht hat– und mit Deutschland sind primär die Militärs gemeint, aber auch die politische Führung, die die Militärs gewähren ließ sowie die SPD als große Partei, ohne die “Krieg und Kriegspolitik auf die Dauer nicht zu machen” war. “Wenn sie ernstlich gewollt hätte, sie hätte vieles, fast alles verhindern können, womit Deutschland sich im Ersten Weltkrieg ruinierte. Sie verhinderte nichts. Sie hatte Angst davor, als unpatriotisch zu gelten.” Scharf grenzt Haffner die deutsche Politik, die zum Krieg führte, ab von Bismarcks größter Leistung, das Deutsche Reich “ohne nachhaltige Störung in das bestehende europäische und Welt-Staatensystem einzufügen”. Das Kaiserreich hörte auf, sich “saturiert” zu sehen und griff verblendet nach der “Weltmacht”, kulminierend im “Unterwerfungs- und Verkrüppelungsfrieden” von Brest-Litowsk, “gegen den der Friede von Versailles, den Deutschland ein Jahr später unterzeichnen mußte, noch geradezu milde erscheint”. Im Nachwort von 1964 vergleicht Haffner die deutsche Poltik in den 50er- und 60er-Jahren damit und findet Parallelen. “Die Bundesrepublik hat ihre grundsätzliche Unsaturiertheit und Unzufriedenheit mit dem, was sie hat, sogar in ihre Verfassung geschrieben. Sie erkennt ihre Grenzen nicht an, auch nicht die Grenzen ihres deutschen Zwillingsstaates, auch nicht diesen Staat als solchen, ja, genaugenommen, nicht einmal sich selbst: Sie will sich als das Deutsche Reich in den Grenzen von 1937 betrachtet sehen, und ehe dieses Deutsche Reich in diesen Grenzen (mit denen es damals bitterlich unzufrieden war) nicht wiederhergestellt ist, will sie keine Ruhe geben. Entschiedener noch als das Deutsche Reich von 1900 setzt die Bundesrepublik alles aufs Spiel, was sie hat, um zu gewinnen, was sie nicht hat.”
Der erste der großen Fehler, die Deutschland gemacht hat, war, den Ersten Weltkrieg überhaupt zu verursachen. Das hat es nämlich getan. Mit »Kriegsschuld« hat das nichts zu tun. Von »Kriegsschuld« zu sprechen, war nach dem Ersten Weltkrieg auf Seiten der Sieger Scheinheiligkeit und Heuchelei. Schuld setzt ein Verbrechen voraus, und Krieg war damals kein Verbrechen. Er war im Europa von 1914 noch eine legitime Einrichtung, durchaus ehrenhaft und sogar ruhmvoll. Er war auch nicht etwa unpopulär. Gerade der von 1914 war es nirgends. Gejubelt wurde im August 1914 nicht nur in Deutschland, sondern ebenso in Rußland, Frankreich und England. Die Völker fühlten damals alle, daß ein Krieg wieder einmal fällig war, und begrüßten alle seinen Ausbruch mit einem Gefühl der Befreiung. Aber daß er fällig geworden war, lag an Deutschland.
Die „7 Todsünden“ sind eine Abrechnung mit den Fehlern, bei der ich immer mitlese, dass ohne diese Fehler Deutschland den Krieg hätte gewinnen und Deutschland hätte das undemokratische Kaiserreich bleiben können. Aber davon schreibt Haffner nicht. Seine „Todsünden“: 1 Die Abkehr von Bismarck – 2 Der Schlieffenplan – 3 Belgien und Polen oder Die Flucht vor der Wirklichkeit – 4 Der unbeschränkte U-Bootkrieg – 5 Das Spiel mit der Weltrevolution und die Bolschewisierung Rußlands – 6 Brest-Litowsk oder Die verpatzte letzte Chance – 7 Der wirkliche Dolchstoß Eine knappe und profilierte Ergänzung zu anderen Büchern zum Ersten Weltkrieg.
