Nachrichten vom Höllenhund


Erpenbeck
27. September 2015, 16:01
Filed under: - Belletristik | Schlagwörter:

Jenny Erpenbeck:
Gehen, ging, gegangen

erpenbeckgehenAnfangs hat es mich etwas irritiert, dass Jenny Erpenbeck mir nahelegte, mich dem Helden ihres Romans vertraut zu fühlen, indem sie ihn einfach Richard nannte. Ein pensionierter Altphilologe, ein soignierter Herr, der keinen Familiennamen hat, sondern bloß Richard heißt. Ich begreife aber, dass Richard mir nahesteht, denn er ist mein Avatar, der für mich die Fragen stellt und, was noch wichtiger ist, für mich handelt. Ich kann beim Lesen bleiben, auch wenn die Flüchtlinge vor der Tür stehen.

Gut, dass Richard aus der DDR stammt, so fühlt er sich immer noch ein bisschen fremd im Westen Berlins und er kann sich auch in Fluchtgedanken einfühlen, gut, dass er Altphilologe ist, so weiß er Fäden zu spinnen zu Herodot und auch zu Iphigenie und zu Johann Sebastian Bach und seinen Kantaten und all das hilft Richard zu verstehen und sich dabei als guter Mensch zu fühlen, als Humanist.

Richard liest, und während er liest, verrückt sich für ihn plötzlich auch der griechische Götterhimmel, der doch eigentlich sein Spezialgebiet ist, und er versteht plötzlich neu, was es bedeutet, dass sich für die Griechen das Ende der Welt da befand, wo heute Marokko ist, am Atlasgebirge, dort stemmte Atlas Himmel und Erde auseinander, damit Uranus nicht wieder in Gala hineinstürzt und ihr Gewalt antut. Die Gegenden, die heute Libyen, Tunesien, Algerien heißen, waren in der Antike das Gebiet vor dem Ende der Welt, also die Welt. (…)Die Amazonen, die Athene als erste verehrten, ursprünglich Amazigh genannte kriegerische Berberfrauen, tanzten am Ufer dieses Sees, von dort aus auch zogen sie in den Kampf – und sprachen Tamashek, die gleiche Sprache wie der, den Richard vor einigen Wochen, noch ganz in Verkennung der mythischen Lage, Apoll genannt hat: der Flüchtling aus Zimmer 2019.
Richard liest.

Der emeritierte Professor, der hier an einem Tag so vieles zum ersten Mal hört, als sei er noch einmal ein Kind, begreift nun plötzlich, dass der Oranienplatz nicht nur der Platz ist, den der berühmte Gartenbauarchitekt Lenne im 19. Jahrhundert konzipiert hat, nicht nur der Platz, an dem eine alte Frau täglich ihren Hund ausgeführt, oder ein Mädchen auf einer Parkbank zum ersten Mal ihren Freund geküsst hat. Für einen Jungen, der unter Nomaden aufgewachsen ist, ist der Oranienplatz, den er anderthalb Jahre bewohnt hat, nur eine Station auf einem langen Weg, ein vorläufiger Ort, der zum nächsten vorläufigen Ort führt. Beim Abriss der Hütten, der für den Berliner Innensenator ausschließlich ein Politikum war, hat dieser Junge an sein Leben in der Wüste gedacht.

Richards Frau, Christel, ist vor fünf Jahren gestorben, Kinder sind keine da, eher zum Zeitvertreib streift Richard durch die Stadt und wird vom Flüchtlingscamp am Oranienplatz angezogen. Was ist hier los? Was sind das für Leute? Nach dem Abriss des Camps, „Berlins größtem Zeltplatz“, im März 2014 folgt er den Flüchtlingen in die provisorischen Unterkünfte – und da beginnt der Roman. „Gehen, ging, gegangen“ sind die Chiffren, mit denen die Afrikaner Deutsch lernen, zunächst von einer äthiopischen Aushilfslehrerin, sehr hübsch, Richhard versucht sie zu googeln, Richard kann nützlich werden.

Richard hilft bei Behördengängen, er lässt einen Flüchtling bei sich arbeiten, bringt einem anderen das Klavierspielen nahe, isst mit ihnen, hört vor allem viel zu und erfährt vieles über das Leben – und Sterben – ihrer Familien in Nordafrika.Richard besucht sie in ihren Schlafsälen, kennt sie und ihre Namen, gibt ihnen neue: Apoll, Rufu, „der schwarze Mond von Wismar“. Für die Flüchtlinge ist es wichtig, ihre Geschichte erzählen zu können, bevor sie in die trostlose deutsche Bürokratie eingegliedert werden, hier- und dorthin verschoben.

