Nachrichten vom Höllenhund


Gundar-Goshen
18. Juli 2015, 16:37
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Ayelet Gundar-Goshen: Löwen wecken

loewenweckenEtan Grien, Arzt in Beer Sheva, der staubigen Stadt am Rand der Wüste, fährt nach einem anstrengenden Schichtdienst übermüdet heim, nachts, bei Mondlicht. Er macht einen Umweg, um zu entspannen, hört Janis Joplin im Auto, denkt an seine Frau und seine Familie – und fährt einen Mann um.

Und er dachte sich gerade, dies sei der schönste Mond, den er je gesehen habe, als er diesen Mann umfuhr. Und als er ihn umfuhr, dachte er im ersten Moment immer noch an den Mond, dachte weiter an den Mond und hörte dann mit einem Schlag auf, als hätte man eine Kerze ausgeblasen. … Es war ein Eritreer. Oder ein Sudaner. Oder weiß Gott was. Ein Mann von dreißig, vielleicht vierzig Jahren, er konnte das Alter dieser Menschen nie gut schätzen.

Etan Grien ist „kein Rassist“, vielleicht ein Zyniker, er fährt weiter, lässt den Mann liegen, benachrichtigt nicht die Polizei. Es lässt sich nichts mehr rückgängig machen, nichts mehr gut machen. Etan Grien sagt nichts seiner Frau.

Das Leben des Arztes hat sich mit einem Schlag völlig verändert. Er muss mit seiner Schuld leben, allein, bis ihn eine Frau aufhält, anspricht. Sie hat den Unfall beobachtet, sie ist die Frau des getöteten Eritreers. Sirkit. Eine bestimmende Frau. Sie will schweigen, wenn Etan Grien in einer Werkstatt kranke und verletzte Flüchtlinge behandelt, Illegale, die nicht ins Krankenhaus können. Grien lässt sich darauf ein, fährt jede Nacht in die Werkstatt, lügt seiner Frau von Notdiensten und Überstunden vor, riskiert Beruf und Familie, hilft den „Beduinen“, Eritreern, Sudanesen.

Ayelet Gundar-Goshen nimmt sich – und dem Leser- viel Zeit. Sie „stöbert“ in den Menschen, hat selbst Psychologie studiert, kennt sich in der Medizin und mit Krankheiten aus.

Jetzt neigte er den Kaffeebecher und betrachtete den Satz. Schwarz und dick, wie gestern. Wie die Vögel und die Spinnen und die Sonnenstrahlen sahen offenbar auch die Kaffeebrösel keinen Grund, von ihrer Gewohnheit abzuweichen, nur weil er in der Nacht einen Menschen überrollt hatte und weitergefahren war. Habituation. Die Gesichtszüge des Eritreers wurden matter in seinem Kopf, wie ein schlechter Traum, dessen Bilder im Lauf des Tages verblassten, bis nichts mehr von ihnen übrig blieb als ein vages Gefühl des Unbehagens. Es gibt Schlimmeres als Unbehagen, sagte er sich, Menschen leben ein ganzes Leben lang mit dem einen oder anderen Maß an Unbehagen. Dieser Satz fühlte sich so richtig an, dass er ihn noch ein paarmal im Geist wiederholte, dermaßen konzentriert auf die befreiende neue Erkenntnis, dass er das Klopfen an der Tür zuerst gar nicht hörte.

Klar war da auch die Schuld. Seit jener Nacht fand er keinen Schlaf mehr. Vergebens suchte er ihn mit Wälzen im Bett, mit einer halben Lorivan-Tablette. Der Tote hing ihm am Hals und ließ nicht locker. Kniff ihn, sobald er einschlafen wollte. Nur in der Autowerkstatt ließ er von ihm ab. Machte der Pilgerkolonne Platz. Magere, schwarze Gesichter, die Etan kaum unterscheiden konnte. Vielleicht auch nicht zu unterscheiden versuchte. Jedes Gesicht glich dem vorigen und dem davor, im endlosen Rückwärtsgang, bis zu dem Gesicht jenes Patienten, des ersten. Bis zu dem mageren, schwarzen Gesicht des Mannes, den er getötet hatte.
Er kann diese Gesichter nicht mehr sehen. Kann den Gestank der entzündeten, dünnscheißenden, gebrochenen Körper nicht mehr ertragen. Arme Beine Achselhöhlen Bäuche Lenden Nägel Nasenlöcher Zähne Zungen Eiterbeulen Geschwülste Pusteln Ausschläge Reizungen Schnitte Brüche Infektionen Verkrüppelungen, nacheinander und manchmal zusammen, schwarze Augen danken schwanken wanken rein und raus, präsentieren ihre schwarzen Leiber mit einer Kapitulationsurkunde, einer Anklageschrift vor Dr. Etan Grien, der nicht mehr kann, es einfach nicht mehr aushält mit den Gliedern dieser Menschen, der versinkt in diesem dunklen Meer von Armen Beinen Mund aufmachen lass mich hier anfassen tut das weh und wenn ich hier drücke wie schmerzt es dann, ertrinkt in dieser Menschenflut, die ihn zu verschlingen droht.

