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Tomáš Sedláček/Oliver Tanzer:
Lilith und die Dämonen des Kapitals.
Die Ökonomie auf Freuds Couch
2015
„Die Ägypter machten in der Krise sehr viel Profit, indem sie Teile ihrer Reserven an jene Länder verkauften, die selbst keine Vorräte hatten.“ „Wir“ haben “in guten wirtschaftlichen Zeiten Manien entwickelt. Wir hätten unsere Schulden in den Zeiten vor der Krise zurückzahlen und den Puls der Ökonomie verlangsamen sollen”, aber “wir” sind keine Ägypter und sind deshalb von der Manie in die Depression gefallen.
Die “Ökonomie auf Freuds Couch” – es müssten Analytiker statt Analysten gehört werden. Ja, schon Herodot hätte weiterhelfen können, hätten wir seine “faszinierende Geschichte von Polykrates” gelesen und verstanden, der “derart von Glück gesegnet gewesen” sein soll, “dass es die Götter selbst zornig machte” und ihm der “schreckliche Tod widerfährt”.
Wirtschaftszyklen, psychoanalytisch erklärt und mythologisch unterlegt. Weshalb haben wir das bisher versäumt, was Tomáš Sedláček und Oliver Tanzer im neuen Buch entdecken? Die beiden nehmen mich mit in die “Abgründe der menschlichen Seele” und führen mich zu den “Dämonen des Kapitals” – zur Schizophrenie (Lilith) und zu Sadismus/Narzissmus (Apollon und Marsyas), den Angststörungen (Pan/Aphrodite), den Fetischen und Hedo-Maso bis zur sucht der “Bordellökonomie”. Freud und Jung erklären mir (oft in kleingedruckten Fußnoten) die Syndrome und Sedláček/Tanzer fragen mich und sich, “was das alles mit Wirtschaft zu tun hat”.
Dass die wirtschaftenden Menschen wie alle Menschen und vielleicht noch etwas stärker gebeutelt werden und an den attestierten Symptomen leiden, glaube ich gerne. Die Übertragungen auf die Wirtschaft als System kommen mir aber zum Großteil banal vor, oft auch platt. Mein Unbehagen wird nicht geringer durch Sedláček/Tanzers Methode, den Leser in das “wir” der Schreiber zu vereinnahmen, ihn an die Hand zu nehmen und ihm gesicherte Wege vorzugaukeln. “Nun soll es um eine grundlegende Analyse des Konsums gehen. Für Sie als Leser bedeutet das eine Gedankenreise vom einfachen Begehren zur unbezähmbaren Sucht beziehungsweise vom bereichernden Wachstum zur triebhaften Selbstzerstörung. Am Beginn dieser Reise steht die Geschichte eines Königssohns aus dem antiken Griechenland.”
Die Wirtschaft hat es nicht verdient, so verkürzt und begrifflich unpräzise vorgeführt zu werden. Die “ Wurzel wirtschaftlichen Übels, das uns in den vergangenen Jahren so bitter heimgesucht hat, liegt in einem Vernichtungswillen ohne Kreativität, der letztlich zur Selbstzerstörung des Systems führen kann”. “Nun fürchten wir das System. Genauer gesagt: Wir fürchten das ökonomische System, das – so meinen wir – uns unterdrückt.
Lilith ist eine der ersten mythologischen Figuren, die sich unterdrückt fühlen.“ „Befindet sich also dieser Konflikt zwischen dem Einfachen und dem Vielschichtigen nicht auch in uns Individuen? Mehr noch: Sitzt nicht auch in uns allen einerseits ein Innovator und einer, der gerne statisch bleiben würde? Sind wir nicht gefangen in unseren inneren Konflikten zwischen Ehrgeiz und Mäßigung der eigenen Bedürfnisse, zwischen Härte gegen uns selbst und andere und Freundlichkeit oder gar Selbsterniedrigung zur Ehre des anderen?
Eine ähnliche Dichotomie auf der Ebene der Ökonomie finden wir im Werk des großen »Erfinders der Marktwirtschaft« Adam Smith.”
