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Ulrich Effenhauser: Alias Toller
Die kommunistische Tschechoslowakei hat nach 1945 frühere SS-Schergen zu verhältnismäßig milden Strafen verurteilt und sie dabei als Spione angeworben, die in der BRD als Abhörspezialisten arbeiten sollten. Einer der SS-Männer, Werner Tutter, übermittelte bis 1974 geheime Informationen aus der NATO-Abhöranlage Hoher Bogen im Bayerischen Wald an den tschechischen Geheimdienst. 2001 wurden in Prag zwei tschechische Funktionäre wegen Strafvereitlung verurteilt, dabei wurde auch die Geschichte der SS-Leute öffentlich. In seiner Heimatstadt Kötzting gehörte Tutter für die CSU fünf Jahre dem Stadtrat an, war Mitglied des evangelischen Kirchenvorstandes, Vorsitzender der Ortsgruppe der Sudetendeutschen Landsmannschaft und Leiter der örtlichen Volkshochschule. Wegen seines vielfältigen gesellschaftlichen Engagements war Tutter ein geachteter Bürger von Kötzting und wurde 1983 unter großer öffentlicher Anteilnahme beigesetzt. (wikipedia)
Der Kötztinger Lehrer und Schriftsteller Ulrich Effenhauser ist auf diese anrüchigen Machenschaften gestoßen und hat sie zu einem Roman verarbeitet. Tutter wird dabei zu Lotter (Deckname: Toller), die Story folgt den historischen Fakten, benutzt diese aber für eine fiktive Krimi-Handlung.
Der Musiklehrer Dr. Gutleb ist ermordet worden. Ein RAF-Bekennerschreiben erweist sich als Fake, lenkt die Ermittlungen aber doch in die politische Spur. Theodor Kolnik, Leiter der Mordkommission, übergibt den Fall an seinen jungen Assistenten Alwin Heller und fährt überraschend nach Prag. Dort wird er erschossen und Heller engagiert sich über seinen dienstlichen Auftrag hinaus in die Aufklärung. Effenhauser kennt die Regeln des Genres und stellt Heller eine junge Kunststudentin zur Seite, die ihrerseits an den Hintergründen interesssiert ist, Charlotte, die Tochter des getöteten Kolnik. Es stellt sich heraus, dass Kolnik wie auch Gutleb an SS-Gräueln in Böhmen beteiligt waren und sich in der BRD eine falsche Identität zugelegt haben.
Die Ermittlungen führen von Regensburg nach Kötzting, in die Abhörstation auf dem Hohen Bogen, nach Prag und schließlich sogar nach Rom. Als die Ergebnisse zu konkret werden, wird Heller versetzt. Erst 2008 wird der Fall neu aufgerollt und stößt – in Kötzting – auf einiges Interesse. Effenhauser erwähnt auch den Namen Hanns Martin Schleyer, ebenfalls SS-Mann in Prag, doch spielt dieser im Roman keine Rolle.
Geschickt versteht es Effenhauser, aus den unübersichtlichen Tatsachen mit den genre-üblichen Ingredienzen einen Roman zu schmieden. Alwin Heller ist – obwohl sein Vater glühender Nazi war (daher seine Initialen!) – ein aufrechter Ermittler, bedacht, beflissen, erotisch merkwürdig schüchtern Charlotte gegenüber, die dem Geschehen ein kleines Funkeln verleiht. Mord, explodierende Autos, Intrigen, dunkle Keller, alles da. Die Schauplätze sind lokal fixiert und exakt beschrieben.
Darüber verlief ein Brückengang, der die Philosophische Fakultät mit dem Audimax verband.
Von dort oben hatte man einen wunderbaren Blick auf die Stadt; immer wenn Heller sich ein Buch ausgeliehen hatte, stieg er kurz hinauf, schaute in die Ferne. Dann ging er in den Lesesaal der Historischen Fakultät, suchte sich einen abgelegenen Platz, versank in seiner Kriminalliteratur oder einem Werk über die Weltgeschichte.
Heller mochte die Atmosphäre, er hatte nicht das Gefühl, weniger wert zu sein, weil er nach dem Abitur nur Polizist geworden war. Er mochte die Studenten, er mochte ihre jugendliche Sorglosigkeit und Fröhlichkeit – dabei war er gerade mal ein paar Jahre älter als sie. Aber im Gegensatz zu ihm hatten sie nicht jeden Tag das Böse dieser Welt vor Augen, sie hatten etwas Unschuldiges, etwas Kindliches an sich mit ihren Schlaghosen, den bunten Hemden, den langen Haaren, den großen Sonnenbrillen und den spärlichen Bärten. Die Studentinnen schaute sich Heller immer wieder gerne an.
Nicht alles erscheint mir ganz logisch oder plausibel: Weshalb reagieren Heller und Charlotte nicht darauf, dass ihr Auto offensichtlich und tölpelhaft manipuliert wird, es fliegt erst nach Hunderten von Kilometern in Rom in die Luft? Weshalb müssen sie überhaupt nach Rom? Für eine vorgedachte Verfilmung? Weshalb erpresst Dr. Gutleb Kommissar Kolnik wegen läppischer 20000 DM? Es gibt mehr solcher Dinge, die ich nicht verstehe, was aber auch an meiner ausgeprägten kriminaltechnischen Ignoranz liegen kann.
Effenhauser erzeugt Spannung nicht primär durch die Handlung, sondern durch seinen durchgehaltenen sachlich distanzierten Stil, der insgesamt doch auch recht beschaulich wirkt. Der Autor und sein Ermittler werden nicht von politischem Eifer getrieben, sondern wollen ihre jeweilige Aufgabe lösen.
Heller öffnete ein Fenster. Der Knauf hatte die Form eines Doppeladlers, der Kitt war durchzogen von hundert kleinen Rissen. Unten kurvten ein paar Autos, die Abgase der Zweitaktmotoren stiegen bis zu ihm hinauf. Er machte das Fenster wieder zu. Am liebsten hätte er mit den Ermittlungen auf der Stelle begonnen, doch er war zu müde von der langen Fahrt; wenn er morgen recht früh anfangen würde, wäre alles wieder im Lot. Charlotte Kolnik hatte sich im anderen Zimmer auf das Sofa gelegt.
Ein gelungener Versuch, ein Thema zu literarisieren, dessen Tatsachen bereits bekannt – und auch schon wieder vergessen sind.
2015 175 Seiten
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