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Thomas Raab: Still
In den Kellern wohnt das Grauen. Das ist schon Österreich-Klischee und Thomas Raab bestückt seinen Provinzstadt-Keller mit einem kleinen Monster: Karl Heidemann. Karls Spezialität ist ein durchdringendes Gehör, er kann nicht nur hören, was die Leute reden, sondern auch an ihrem Schritt erkennen, wer und wie sie sind. Alles wird ihm zum Lärm, er kann ihm nicht entkommen, aber sich zumindest ins hinterste Eck verziehen, den Kontakt mit den Eltern ebenso vermeiden wie eigenes Sprechen und sich zum Schutz vor den Bedrängungen einen Panzer anfressen. Er wird zum „Sammelsurium menschlicher Mutationen”.
Er hörte den Flügelschlag eines Schmetterlings, hörte das Rauschen der Wipfel des weit entfernt gelegenen Waldes, hörte eine Blindschleiche durchs Gras gleiten, er hörte zwar keinen fremden Gedanken, aber er hörte den Atem und das Pulsieren des Blutes, deren Zusammenspiel oft mehr verrät als jedes Wort. Wie jedes ungeborene Kind hörte auch Karl im Fruchtwasser das Gurgeln, Gluckern der mütterlichen Magen- und Darmgeräusche, den mütterlichen Herzschlag, die mütterliche Stimme, nur für ihn war diese Stimme ein messerscharfes, schneidendes Eindringen, dieser Herzschlag ein nicht enden wollendes Donnern, das Strömen des mütterlichen Blutes ein reißender Sturzbach, jedes Aufsetzen ihrer festen Schritte ein dröhnendes Hämmern.
Oskar Matzerath stürzt (sich) in den Keller, bleibt ein Zwerg und entwickelt die Fähigkeit, Glas zu zersingen und auf die Trommel zu hauen, wenn ihm die Mitmenschen bigott und pharisäerisch erscheinen, Karl Heidemann begegnet der geheuchelten Zuwendung deutlich radikaler: Er mordet. Das erste Opfer ist seine Mutter, er elaboriert seine Techniken und die Liste der Opfer wird länger, im Ort und in der Welt draußen. Keiner kommt ihm auf die Schliche, die Chronik nimmt ihren Lauf.
Man denkt an „verwandte“ Monster: Jean-Baptiste Grenouille, den Geruchlosen, doch der mordet, um seinen Geruchssinn und sein „Parfum“ zu vervollkommnen, man denkt an Johannes Elias Alder, „Schlafes Bruder“, ähnlich savant autistisch wie Karl, doch Raabs Chronik schlägt andere Wege und Mittel ein.
Karl Heidemann verlässt seinen Keller, noch immer verfettet, und wandert durch die Welt, zumindest die kleine, hält sich in Nischen und Maisfeldern „mannshoch das Meer aus Sonnenblumen über ihm. Und als sich die gelben Köpfe, wie zum Gebet ihrer Gottheit zugewandt, andächtig von Osten gen Westen neigten, schlief er immer noch”. Er kommt aber dennoch bis in ein italienisches Kloster, wo er seine „Erweckung“ erlebt. Die Morde dienen nicht mehr der Beseitigung scheinheiliger Geräusche, sondern der „Erlösung“ der Menschen von Todesqualen. Der Mord als Sterbehilfe. „Der Tod war alles, nur keine Beraubung. Der Tod war die Befreiung der engstirnigen, an das Leben anderer gebundenen Anhaftung.” Horst Schubert ermittelt, damit der Roman auch als Krimi gelesen werden kann, doch es fehlt ihm an Nachdruck, spät wird er noch für eine andere Rolle eingesetzt. Eine von Raabs Volten.