Mit einem “Märchen zum Schluss” beenden Sedláček/Tanzer ihr Buch, ein Buch, an dem, wie aus “Unser Dank” zu entnehmen ist, viele mitgesammelt haben. Ein Buch für viele Gabentische. Ich habe vor allem die Sagen und mythologischen Geschichten gerne (wieder)gelesen. Für Lilith und die anderen Dämonen gibts aber lohnenswertere Ausgaben.
„Disziplinlose“, an den Haaren herbei gezogene Gedankengänge in „geschwätziger“ Prosa voller Kitsch und Geschmacklosigkeiten . „Gruselig“ (Wolfgang Streeck, SZ)
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Karl-Heinz Meier-Braun:
Einwanderung und Asyl –
Die 101 wichtigsten Fragen
Sachlich, knapp, umfassend informiert Karl-Heinz Meier-Braun über die rechtlichen, sozialen, politischen und humanen Aspekte des Themas. Er zeigt die Entwicklungen und setzt die Fakten in den historischen Kontext, der für die Diskussion unabkömmlich ist, aber in der gereizten Auseinandersetzung oft vergessen und beiseitegeschoben wird, auch von Politikern. Dabei ist Meier-Braun nicht unkritisch, nicht ohne eigenen Standpunkt. An die Kapitel zu den Fakten schließt sich eine Übersicht über Kontroversen und Konflikte in Politik und Gesellschaft an, abgerundet wird das übersichtliche Kompendium mit Überlegungen zu Zukunftsperspektiven. Die Informationen reichen bis zum Juli 2015. Anschaffen.
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Kathrin Röggla: Die falsche Frage.
Theater, Politik und die Kunst, das Fürchten nicht zu verlernen
Kathrin Röggla schreibt viel: Prosa, Hörspiele, Essays, Theatertexte. Sie gewinnt viele Preise, ist stellvertretende Vorsitzende der Akademie der Künste in Berlin und macht sich Gedanken über die Stellung von Kultur in der Gesellschaft der Gegenwart. 2014 hielt Röggla im Rahmen der Saarbrücker Poetikdozentur für Dramatik drei Vorträge über ihr Selbstverständnis als Dramatikerin und ihren Begriff vom Theater.
Sie betrachtet das Theater und die Sprache in deren sozio-plitischer Einbettung und das dabei erfahrene „Diskursgewusel“ verdreht ihr den Kopf. Sie grenzt sich ab von bloßen Textflächen wie auch von angesagten Installationen und Performances und beharrt darauf : „Mich interessiert der Text, der Text, der Text!” Nicht Agitation, nicht Dokumentation, sondern ästhetische Wirklichkeit. An TTIP interessiert sie z.B., wie kann daraus eine literarische Frage werden, gar eine dramatische? Etwa als Gerichtsdrama? Bloßer Abbildungsrealismus wäre doch absurd und erinnert nur an den kommerziellen Realismus von Hollywood. Wie ist daraus etwas Zwingendes zu schaffen? Etwas, das nur so und nicht anders erzählt werden kann?“
Als Kind der Postdramatik,“‚ das ich wohl zu 101 Prozent bin, schien mir das klassische Dramentheater als Tradition, als Anknüpfungspunkt nicht interessant, die Fabel, die Handlung, die Figuren mit ihrer Figurentreue, die Dialektik, die immer schon Bescheid weiß, wohin die Reise geht, die in ihr wohnende Abstraktion, das heißt: Abstraktion nicht ganz. Die Abstraktion und das Modellhafte, das interessiert mich ja nach wie vor, nur eben nicht auf eine aristotelische Übersichtlichkeit hin organisiert, als Dominante. Das ist ja auch schon soooo lange her. Schnee von gestern. Vielleicht aber ist das „Theater ohne Drama“ auch etwas übergelaufen, brandig geworden in Zeiten der Krise? Vielleicht reicht es nicht aus, im Theater über Kommunikationsformen nachzudenken, über Arten des Sprechens? Der Konflikt und der gesellschaftliche Widerspruch drängen ja nach vorne, nach all den Jahren, in denen man ihn an die Ränder Europas erfolgreich outgesourct und so unsichtbar und scheinbar unerfahrbar gemacht hat.
