John Williams: Butcher’s Crossing
John Williams erzählt von einem, der auszog, das Frieren zu lernen. Er muss kalt werden – und hart, mit anderen Worten: ein Mann – und das besonders in Amerika. Auch dazu ist der “wilde” Westen da. Francine, auf die er in Butcher’s Crossing, trifft, ist, John Williams sagt es unaufhörlich, weich, eine Frau. “Du bist …«, begann er, zögerte und begann erneut. »Du bist …«, aber er konnte es nicht zu Ende bringen, wusste nicht, was er eigentlich sagen wollte. »Aber für eine kurze Zeit«, sagte Francine, »wirst du noch hier sein; drei, vier Tage lang bist du noch weich und jung.«” That’s it.
Will Andrews ist 23 und eigentlich für einen Romanhelden zu passiv, eher ein Mitmacher, ein Dulder (und hier William Stoner nicht unähnlich). Er kommt gerade von der Universität und ruft “in seiner Verwirrung: »Ich will nur ich selbst werden!«” Es ist 1873 und da Andrews kein kriegerischer Typ ist, sucht er sich ein anderes Abenteuer für seine Selbstfindung. Er fährt nach Butcher’s Crossing, einem Kaff am Ende von Kansas, dort, wo die karge Zivilisation endet und die endlose Prärie beginnt. Das einzige, was diese Gegend hervorbrachte, waren die Bisons, riesige Büffelherden, die jedoch schon weitgehend ausgerottet sind. Aber es laufen noch Schlächter herum in Butcher’s Crossing und Andrews schließt sich einem von ihnen an und zu viert machen sie sich auf den Weg dorthin, wo es noch Büffel geben soll, in ein Hochtal in den Rockies. Schuld oder Anlass ist Ralph Waldo Emerson und dessen “Bekenntnis, dass Menschen in einfacher Art und Weise und im Einklang mit der Natur leben sollten. In der Natur sah er die wahre Quelle der göttlichen Offenbarung. Zugleich stellte er die Bedeutung der schöpferischen Tätigkeit des Menschen als Anschubkraft für eine grundlegende Erneuerung und Quelle der Freiheit und Selbstbestimmung des Individuums heraus.“ (wikipedia) Will Andrews begreift
mit einem Mal, dass es eben solch eine Ironie war, die ihn vom College in Harvard fortgetrieben hatte, von Boston, fort in diese seltsame Welt, in der er sich auf unerklärliche Weise heimisch fühlte. Manchmal war er, nachdem er den leiernden Stimmen in Kapelle oder Klassenzimmer zugehört hatte, aus den Mauern von Cambridge hinaus südwärts auf die Felder und in die Wälder geflohen, hatte in offener Weite gestanden, den Kopf von frischer Luft umspült, und sich zu unendlichem Raum emporgehoben gefühlt; die freie Natur um ihn herum löste das Gemeine und die bedrückende Enge auf, die er empfunden hatte. Er hatte einmal einen Vortrag von Mr. Emerson gehört, aus dem ihm jetzt ein Satz einfiel: Ich werde zum durchsichtigen Auge. Inmitten von Feld und Wald war er nichts, sah aber alles; der Strom einer namenlosen Kraft zirkulierte durch ihn hindurch. Und auf eine Weise, wie er es in der King’s Chapel, den Räumen des College oder auf den Straßen von Cambridge nie empfunden hatte, war er eins mit Gott, frei und grenzenlos. Über Wälder und sanfte Hügel hinweg hatte er im Westen eine Andeutung des fernen Horizonts sehen können; und dort war einen Moment lang etwas so Schönes wie seine eigene, unentdeckte Natur aufgetaucht.
In drei Akten ist der Roman klassisch aufgebaut, Butcher’s Crossing ist die Ausgangsstation, von dort geht es in die Natur und deren Einsamkeit, wo die Prüfungen warten, der Durst, der Kampf mit den Tieren und schließlich der Schnee, der die Gruppe im Herbst überrascht und sie monatelang unter extremsten Bedingungen im Hochtal festhält. Geführt vom Schlächter Miller und begleitet vom Häuter Schneider und dem armseligen Gehilfen Charley Hoge erreicht Will Andrews, der das Unternehmen finanziert, das Hochtal, wo sie tatsächlich auf eine riesige Büffelherde stoßen. Akribisch schildert John Williams, wie sie das Massaker vorbereiten, die Munition anfertigen, wie Miller einen nach dem anderen die Büffel abschießt, wie Schneider Andrews anleitet, die Kadaver zu häuten, wie sie die Felle auf das Ochsengespann laden, wie sie ihre Bohnen mit Speckstreifen wärmen. Der Mensch wird zum Nichts “im Einklang mit der Natur”, für Gedanken an Gott oder Freiheit ist kein Platz, wenn man aufs bloße Überleben reduziert ist.
