Nachrichten vom Höllenhund


Petrowskaja
3. März 2015, 17:23
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Katja Petrowskaja: Vielleicht Esther

petrowskajaKatja Petrowskaja hat mit der Geschichte “Vielleicht Esther” den Ingeborg-Bachmann-Preis 2013 gewonnen. Sie wurde 1970 Kiew geboren, promovierte in Moskau, lebt seit 1999 als Journalistin in Berlin. Viele Motive, ihr Buch zu lesen, es passt gut ins Geschehen der Zeit. Katja Petrowskaja hat nicht für ihre Texte Deutsch gelernt, aber sie beschäftigt sich auch mit der für sie “neuen” Sprache und ihren Ausdrucksmöglichkeiten, sie will die “Sprache der Stummen” (немец – немцы – die Deutschen) nutzen, um über sie ihr Leben neu zu finden, ihre Vergangenheit, ihre Familie, ihre Geschichte, ihre Wurzeln. Die Sprache kann da Distanzen schaffen, die einen neu-gierigen Blick erlauben, aber auch Unsicherheiten zulassen.

Mein Deutsch, Wahrheit und Täuschung, die Sprache des Feindes, war ein Ausweg, ein zweites Leben, eine Liebe, die nicht vergeht, weil man sie nie erreicht, Gabe und Gift, als hätte ich ein Vöglein freigelassen. Mein Deutsch blieb in der Spannung der Unerreichbarkeit und bewahrte mich vor Routine. Als wäre es die kleinste Münze, zahlte ich in dieser spät erworbenen Sprache meine Vergangenheit zurück, mit der Leidenschaft eines jungen Liebhabers. Ich begehrte Deutsch so sehr, weil ich damit nicht verschmelzen konnte, getrieben von einer unerfüllbaren Sehnsucht, einer Liebe, die weder Gegenstand noch Geschlecht kannte, keinen Adressaten, denn dort waren nur Klänge, die man nicht einzufangen vermochte, wild waren sie und unerreichbar.

Katja Petrowskaja hat eine reiche Vergangenheit. Die Vorfahren fallen als Juden zwischen Russland (bzw. die Sowjetunion), Polen , Österreich-Ungarn und Deutschland, die Ukraine gibt es als Staat erst seit 1991, aber auch sie hat eine Vorgeschichte, die eng mit Russland, Polen und – als Aggressor – Deutschland verflochten ist. Katja Petrowskaja erzählt von ihren Großmüttern und –vätern, von Onkeln und Tanten verschiedener Generationen, wenig von ihren Eltern, ihr Leben ist noch zu nahe, die kennt sie, die Früheren will sie kennenlernen. Viele ihrer Vorfahren waren Taubstummenlehrer, wohl auch deshalb die Gier nach der Sprache. Für mich besonders interessant wird es, wenn die Familie in der Geschichte eine Rolle spielt, wie ihr “Großonkel zielte direkt auf das Sonnengeflecht der Zeit. Denn er, dieser sowjetische Attentäter namens Judas Stern, schoss eine Woche vor den Reichspräsidentschaftswahlen auf einen deutschen Diplomaten in Moskau. Es war das letzte Jahr vor Hitler und das erste Jahr der Hungersnot in der Sowjetunion, zwei Länder, die sich in einem Bündnis gegenseitig in Richtung Wahnsinn trieben. Und dann feuerte mein Stern. (…)Danach war nichts mehr wie zuvor, als hätte dieses Attentat, das aus meiner Familie kam, etwas in der fragilen Konstellation der Zeit zerbrochen, als hätte es zukünftige Katastrophen vorweggenommen, hier wie dort, als wären wir, und ich meine auch mich, für das größte Unheil des zwanzigsten Jahrhunderts verantwortlich, in einer mir nur zum Teil erklärlichen Weise.” Aber häufiger und elender hat die Geschichte der Familie mitgespielt. Für Juden bedeutet das mindestens Diffamierungen, Vertreibung, oft auch den Tod. Katja Petrowskaja besucht Babij Jar und Mauthausen und beschreibt genau, was sie sieht – und sie sieht viel – für den Leser, aber auch für sich selbst.