Kathrin Röggla spricht/schreibt furios, engagiert, grübelnd, wach; umfassend informiert, setzt sie sich mit den gängigen Theatermachern und ihren Ansätzen und Ritualen auseinander und prüft, wie sie das Material für ihre eigene künstlerische Arbeit nutzen kann.
P.S. Rögglas schönste Wortschöpfung ist der “Quotenhirsel”, die Übertragung des bayrisch-österreichischen “Hiasl” ins Hochdeutsche. Kathrin Röggla lebt ja in Berlin.
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Jens Berger: Der Kick des Geldes oder
Wie unser Fußball verkauft wird
2015
Jens Berger kommt zum Ergebnis, dass „knallharte Wirtschaftsinteressen“ „unseren Lieblingssport kaputt“machen und beschreibt das anschaulich und gut lesbar in den wichtigen Aspekten. Laut Inhaltsverzeichnis:
Elf Renditefaktoren sollt Ihr sein! – Big Business Fußball
Elf Gehaltsmillionäre sollt Ihr sein! – Gehälter und Ablösen im Profifußball
Elf Maskottchen sollt Ihr sein! – Wie Sponsoren und Ausrüster den Fußball instrumentalisieren
Elf TV-Junkies sollt Ihr sein! – Das große Geschäft mit den Übertragungsrechten
Elf Anteilseigner sollt Ihr sein! – Wem gehört die Bundesliga?
Elf Subventionsempfänger sollt hr sein! – Wie das Milliardengeschäft Fußball vom Steuerzahler subventioniert wird
Elf Funktionäre sollt Ihr sein! – Macht, Geld und Korruption bei den Verbänden
Man liest nichts, was man nicht schon gewusst oder geahnt hätte, aber kaum in solch breiter Sammlung gefunden hat. Jens Berger ist Redakteur der NachDenkSeiten und hat seit 2007 sein Blog „der spiegelfechter“. Er will niemand „den Fußball“ miesmachen und so heißt sein letztes Kapitel:
Elf Freunde sollt Ihr sein! – So holen wir uns den Fußball zurück
P.S. Im Schwarzbuch 2015 des Steuerzahlerbundes ist auf Platz 6 der Top Ten zu lesen: Das neue Regensburger Fußballstadion ist ein millionenteures Prestigeprojekt zu Lasten der Steuerzahler.
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Christian Nürnberger:
Die verkaufte Demokratie
2015
Christian Nürnberger ist Journalist (ich habe gute Artikel von ihm im SZ-Magazin gelesen) und verhinderter SPD-Bundestagsabgeordneter. Sein Buch teilt sich auf in eine vehemente Klage über den Zustand der Welt und in einen trotzig optimistischen Teil: Wir ändern das. Das Lamento ist für einen Sozialdemokraten ertaunlich deutlich, vielleicht ein Grund, weshalb ihn seine mittelfränkischen Genossen nicht im Bundestag sehen wollten, die vorgestellten Alternativen sind der interessantere Teil des Buches. Vieles von dem, was Nürnberger zusammenträgt, hat man auch schon woanders gelesen, vieles erscheint mir etwas realitätsfremd, aber das weiß auch Nürnberger und setzt dem ein ‚umso wichtiger‘ entgegen.
Ich hätte dieses Buch niemals geschrieben, wenn ich ohne Hoffnung wäre. Was mir Hoffnung macht, sind ganz verschiedene und zahlreiche Dinge, Entwicklungen, Gedanken, Tatsachen, einzelne Menschen und Gruppen. (…)Die Handlungsanleitung dazu fehlt. Das handelnde Subjekt existiert immerhin schon theoretisch. Wer es ist, ergibt sich aus der Logik des bisher Gesagten: das Volk selbst, also wir. Wir, die Bürger, sind es, die jetzt ranmüssen. Es ist wie in einem Unternehmen, in dem ein Geschäftsführer nach dem anderen versagt und gefeuert wird. Am Ende muss der Eigentümer selbst sein Unternehmen wieder zum Erfolg führen.
