Nachrichten vom Höllenhund


Nawrat
19. Mai 2015, 12:05
Filed under: - Belletristik

Matthias Nawrat: Unternehmer

nawratLipa ist erst 13, aber sie ist die Assistentin ihres Vaters, sie führt die Bücher, ist immer Mitarbeiter des Monats und voll vom Unternehmersein durchdrungen. Dass es Leute gibt, die nichts tun, Schüler etwa, kann sie weder akzeptieren noch verstehen. Das sind für sie Arbeitslose, die sich mit nutzlosen Dingen beschäftigen. Ihr “Betrieb” hat sich auf das Sammeln und Aufbereiten von Elektroschrott spezialisiert, den sie in Industrieruinen im südlichen Schwarzwald und manchmal auch hinter den Vogesenbergen finden. “Zurück im Hof müssen Berti und ich noch die türkisen Fässer mit den Bärten aus Korrosion aus dem Keller tragen und in unseren See hinter dem Haus ausleeren. Aus unserem See ragen Drähte, und die Fässer schwimmen auf ihm, die schon zu viele Löcher haben.” Der kleine Bruder Berti hat nur noch einen Arm und verliert auch die Beine. Die Mutter steht in der Küche und wendet sich ab.

Das Unternehmen läuft, bis ihnen die Köberleins im “Paradies”das Tantal und Wolfram nicht mehr abnehmen und bis Vater “müde” wird. Der Traum, in Neuseeland ein neues Leben zu beginnen, verrinnt. Lipa will ihn antreiben, wie sie es von ihrem Vater gelernt hat.

Man muss nur wieder zurück zur Arbeit finden.
Vater hebt den Arm über den Kopf und blickt zum Mercedes, der in der Sonne glänzt.
Jedes Unternehmen muss geleitet werden, sage ich.
Ich bin müde, sagt Vater und macht einen Schritt zur Treppe zurück.
Ein Unternehmenschef wird nicht müde und hört nicht auf zu arbeiten, sage ich.
Jeder wird mal müde, sagt Vater und setzt sich auf eine Treppenstufe, bettet den Kopf in die Arme. Und da muss ich viel an ihm rütteln. Und ihn anschreien, dass er Unternehmer ist. Und was er sich dabei denkt. Und ob er meint, fürs Unternehmertum müsse nicht ein jeder sich zusammenreißen, große Opfer bringen, auch er. Aber Vater sagt nichts, und nur sein Kopf rutscht aufs Knie, als ich ihm den Arm wegziehe.

Da Lipa schon 13 ist, ahnt sie auch schon was von der Liebe.

Dort auf der Bank vor dem Edeka den langen Nasen-Timo. Er sitzt dort mit dem schönen Pius, der nicht mehr so schön ist, und mit dem Rothaarigen-Ziegler. Der lange Nasen-Timo steht auf und steht vor den Arbeitslosen und gestikuliert. Und die anderen beiden lachen. Dann setzt der lange Nasen-Timo sich, und sie reden und lachen weiter. Und wie gern möchte ich dort unten bei ihnen sein.

Der lange Nasen-Timo möchte, dass sie mit ihm weggeht, er kann es bei seiner Stiefmutter, die “Vergiftete” raucht und ihn verprügelt, nicht mehr aushalten. Lipa schafft den Absprung aber nicht, die unternehmerische Pflicht hält sie zurück. Es gibt kein Leben neben dem Unternehmen für sie.

Am nächsten Morgen beantrage ich bei Vater eine sogenannte freie Zeit, von der uns der Mann im Paradies einmal erzählt hat, eine große Errungenschaft, verloren an die Geschichte.
Was soll das sein, freie Zeit?, fragt Vater.
Ich will nur etwas alleine machen, sage ich.
Es gibt keine unternehmensfreie Zeit, sagt Vater.
Entweder man ist Unternehmer, oder man ist es nicht. Bist du es?
Ich bin es, sage ich.

Matthias Nawrat schafft den Spagat zwischen hoch leistungsfixierter Ideologie, die auch schon die Kinder infiltriert hat, und der Phanzasie von Liebe und Traum. Lipas Sprache wechselt zwischen Betriebsjargon, dem sachlichen Wunschdeutsch der Träume und seltsamen Substantiverfindungen, mit denen sie sich ihr Leben zurechterklärt. “Nawrat hat für seine Lipa eine Privatsprache erfunden, in der das magische Denken der Kindheit ebenso kurios wie furios amalgamiert wird mit einem rührend unbeholfenen amtsdeutschen Nominalstil, dessen sich die integrationswilligen Einwanderer befleißigen. (…) Die Komplimente, die der Vater der Mutter macht, werden durchweg als „Köstlichkeitsbescheide“ bezeichnet.“ (Christopher Schmidt, SZ)  Poetisch lässt Nawrat die Ergießungen des Herzens (auch die Maschinen haben „Herzen“) durch die schnöde Sprache des Wirtschaftens blubbern. Mit dem lange Nasen-Timo verbindet Lipa eine gute „Kussbilanz„.

Endlich ist Mutter in eine Gasse eingebogen, wo die große Bewohnerleere herrscht aufgrund von Schattigkeit. Und zu beiden Seiten glänzt nun das Blech, und über uns legt sich die Bettwäsche in Weiß auf meinen Kopf, als ich aussteige. Schmatzen kann der Boden auch, es läuft ein Bach an einer Hauswand entlang. Die Bewohner der Tapeten-Teppichstadt haben eine Klugheit auf dem Gebiet der Rheinumleitung und systematischen Stadtversorgung. Ich drücke die Hebel an den Türen des Mercedes runter, so still ist es in dieser Gasse und kühl.

Für das erste Kapitel aus diesem Roman ist Nawrat, der 1979 im polnischen Opole geboren wurde und als Zehnjähriger mit seiner Familie nach Bamberg umsiedelte, beim Klagenfurter Bachmann-Wettbewerb ausgezeichnet worden.

Poesie im Innern der Arbeitswelt. Ein traurigwarmes kleines Buch. 2014 stand “Unternehmer” auf der Longlist des Deutschen Buchpreises.

2014          140 Seiten

Video der BR-Lesezeichen (8 Minuten)

ZEIT-Rezension von Björn Hayer

Leseprobe beim Rowohlt-Verlag


Kommentar verfassen so far
Hinterlasse einen Kommentar



Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit Deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Twitter-Bild

Du kommentierst mit Deinem Twitter-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit Deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..



%d Bloggern gefällt das: