Aurélie Filippetti:
Das Ende der Arbeiterklasse
Lothringen ist – oder besser : war – das Kohle- und Stahlrevier Frankreichs, „Longwy, Lothringen, Herz des Stahls“. Viele italienische Arbeiter fanden in der Grenzegion zu Belgien, Luxemburg und Deutschland Beschäftigung und prägten die Gegend sozial, kulturell und politisch. Ihr Leben war abhängig von den Gruben und Hochöfen, sie arbeiteten hart, wurden krank und starben oft früh. Gegen die Ausbeutung organisierten sich viele in der CGT, der kommunistischen Gewerkschaft, und in der Kommnuistischen Partei, ihre Solidarität hatten sie auch aus der alten Heimat mitgebracht. Seit den 1970er-Jahren konnte der französiche Stahl nicht mehr mit den globalen Billigstahlen aus Brasilien oder Asien konkurrieren, immer mehr Berg- und Stahlwerke wurden geschlossen. “Die Mine von Montrouge in Audun-le-Tiche wurde am
31. Juli 1997 geschlossen. Es war die letzte aktive Eisenmine Lothringens.” So das Nachwort” des Romans.
Die Familie der Autorin ist eine der Arbeiterfamilien, die sich durch die Zeiten schlägt. Großvater Tommaso wurde als „Verschwörer“ von der Gestapo ins KZ gebracht, Vater Angelo musste in den Algerienkrieg , wurde später Bürgermeister seiner Heimatgemeinde Audun-le-Tiche und starb, wie viele, früh. Hauptsächlich um die Männer dreht sich die Familienerzählung Aurélie Filippettis, denn sie bestimmen das Leben, sie bringen das wenige Geld nach Hause, sie kümmern sich um die Politik. Aurélie Filippetti erzählt nicht chronologisch, stellt nicht die individuellen Schicksale in den Mittelpunkt, sondern zeigt sie als exemplarisch. In kurzen Szenen erlebt man das Leid der Arbeit, die Solidarität, auch mit der Partei, was nicht immer leicht fällt, das zu ertragen Los, immer nur der Ausgebeutete zu sein, fallengelassen zu werden, wenn man nicht mehr nützlich ist. Das Leben ist Klassenkampf, bis zuletzt, bis in Longy die Hütten geschliffen wurden und der Front National gewählt wurde.
Vierzehn Jahre alt. Die Lehrer möchten, dass er weiter zur Schule geht, aber was soll er werden, Ingenieur, auf die andere Seite wechseln, zu den Unterdrückern, die die Arbeiter nicht ausstehen können. Keine andere Wahl. Keine Arbeitskraft verschwenden. Kein Journalist, Anwalt, Schreiberling, der die gemeinsame Sache verteidigt, sondern einfach nur auf die Seite der Bosse wechseln oder aber hundert Fuß tief unter der Erde begraben werden. Beste Arbeiter auf die Ecole des mines geschickt. Aufstieg Verrat, Erfolg Verleugnung. Der große Bruno, in Moyeuvre, ein Teufelskerl von einem Kommunisten, vier Kinder, bis zur Beförderung zum Steiger ging er nie in die Kirche, der Lohn, verstehst du, den Männern Befehle erteilen, bis sie ihm vorgeschlagen haben, Steiger zu werden, vier Kinder, auch seine Klappe halten, jetzt ist er der Chef, das verändert alles, keine Wahl, vier Blagen, es scheint, als ginge er jetzt hin, sonntags, so ist das, sonst ein guter Kerl, hatte keine Wahl, vier Gören und seine Mutter.
Aurélie Filippetti setzt dieser Zeit ein Denkmal, sie trauert mit den Arbeitern und ihren Familien und das geht nicht ohne Melancholie und ohne kontrolliertes Pathos. Mit der Arbeiterklasse versinkt vieles in einer Geschichte, die hart, aber besser war. In den Skizzen verliert man etwas die Übersicht über die Familienmitglieder, was aber wohl gewollt ist. Es dauert auch einige Zeit, bis man sich in die knappe Darstellung eingelesen hat.
Die Arbeiter hatten die Gefahr gewittert. Nachdenkliche Köpfe, wenn auch ölverschmiert bis zum Scheitel. An das Werk geknüpft durch Bande, die stärker waren als das Privateigentum: Hunger, Schweiß, Blut, Stolz, Fachkenntnis, Politik. Wie Bauern an ihr Land. Arbeiter, die die Zukunft ihres Unternehmens diskutieren? Vielleicht später. Für sie war es zu spät. Hoffen, dass nicht alles umsonst gewesen ist. Dass irgendwann, irgendwo endlich Schluss sei mit der Pyramide der Bürokratie, mit dem Gehorsam als höchster Tugend, acht Stunden am Tag. Vorbei die Verachtung der Apparatschiks im dreiteiligen Anzug gegenüber den unteren Etagen der Glastürme. Die Entscheidungen von oben, im gedrechselten Marketing-Latein, damit man sie besser missversteht, die Große-Bosse-Kleine-Despoten-Befehle, die Abmahnungen, die heuchlerische Moral als Bollwerk der Macht.
Immer die gleiche Geschichte. Ein Dolch mitten durch sein Herz.
Aurélie Filippetti war Schülerin der Elitehochschule für Lehrer École normale supérieure Lettres et sciences humaines in Saint-Cloud und von 2012 bis 2014 Ministerin für Kultur und Kommunikation in Frankreich. Auch dieser Lebensweg ist beispielhaft.
2003 180 Seiten
Blog von Aurélie Filippetti (meist französisch)
Kommentar verfassen so far
Hinterlasse einen Kommentar