Wir sind der Souverän. Wir sind die Eigentümer Deutschlands und Europas. Wir bestimmen, wie hier gelebt und gearbeitet wird. Alle Macht geht vom Volke aus – so war es ursprünglich einmal gedacht, so ist es nicht mehr, und damit es wieder so wird, müssen wir die uns entwundene Macht zurückerobern. (…)Auch wenn das, was man tut, oft als vergeblich erscheint und man seine Ziele scheinbar nie erreicht, sollte man nie resignieren. Es könnte sein, dass viele andere, von denen man gar nichts weiß, zur selben Zeit an unterschiedlichsten Orten scheinbar genauso vergeblich für die gleichen oder ähnliche Ziele arbeiten oder schon zu einem früheren Zeitpunkt wichtige Vorarbeiten geleistet haben – und plötzlich, völlig unerwartet, geschieht’s, fließen die vielen Einzelkräfte wie von Geisterhand gelenkt zusammen, bündeln sich, verstärken einander und bringen das Neue hervor.
Das Neue findet Nürnberger zunächst im regionalen Bereich, auf der Hersbrucker Alb:
Die Familie Klischewski mit ihren 24 glücklichen Kühen ist so ein strategisch wichtiges Glied für die Rückholung von Land und Heimat. Ihr Hof liegt in der Hersbrucker Alb im Kreis Nürnberger Land, in Hartenstein, zwischen der Stadt Hersbruck und der Fränkischen Schweiz, wurde 1983 von den Eltern geerbt und ab 1989 auf Öko umgestellt, weil sie, wie Hans Klischewski und seine Frau Erika sagen, »besser wirtschaften, die Böden schonen und gesündere Nahrung erzeugen« wollten. “Heimat auf’m Teller” nennt sich diese Initiative, die auch auf gemeinsame Vermarktung und Belieferung etwa von Gasthäusern setzt.
Die Macht der Banken brechen – das können nur wir – Macht euren Zorn zu Strom – Heimatverteidigung: Hier nicht, Mr. Amazonas! – Sogar Google ist verwundbar – Digital native oder digital naiv? – Wie wir Facebook schlagen können. Das sind weitere Kapitelüberschriften, die den Horizont auf die Welt und die Demokratie erweitern.
Christian Nürnberger hat sich seinen Frust aus dem Kopf geschrieben und macht sich mit seinem Buch Mut. Er hofft, dass ein bisschen davon auch auf den Leser überspringt.
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Andreas Englhart:
Das Theater der Gegenwart
2013
Die Welt steckt in der Krise und kann sie nicht beschreiben, weil alle Akteure Teil der Krise und somit zu tief im Schlamassel gefangen sind. Das Theater ist Teil der Welt und steckt in der Krise, die Akteure spielen die Krise nach, ohne sie zu verstehen. Es werden keine Konflikte mehr ausgetragen, kaum noch Handlungen angetrieben. Die Krise streut und auch das muss die Bühne aushalten.
Andreas Englhart lässt das Gegenwartstheater in den 1960er Jahren beginnen und versucht von dort aus einen bunten Faden zu spinnen. Bis zum „politischen Theater in den 1970er Jahren kann das gelingen, dann schlägt die Postmoderne ein und sprengt alle Theorien, die Referenzen beziehen sich bald nur noch auf sich selbst. Postdramatik, Pollesch, Reenactment, Jelinek, Hartmann, Textflächen, Dekonstruktion, postironisches Theater, Personen und Konzepte schießen Kobolz, keiner weiß mehr.
Englhart legt Linien, für Gewissheiten ist die Gegenwart noch zu nah, nur im Abstand des Rückblicks könnte die Abstraktion gelingen, wohl auch manches aussondern. Je näher Englhart dem Jetzt rückt, desto schwieriger, desto schwammiger werden Sätze und Begriffe.