Thomas Raab gliedert den Roman in drei große Abschnitte: GLAUBE – LIEBE – HOFFNUNG, die drei göttlichen Tugenden, und unterteilt diese in kurze Kapitel mit betont sachlichen Überschriften: Die Behandlung – Der Vollzug – Die Trennung. „Eine virtuose Komposition“, sagt der Klappentext. Der Schlussatz kündigt jeweils an, dass der Leser sich nicht sicher sein soll: „Karl Heidemann sank auf seltsame Art und Weise zufrieden zurück in den Stuhl, dachte an Paolo Moroder, an seine letzten Worte: »Hol dir dein Mädchen und pass auf sie auf«, und nahm sich vor, genau das zu tun. Und genau das sollte auch passieren, nur gänzlich anders.”
Das ist fruchtbar für die Spannung, die nicht zu den zentralen Merkmalen der Mörderstory zählt. – Karl Heide(!)mann wandert in der transhumanen Welt, aufwärts geht sein Weg, symbolhaft, über die Baumgrenze, ins Gebirg. 1999, Raab bindet die Handlung in die Zeit, allerdings nur, weil da die große Sonnenfinsternis (!) statthat, und Karl nutzt den Rummel der hohlen Sternengucker, um einige von ihnen zu beseitigen und seine Welt ein wenig erträglicher zu machen. Wie zu vieles ist auch dieser Akt ein Opfer der Dramaturgie, nach wenigen Seiten vergessen. Horst Schubert hält sich zurück.
Der Roman wird zunehmend metaphysisch. Biblisch. Keine politische Parabel wie Grass’ „Blechtrommel“, keine säkulare Eucharistie wie im „Parfüm“, sondern pseudoreligiös, ja, schwulstig. Das wird gern gelesen und gekauft. Das Schwülstige rührt nicht zuletzt vom Stil, der sich als Bumerang erweist, den Ernst des Leidens und Mordens unterläuft.
Auch Karl trat ein Weilchen später zur Tür hinaus, wie sonst auch anwesend und verschwunden zugleich. Erfüllt war er von Tatendrang, von tiefem Mitgefühl. Hoch standen die Felder, hoch genug, um sich jedem Blick zu entziehen. Fest stand sein Entschluss, Gutes tun zu wollen. Nun galt es, ihn umzusetzen. Der richtige Augenblick würde sich zeigen. Und los, Richtung Weiher, erstmals bei Tag, ein großes, leeres Gurkenglas in Händen, zwei Messer in seinem Hosenbund. Leben, das Trost sucht und Erlösung finden soll. Erlösung wie nun auch der Himmel. Wie damals Regen, schwallartig. Regen, so stark, als würde er jeden letzten Zweifel wegwaschen wollen.
Der Ton ist so hoch angesetzt, dass ich mich frage, ob er das Gesagte stützt oder doch eher bemäntelt. Die kurzen elliptischen Sätze verstopft mit tiefsinnigen Wörtern, zusätzlich beladen durch ihre Vereinzelung. Bedrückend. Erdrückend, in ihrer Durchgängigkeit erschlagend. Kitsch, angereichert durch den Ernst des auktorialen Wissens: „Die Vernunft hat viele Gegner. Nicht nur den Hunger, der imstande ist, den Menschen zu waghalsigen, aussichtslosen Taten zu treiben, sondern auch die Sättigung, eine Meisterin der Verführung. Denn nur nach einem drängt die Erfahrung des Befriedigtwerdens: nach Wiederholung. Und Karl Heidemann wollte genau diese.”
Karl Heidemann sank auf seltsame Art und Weise zufrieden zurück in den Stuhl, dachte an Paolo Moroder, an seine letzten Worte: »Hol dir dein Mädchen und pass auf sie auf«, und nahm sich vor, genau das zu tun. Und genau das sollte auch passieren, nur gänzlich anders.
Vielleicht habe ich Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung dieses Schreibens wieder einmal nicht verstanden. Vielleicht störe ich mich einfach zu sehr am metaphysischen Gebrabbel. – „Still!“ ist keine psychologische Studie, kein Krimi, auch kein “Bildungsroman” (Elmar Krekeler, Welt), vielleicht ein Märchen, im Legendenton, mörderisch.
2015 360 Seiten
Leseprobe beim Verlag Droemer Knaur
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