Ayelet Gundar-Goshen ist immer wieder dabei, sich in den Wirrungen der Menschen festzuschreiben, nimmt neue Anläufe, erkennt die Nuancen, wirft Lichter in die Kindheit von Etan und seiner Frau Liat, beoachtet die schleichende Entfremdung, Liat ahnt, dass etwas nicht stimmt, erfährt Details aus ihrer Arbeit als Polizeikommissarin, wird gerade mit der Ermittlung dieser Fahrerflucht betraut. Zwischen Etan und Sirkit entspinnt sich eine uneingestandene Zuneigung, es knistert. Auf der Straße würde er eine solche Frau nicht ansehen, sähe sie für ihn aus wie alle anderen Flüchtlinge. Ayelet Gundar-Goshen verhilft ihr zu einer Identität, macht sie zum Menschen.

Und tatsächlich sieht Sirkit Etan mit vorwurfsvollen Augen an. Nicht nur, wieso warst du verschwunden, sondern auch, wieso hast du dich verändert, obwohl die Veränderungen so klein sind, dass man sie gar nicht in Worte fassen, nur spüren kann. Und neben dem Vorwurf erwacht auch die Neugier, denn wer ist der Mann da am Steuer, und warum sieht er anders aus als der Mann in ihrer Erinnerung. Und zwischen dem Vorwurf und der Neugier schlüpft, für den Bruchteil einer Sekunde, die Frage herein, ob sie für ihn genauso anders ist wie er für sie. Was er gedacht hat, als er sie erblickte. Obwohl sie es eigentlich weiß. Sie hat es an seinem Gesicht abgelesen, ob nun vertraut oder nicht: Zuerst war er erschrocken. Dann verärgert. (Und dazwischen, für einen kurzen Moment, der vielleicht seinen und ihren Augen entgangen ist, war er froh.)

Lauter interessante Perspektiven und Konstrukte, doch die Autorin kommt nicht voran. Sie wechselt zu Etan, zu Liat, zu Sirkit, alle haben ihre Probleme. Was die Spannung hält, ist die Frage nach der Katastrophe: Was geschieht, wenn Etan nicht mehr umhin kommt, seine Tat zu gestehen? Doch genau dieser Frage geht Ayelet Gundar-Goshen aus dem Weg. Liat rückt an den Rand, worauf man lange Seiten gewartet hat, ist nicht mehr von Belang. Das feine pyschologische Netz weicht einer Drogenschmuggelgeschichte, findet darin einen Showdown. (Und soll gerade verfilmt werden.)

Wie war er denn bloß in dieses finstere und bizarre Wunderland geraten, in dem es schon drei tote Männer und ein blaues Baby gab. Zwei dieser Menschen hatte er selbst umgebracht, den ersten aus Versehen, den zweiten mit Absicht, und dazwischen waren angeschossene, verletzte, blutende Eritreer gewesen und Pistolen und Messer und eine verlorene Drogenlieferung. Und all das im Schein eines riesigen, weißen Mondes, der vielleicht gar kein Mond war, sondern sein Heimatstern, die Kugel, von der aus er in diese Horrorgeschichte entführt worden war.

Das Pathos wird zum Selbstzweck, zum gut gemeinten Szenario der unglücklichen und hartherzigen israelischen Flüchtlingspolitik, die Menschen zu “Infiltranten” definiert.

2014                 425 Seiten

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