Eine andere Form des Diskurstheaters erarbeitete Pollesch, von 2001 bis 2007 künstlerischer Leiter des Praters der Berliner Volksbühne. Seine stilistisch mit außerordentlich hohem Wiedererkennungswert versehenen Inszenierungen produzierte er auch an vielen anderen Häusern quer durch den deutschsprachigen Raum gemeinsam mit den Schauspielern, deren Situation und Anregungen er direkt vor Ort in den entstehenden Theatertext hineinschrieb. Mit dem eigenwilligen Produktionsverfahren ist die Annahme der Intertextualität der Kultur verbunden: Text oder Sprache seien dialogisch und zitierend zu verstehen, sie stünden immer in Bezügen zu anderen und fremden Texten, Intentionen und Bedeutungszuweisungen. Auf dieser Basis radikalisierte die Literaturwissenschaftlerin Julia Kristeva die Thesen Michail Bachtins und ging von einer dialogischen Relation aller Texte untereinander in dem Sinne aus, dass tatsächlich jeder Text Integration und Transformation anderer Texte sei. Für den Theatertext der Gegenwart bedeutete dies, dass der die Gattung Drama bestimmende Dialog, der auf Intersubjektivität aufbaut, zum Dialog von Texten wurde. Der Autor stand dann nicht souverän <daneben> oder <darüber>, sondern verschwand im Text bzw. war in den Text eingeschrieben, etwa Jelinek in Die Straße. Die Stadt. Der Überfall (2012). Noch weit mehr als Jelineks Theatertexte gehören Polleschs Arbeitenn zum Diskurstheater, obwohl Castorf den Begriff kritisierte, denn das Theater sei kein Seminarraum der Universität, sondern ein sinnliches Ereignis. Beides bringt Pollesch aber gleichberechtigt zusammen, erzählt werden bei ihm keine Geschichten von speziellen Lebenssituationen, zu sehen ist vielmehr die Darstellung eines Theorieapparates, welcher auf das Leben jedes einzelnen Zeitgenossen angewendet werden könnte. Als getriebene Akteure in einer globalisierten Mediengesellschaft mit ständig zunehmendem Austausch an kulturellem Kapital sind die Figuren/Schauspieler grundsätzlich in Bewegung.
Englhart hat für alle Thesen Beispiele, deren Relevanz ich aber nicht überprüfen kann – obwohl ich etwa Jelineks „Stück“ in den Münchner Kammerspielen gesehen habe. Es hängt wohl doch von den Personen ab, Autoren, Spielmachern, Ensembles, ob ein Theaterabend gelingt, etwas von der Welt vermittelt, und wenn’s die Krise ist.
Ohne Zweifel untergraben Entdramatisierungen die mit dem Wissen verbundene Macht über Andere, die unabänderlichen Essentialismen und Metaphysiken der Substanz. Aber genügen Performanzen der De-Konstruktion wirklich, um gegenwärtigen Problemen auf Augenhöhe zu begegnen?
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Marco Maurer: Du bleibst was du bist
2015
Marco Maurer hat 2013 einen Artikel in der ZEIT veröffentlicht: Ich Arbeiterkind. Die Resonanz war beachtlich und lenkte Maurer noch intensiver auf das Thema, warum in Deutscland noch immer die soziale Herkunft über die Bildungs- und Berufschancen entscheidet. Maurer kennt die Zahlen, will sie aber nicht in Text oder Anhängen wiederholen, er schreibt journalistisch, feuilletonistisch, persönlich. Seine Erfahrungen und Misserfolge als Kind ‚bildungsferner’ Eltern bilden die Grundlage seiner Neugier auf die Mechanismen des Bildungssystems. Er besucht Experten aus Wissenschaft, Kunst und Politik, spricht mit Bahnchef Rüdiger Grube, Cem Özdemir, dem eher unnahbaren Frank-Walter Steinmeier, fragt sie nach ihrer Bildungslaufbahn als Aufsteigerkinder, die mit Unverständnis, finanziellen Schweirigkeiten, mangelnder blidungs-bürgerlicher Vernetzung zu kämpfen hatten. Er sucht auch nach sozial begründeten Eigenheiten, etwa ausgeprägteren sozialen Kompetenzen, Handeln in flacheren Hierarchien, dem Bewusstsein für die Defizite des deutschen Bildungssystems. Er fährt nach Finnland, dem „Gelobten Land“, und ist von den dortigen Entwicklungen begeistert. Er erzählt auch von Bekannten und Freund_inn_en und ihren Einstellungen, er findet Einzelkäpfer, die sich ganz individuell für Benachteiligte einsetzen.