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Mariana Mazzucato:
Das Kapital des Staates
2013
Mariana Mazzucato belegt ausführlich, dass viele der großen Erfindungen und Innovationen der letzten Jahrzehnte auf staatlich betriebenen und/oder finanzierten Forschungen beruhen. Das gilt für das Internet wie für alternative Energietechnologien und auch für pharmazeutische Produkte. Der Staat tritt hier nicht nur bei „Marktversagen“ ein, sondern agiert als langfristiger und „geduldiger“ Initiator und Unterstützer der Entwicklungen dort, wo private Investoren nur auf kurzfristigen Erfolg und Profit orientiert sind und auch „Wagniskapitalgeber“ das Risiko scheuen, das mit einem Scheitern von Forschung und Entwicklung verbunden sein kann. Der Staat müsse die Entwicklungen begleiten, bis sie zur Vermarktung gediehen sind, er müsse dann die Rahmenbedingungen für den kommerziellen Erfolg absichern. Sie greift etliche Beispiele heraus, darunter das Unternehmen „Apple“, das von den staatlichen Vorleistungen auf den Gebieten wie Internet, GPS, Touchscreen-Displays und Kommunikationstechnolgie profitierte und und sie mit attraktivem und effektivem Produktdesign als höchst profitable Produkte der Konsumelektronik auf den Markt brachte. Mazzucato kritisiert, dass Unternehmen wie „Apple“, aber auch Pharmakonzerne den Gewinn abschöpfen, ohne den Staat für seine unabdingbaren Vorleistungen zu beteiligen. Dem Staat fehlt so das Geld für weitere Innovationen, die Unternehmen investieren kaum in Grundlagenforschung und Technologien, die zuerst und oft für Jahrzehnte keinen Gewinn abwerfen. Der „Unternehmerstaat“ müsse seinen „gerechten Anteil“ erhalten, auch im Interesse nationaler Konkurrenzfähigkeit. Am Beispiel von Wind- und Solarenergie zeigt sie, wie inkonsequente staatliche Politik die USA gegenüber europäischen Ländern, bvor allem aber auch China ins Hintertreffen brachte. China etwa habe es aufgrund seiner plitischen Strukturen wesentlich leichter, den Staat als innovativen Unternehmer zu positionieren. (Russland/Die Sowjetunion dagegen habe die staatlichen Mittel zu zdrei Vierteln in die Bereiche Rüstung und Raumfahrt gelenkt und so eine breite Innovationspolitik blockierten. Außerdem sei in der UdSSR keine Zusammenarbeit von Staat und Unternehmen möglich gewesen.) Mazzucatos Buch begreift die Rolle des Staates kontovers zu den üblichen neoliberalen Mantras, der Staat müsse sich aus der Wirtschaft heraushalten und dürfe allenfalls Infrastruktur bereitstellen und lockere Rahmenbedingungen für das Erwirtschaften von Profit setzen. Leider gibt es im Buch viele Wiederholungen und Übeschneidungen; die Kernaussagen finden sich schon in der Einführung. 30 Seiten Bibliografie belegen Mazzucatos Thesen und ihren Forschungseifer. Nachtrag April 2015: In einem Interview mit der SZ sagt Mariana Mazzucatozur aktuellen Situation in der EU: „Es ist eine Tragödie: In der Debatte, was in den Krisenländern schiefläuft, geht es nur um die Größe des Staatssektors. Aber diese Länder haben nicht zu viel Staat, sie haben den falschen Staat. Italien bekommt erzählt, das Land müsse sparen, sparen, sparen, um wie Deutschland zu werden. Doch das funktioniert nicht. Tatsächlich müsste Italien massiv investieren, um so etwas wie die deutsche Förderbank KfW und Forschungseinrichtungen aufzubauen. Um Top-Leute anzuziehen. Wir brauchen Wissenschaftler in den Regierungen, die sich auch mal die Hände schmutzig machen.”
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