Von dem Moment an, in dem sie eine Vereinbarung unterzeichnen, muss man sie auch verwalten. Bürokratische Geometrie, diesen Begriff hat er vor einigen Tagen in dem Buch eines Historikers über die Auswirkungen des Kolonialismus gelesen. Die Kolonisierten wurden durch Bürokratie erstickt. Gar nicht der ungeschickteste Weg, sie am politischen Handeln zu hindern. Oder wurden hier nur die guten Deutschen vor den bösen Deutschen beschützt? Das Volk der Dichter beschützt vor der Gefahr, noch einmal das Volk der Mörder zu heißen? Ein Propangaskocher in so einem Zelt auf dem Oranienplatz könne leicht einmal ins Kippen geraten, hatte in einem der anonymen Internet-Kommentare zu einem Zeitungsartikel gestanden, als der Platz noch von den Afrikanern besetzt war. Hatte der Senat also die Afrikaner in Sicherheit gebracht oder vielmehr sich selbst? Im letzteren Fall wäre das, was getan wurde – die wirkliche Unterbringung der Flüchtlinge in einem besseren Quartier – also nur eine Maske. Und was dann dahinter? Welches eigentliche Handeln hinter dem, was man sah? Wer spielte hier wem etwas vor? Richard, wie jeder, könnte natürlich der Mann mit dem Propangaskocher sein. Die Afrikaner wussten bestimmt überhaupt nicht, wer Hitler war, aber dennoch: Nur wenn sie Deutschland jetzt überlebten, hatte Hitler den Krieg wirklich verloren.

Der Roman ist nur vermittelt politisch, er berichtet von der „Verwaltung“, der deutschen Ordnung, dem Zwang zum Nichtstun, zum Warten auf Unbestimmtes, von den fehlenden Perspektiven, den ungewissen Ankündigungen. „Gehen, ging, gegangen“ „krankt auch daran, dass der harte gesellschaftliche Konflikt um die Flüchtlinge ausgeblendet bleibt. Die politische Frage, wie Zuwanderung denn nun zu regeln wäre und was das in der Praxis bedeutet, gerät gar nicht erst nicht in den Blick. (Jörg Magenau, SZ) Der Roman zeigt die Flüchtlinge in Situationen, die ihnen nicht bekannt sind. Sie finden sich alleine in Berlin nicht zurecht, weil sie noch keinen Stadtplan gesehen haben, obwohl sie eine gefährliche Flucht hinter sich haben.

Dann also eben Berlin. Ungewaschen saß er im Flugzeug. Nach der Ankunft sprachen rings um ihn alle die neue fremde Sprache, er verstand nichts mehr, konnte nur nicken. Sah Leute in einen Bus steigen: Fährt der ins Zentrum? Drei Nächte am Alex. Ein Mann sagte ihm, es gebe da einen Platz. Mit Afrikanern wie mir? Dann kann ich mich dort bestimmt endlich waschen. Der Mann kaufte ihm eine Fahrkarte am Automaten. Eine Maschine, aus der ein Fahrschein kommt? Deutschland is beautiful!

Jenny Erpenbeck meint es gut mit mir. Doch infolge der vielen Informationsangebote bin ich dem Wilkommenskulturisten Richard eher voraus, er hat mir zu den Flüchtlingen wenig Neues zu vermitteln. Im Vordergrund ist immer der Gute Richard, doch so nahe er mir steht, so wenig interessiert mich eigentlich seine Geschichte. Dazu kommt, dass Jenny Erpenbeck Richards Erleben und Wissen zu stark im Stil einer Christmas Carol erzählt, immer im Präsens, sodass man live dabei ist, und tatsächlich, es wird Weihnachten …

und dann steht der atheistische Richard, der eine evangelische Mutter gehabt hat, mit seinem muslimischen Gast vor dem illuminierten, heidnischen Weihnachtsbaum, auf den, das war bei Richard und seiner Frau immer die Regel, nur Kerzen aus echtem Wachs aufgesteckt sind. Der Thomaschor singt, die Gänsekeulen sind warmgestellt, die Klöße werden bald aufsteigen und der Rotkohl brodelt, mitsamt Essig und Nelken. Und nun soll sich der Gast, weil Richard sonst kein Geschenk für ihn hat, aus dem Schrank eine Winterjacke aussuchen und probieren, es findet sich eine, die Richard immer zu groß war, aber dem Blitzeschleuderer passt und gefällt. Thank you, 1 really appreciate that. Zum Essen setzen sie sich, weil es praktischer ist, in die Küche: Auch wenn’s nicht ganz so feierlich ist – no, what do you think, 1 like it, it’s nice hexe, very nice! But what about the burning candles an the tree?, sagt Raschid. Keine Angst, die Kerzen gehen von selbst aus, wenn sie heruntergebrannt sind, sagt Richard, als wäre diese Erfindung des Westens für ihn eine vollkommen selbstverständliche Sache. Das Essen scheint Raschid gut zu schmecken, wächst in Nigeria eigentlich Rotkohl?

… und dann erzählt Raschid die Geschichte seiner Flucht übers Mittelmeer:

Drei Tage fuhren wir einfach herum, ohne die Richtung zu wissen. Der Kapitän übersah nachts ein paar Bojen, da schrammte das Boot über Felsen. Der Motor ging kaputt. Panik brach aus.
Zwei Tage schaukelte das Boot wild hin und her. Wir konnten es nicht mehr lenken, und wir hätten auch nicht gewusst, wohin.
Fünf Tage insgesamt ohne Essen und Trinken. Es ging uns allen sehr schlecht. Einige sind gestorben. Und die, die noch lebten, hatten überhaupt keine Kraft mehr. Ich war so schwach. So schwach. Ich hab alles nur noch verschwommen gesehen.

Jenny Erpenbeck meint es gut mit den Flüchtlingen und mit den gebildeten Bürgern und mit mir.

2015         350 Seiten

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Leseprobe beim Knaus Verlag

als pdf-Datei


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