Maurers Buch ist ein persönliches Plädoyer für eine gründlich reformierte Bildungspolitik, ohne große Hoffnung, aber doch angespornt von erfolgreichen Aufsteigern. Eine interessante Ergänzung zu den sporadisch auftauchenden Medienberichten. Der Reportage-Stil führt zu Wiederholungen, es werden Veröffentlichungen zu einem 380-seitigen Buch zusammengestellt, das durch seinen Umfang auch an Prägnanz verliert. Das Buch wurde rezipiert, helfen wird’s nichts.
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Jörg Kronauer: »Ukraine über alles! « – Ein Expansionsprojekt des Westens
2014
Die Verhältnisse in der Ukraine sind unübersichtlich und komplizieren sich eher als dass eine Lösung in Sicht wäre. Jörg Kronauer zeichnet den Weg von der Staatwerdung 1991 bis zum Herbst 2014 detailliert nach und stützt sich dabei auf vielerlei Quellen. Er kondensiert die Rolle der EU und vor allem Deutschlands bei der abgründigen Entwicklung heraus, die in großen Teilen aus dem Ruder gelaufene Ukraine bezeichnet er als “Expansionsprojekt des Westens”. Die versuchte und bisher gescheiterte Anbindung der Ukraine an EU und NATO mit lediglich marginaler Berücksichtigung Russlands habe zum Anwachsen des ukrainischen Nationalismus geführt, der Westen habe die Kontrolle über die nationalistischen bis faschistischen Kräfte verloren, die er meinte für die Opposition gegen die Janukowitsch-Regierung instrumentalisieren zu können. Schon auf dem “Majdan” haben die Milizen begonnen, die Bewegung zu majorisieren, sich zunehmend zu bewaffnen und sie haben zuletzt auch verstärkt politischen Einfluss gewonnen, indem sie hre Kandidaten auf scheinbar demokratischen Listen platzieren konnten. “Von dem immer stärker nationalistisch aufgeheizten Klima profitiert hat vor allem die neue Partei »Volksfront« (Narodnij Front) von Arsenij Jazenjuk. Jazenjuk hat eine ganze Reihe prominenter Nationalisten auf der Liste seiner Partei kandidieren lassen, um das ultrarechte Wählerspektrum anzuziehen.” Auch die “mediale Öffentlichkeit hat sich endgültig für Faschisten geöffnet”.
Der Rechtsrutsch in der Ukraine, gefördert zunächst vom Präsidenten der »Orangenen Revolution«, Wiktor Juschtschenko, dann ab spätestens 2012 von der damaligen prowestlichen Opposition, verstärkt durch die Majdan-Proteste und zuletzt durch den Bürgerkrieg im Osten des Landes intensiviert – dieser Rechtsrutsch wird kaum ohne Folgen bleiben, nicht nur innen-, sondern auch außenpolitisch.
Die ukrainischen Kooperationspartner des Westens, über die Jahre hin systematisch gestärkt, um die Ukraine in die westliche Hegemonialsphäre hinüberzuziehen, drohen aus dem Ruder zu laufen. Das wäre nichts Neues. Dass man aus machtpolitischen Erwägungen Kräfte stärkt, die dann eine nicht mehr kontrollierbare Eigendynamik entwikkeln, ist inzwischen – von Afghanistan über Libyen bis Syrien – geradezu ein Markenzeichen westlicher Weltpolitik geworden.
Nachtrag 2015: Im Juni berichtet der Deutschlandfunk: Mit einem neuen Gesetz will die Ukraine kommunistische Propaganda unterbinden. Darauf, den „kriminellen Charakter“ des kommunistischen Regimes der Sowjetunion zwischen 1917 und 1991 zu leugnen, drohen harte Strafen. Und auch die kommunistische Partei wird verboten.
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