Doch während der Schmerz in seinem Körper wuchs, schien sich sein Geist vom Schmerz zu lösen, sich darüber zu erheben, bis er sich und Miller deutlicher als zuvor sehen konnte. Während der letzten Stunde ihrer Jagd hatte er gelernt, in Miller einen Mechanismus zu erkennen, einen Automaten, in Gang gehalten von der getriebenen Herde; und er lernte, Millers Vernichtung der Büffel nicht als Blutrausch zu begreifen, nicht als ein Verlangen nach ihren Fellen oder dem, was die Felle einbringen mochten, nicht einmal als einen Ausdruck der dunklen, blinden Wut, die in Miller tobte – er begriff die Vernichtung als kalte, hirnlose Reaktion auf das Leben, auf das Miller sich eingelassen hatte. Und er sah sich selbst, wie er stumm hinter Miller durch das flache Tal kroch, leere Patronenhülsen sammelte, das Wasserfass mitschleppte, sich um das Gewehr kümmerte, es sauber machte und Miller gab, sooft nötig – er sah sich und wusste nicht, wer er war oder wohin er wollte.
Nur selten gestattet uns Williams einen Blick in die Innenwelt, analysiert seinen Helden und den Roman, und hier ist vieles Klischee. Immer wieder die Wörter taub, weich, kalt, leer, doch weitestgehend beschränkt sich Williams auf die präzise Beobachtung. Der Leser spürt hautnah die nicht mehr ausweichlichen Strapazen in der gnadenlosen Natur, Williams schreibt ohne jedes Pathos, nicht sentimental und nicht überhöhend, die Sprache ist so nüchtern, dass die Brutalitäten unmittelbar wirken. Körper und Seele werden fühllos, nur so sind die Schmerzen auszuhalten.
Und immer noch nahm der Wind zu. Er heulte über die Berge und trieb die scharfen Schneekristalle vor sich her, wirbelte sie vom Boden auf und warf sie erneut in die Luft; er presste den Schnee wie feinen weißen Eispuder in die Falten der Kleider, wo er durch ihre Körperwärme schmolz; und das Feuchte gefror, bis die Kleider hart, schwer und steif an ihnen herabhingen und die Kälte auf ihrer Haut haften blieb. Andrews umklammerte den Sattelknauf noch ein wenig fester, hatte aber kein Gefühl mehr in den Händen. Er nahm eine steife Hand vom Knauf, streckte und krümmte sie und schlug sich damit auf den Schenkel, bis sie schmerzlich zu pochen begann; dann machte er dasselbe mit der anderen Hand. Die erste Hand war inzwischen wieder taub geworden. Ein kleiner Schneehaufen sammelte sich auf dem Sattel in dem steilen, von seinen Beinen geformten V.
Schließlich kehren sie wieder zurück nach Butcher’s Crossing, doch anders als die “Helden” im Märchen bringen sie nichts mit aus der Ferne, weder “Trophäen” noch Selbsterkenntnisse, sie haben im wörtlichen Sinn NICHTS gefunden, auch Will Andrews spürt nur eine genzenlose Leere.
Er begriff jetzt kaum noch, welche Leidenschaft ihn in dieses Zimmer, zu diesem Körper gelockt hatte, fast wie durch einen subtilen Magnetismus; noch konnte er sich an die Macht jener anderen Passion erinnern, die ihn gedrängt hatte, einen halben Kontinent zu durchqueren, um in eine Wildnis vorzudringen, von der er sich erträumt hatte, er könne dort wie in einer Vision sein unveränderliches Selbst finden. Nahezu ohne Bedauern vermochte er sich nun die Eitelkeit einzugestehen, der diese Leidenschaften entsprungen waren. Es war jenes Nichts, von dem McDonald drüben im Schlafhaus gesprochen hatte, als er unter der Lampe stand, deren Licht nur schwach gegen die Dunkelheit anflackerte; es war die helle, blaue Leere in Charley Hoges Blick, in die er flüchtig geschaut (…) hatte, es war das blinde Erdulden, das sich in den Bergen auf Millers Miene angesichts des weiß anstürmenden Unwetters ausbreitete.
Ralph Waldo Emerson ist als Gaukler entlarvt. Kein Trost, nirgends. Der Mensch ist zu klein für die Natur, er gleicht nicht ihr, sondern ist nur Abbild und Spielball. “Williams dismantles the myths of modern America.” (Michelle Latiolais) “Butcher’s Crossing” kann auch als Kritik an der frühkapitalistischen Ausbeutung der Natur gelesen werden. Die Jagd nach den Büffeln wird zum Selbstzweck, nur der Gedanke an den Erlös hält die Jäger am Leben und nur die Felle besitzen Wert, die Kadaver bleiben liegen, man kann sie nicht verkaufen.Die Indianer sind entsorgt wie die Büffel, vom Gebrauchswert wird fast völlig abstrahiert und der Tauschwert ist ein flatterhaftes Gebilde. Als Will Andrews mit den überlebenden Gefährten zurück nach Butcher’s Crossing kommt, ist der Preis für Büffelfelle ins Bodenlose gesunken, eine Winterreise hat dafür gereicht, Visionen und Lebensinhalte zu zerstören. Das Unternehmen erweist sich als sinnlos, wertlos, Butcher’s Crossing wird überwuchert, die Eisenbahn läutet eine neue Episode des Raubbaus ein. “Butcher´s Crossing ist ein großartiger Roman. Es ist eine auf wenige Personen herunter gebrochene Geschichte Amerikas. Eines Landes, das auf Blut gegründet ist.“ (Flatter Satz) –
1960 365 Seiten
Video des SRF-Buchklub (17 Minuten)
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