Vor vielen Jahren fragte ich David, einen Freund, der immer an jenem Tag nach Babij Jar ging, ob er Verwandte hier liegen habe. Er sagte mir damals, das sei die dümmste Frage, die er je gehört habe. Erst jetzt verstehe ich, was er meinte. Denn es ist unwichtig, wer man ist und ob man hier eigene Tote zu beklagen hat – oder wünschte er sich, dass es unwichtig sei? – für ihn war es eine Frage des Anstands. Ich möchte von diesem Spaziergang so erzählen, als ob es möglich wäre zu verschweigen, dass auch meine Verwandten hier getötet wurden, als ob es möglich wäre, als abstrakter Mensch, als Mensch an sich und nicht nur als Nachfahrin des jüdischen Volkes, mit dem mich nur noch die Suche nach fehlenden Grabsteinen verbindet, als ob es möglich wäre, als ein solcher Mensch an diesem merkwürdigen Ort namens Babij Jar spazieren zu gehen. Babij Jar ist Teil meiner Geschichte, und anderes ist mir nicht gegeben, jedoch bin ich nicht deswegen hier, oder nicht nur. Irgendetwas führt mich hierher, denn ich glaube, dass es keine Fremden gibt, wenn es um Opfer geht. Jeder Mensch hat jemanden hier.

Wenige Monate später wurde ein Gedicht von Jewgenij Jewtuschenko in der Literaturnaja Gazeta veröffentlicht.

»Über Babij Jar, da steht keinerlei Denkmal. / Ein schroffer Hang – der eine unbehauene Grabstein. / Mir ist angst. / Ich bin alt heute, / so alt wie das jüdische Volk. / Ich glaube, ich bin jetzt / ein Jude.«

Die Menschen riefen einander an, erzählte meine Mutter, wir weinten vor Glück darüber, dass man über das Unglück nun endlich öffentlich sprach. Ein russischer Dichter hatte sich der jüdischen Opfer angenommen, aller, es wirkte wie ein Wunder. In seinem Gedicht waren es nicht mehr ihre Toten, die Toten der ewigen anderen, und es stand gedruckt in der Zeitung. »Jeder hier erschossene Greis / ich. Jedes hier erschossene Kind / ich.« Innerhalb eines Monats wurde das Gedicht in siebzig Sprachen übersetzt, ins Deutsche von Paul Celan, und Schostakowitsch vertonte im Adagio seiner dreizehnten Symphonie. Es schien, als wäre dieses Weltunglück nicht mehr obdachlos, als wäre die Ehre der Erinnerung wiederhergestellt worden.

Katja Petrowskaja gibt Auskunft über Wege und Methoden ihrer “Aneignungen“. Das Vorwort steht unter dem Titel „Google sei Dank“, sie findet die Namen ihrer Familie im Computer. „Die Suche ging schneller, als ich erwartet hätte. Ich habe es, sagte Anna und zeigte mir eine Tabelle im Computer. Wir saßen eng beieinander am Tisch im Büro, nach wenigen Sekunden hatten wir die richtige Schreibweise aller Namen. Ozjel Krzewin heiratet 1895 Estera Patt, erklärte sie mir, und 1898 bekommen sie einen Sohn namens Szymon, euren Zygmunt. Ich war erst zehn Minuten im Institut, und schon hatte ich neue Daten und einen neuen Namen, Estera Patt, die erste Frau von Ozjel. Sie haben Glück, sagte Anna, dass Ihre Familie nicht direkt aus Warschau stammt. Glück?” Ein polnischer Archivar zeigt ihr ein Bild: “Ich habe dieses Foto gerade auf Ebay gekauft, sagte er, in letzter Zeit ist Ebay eine gute Quelle, Hunderte neuer Fotos, alte Leute verkaufen sie, bevor sie abtreten, oder ihre Kinder, dieses Foto habe ich von einem Angehörigen der Wehrmacht gekauft, für siebzig Euro, ein guter Preis.” “Vielleicht Esther” ist eine Familiengeschichte, es sind Geschichten von Katja Petrowskajas Familie, kein Roman. Die Spuren der Personen werden erst zusammengesucht, es gibt aber genug Schicksale, die die Romane füllen könnten. Auch das von Babuschka Esther. Egal ob alles verbürgt ist, denn ”manchmal ist es gerade die Prise Dichtung, welche die Erinnerung wahrheitsgetreu macht„.

Ich glaube, sie hieß Esther, sagte mein Vater. Ja, vielleicht Esther. Ich hatte zwei Großmütter, und eine von ihnen hieß Esther, genau. Wie, vielleicht?, fragte ich empört, du weißt nicht, wie deine Großmutter hieß? Ich habe sie nie bei ihrem Namen genannt, erwiderte mein Vater, ich sagte Babuschka, und meine Eltern sagten Mutter.

Vielleicht Esther ist in Kiew geblieben. Sie bewegte sich in der plötzlich leer gewordenen Wohnung mit Mühe, das Essen brachten die Nachbarn. Wir dachten, fügte mein Vater hinzu, wir kämen bald zurück, aber wir sind erst nach sieben Jahren zurückgekommen.

2014     285 Seiten

Video der BR-Lesezeichen

Radiobeitrag zur SWF-Bestsellerliste

Video der “Autorenarena” der Leipziger Volkszeitung (30 Minuten)

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