Ralf Rothmann: Im Frühling sterben
Stille rahmt ein, was einfach nicht erzählt werden will. Der Erzähler steht am Grab seiner Eltern und empfindet mit den Schneeflocken ein „stilles Verwehen“, es war „jetzt noch einmal stiller“. Der Vater hat sich zu Lebzeiten gweigert, ihm „sein Leben (zu) skizzieren“, hat ihm nicht „jene Wochen im Frühjahr ’45“ beschrieben. Der Vater will nicht vom Krieg erzählen, doch der Krieg lässt ihn nicht los. Er ist “überdunkelt von seiner Vergangenheit”.
Das Schweigen, das tiefe Verschweigen, besonders wenn es Tote meint, ist letztlich ein Vakuum, das das Leben irgendwann von selbst mit Wahrheit füllt. –
Einmal abgesehen von seiner Taubheit: Es war vollkommen still, weder durch das Fenster, das auf den blühenden Klinikpark hinausging, noch vom Flur drang ein Laut herein; die reguläre Besuchszeit war zu Ende, das Abendessen längst serviert, das Geschirr vor kurzem abgeräumt worden. Die Nachtschwester hatte bereits ihre Runde gemacht, und meine Mutter schüttelte kaum merklich den Kopf und murmelte: »Ah, jetzt ist er wieder im Krieg.«
Der Erzähler schreibt die Geschichte über jenes Frühjar ’45, die die Geschichte seines Vaters sein könnte. Es ist die Geschichte eines 17-Jährigen, der Melker gelernt hat, der die ersten Schritte in Leben und Arbeit und Liebe ausprobiert und dann in den letzten Wochen des Krieges zur SS eingezogen wird, kein Einzelschicksal, er wird nach Ungarn verlegt, zum “Glück” als Melder und nicht an die Front wie sein Freund Fiete. “Im Frühling sterben” ist ein Roman über den Wahnsinn des Krieges, über die gesteigerte Absurdität dieses Wahnsinns, die sichere und von allen erkannte Niederlage durch den Einsatz von Jugendlichen hinauszögern zu wollen, um sich den Wahn nicht eingestehen zu müssen. Die Jugend wird geopfert, auch die der Überlebenden.
Ralf Rothmann erzählt nüchtern von den ins Leere laufenden Anstrengungen, im Chaos eine “Ordnung” zu erhalten, die nur Leid und Tod vermehren kann. Akribisch beschreibt Rothmann das Erleben des Walter Urban, seine Aufträge und Ängste, die Stube und die Landschaft, die Fahrzeuge und die Geräte, die Waffen und die Befehle, die Briefe, die mit der Heimat ausgetauscht werden, mit denen, die man wiederzufinden nur hofft. Mit betont sachlichem Stil, kühl empathisch schildert er die vergeblichen Versuche Walters, Menschlichkeit zu bewahren, seinen Freund zu retten, als dieser wegen Desertion erschossen werden soll. Walter muss sich an der Exekution beteiligen. So ist der Krieg, nicht nur in seiner monströsen Endphase.
Kreisförmig wanderten die Finger über die Brust, rafften das Nachthemd zusammen und glätteten es, wobei er schluckte, und dann sank er aufs Kissen zurück, drehte den Kopf zur Wand und sagte bei geschlossenen Augen: »Die kommen doch immer näher, Mensch! Wenn ich bloß einen Ort für uns wüsste … «
Auch der Vater hat in „jene(n)Wochen im Frühjahr ‚45“ begonnen zu sterben. Ralf Rothmann hat deshalb einen Roman geschrieben, gegen den Krieg, aber doch einen Kriegsroman. Wie nahezu jeder Kriegsroman nimmt auch dieser den Krieg zu ernst, erliegt seinem Vokabular, seinen „Dienstgraden“ und „Waffenbezeichnungen“, lässt sich vom Schrecken gefangennehmen. Rothmann ist nicht bereit, seinem Realismus die Poesie zu entziehen, der Krieg wird konsumierbar.
In der graugrünen Strömung trieben Leichen in deutschen und russischen Uniformen, drehten sich in den Wirbeln, verschwanden unter den Planken und tauchten auf der anderen Seite wieder auf. Einige freilich, starr und aufgequollen, blieben auch hängen und verkeilten sich mit den Nachkommenden zwischen den Fässern und Booten, was die nötige Beweglichkeit der ganzen Konstruktion gefährdete: Sogleich kamen Kinder mit langen Stangen gerannt und stocherten die Schwimmkörper wieder frei. Regen fiel, doch hinter dem Wasserschleier schien die Sonne. Blut in den Gesichtern, lagen Tote auch an der Straße nach Abda, und als er um das Stallgebäude eines Hofes bog, marschierte plötzlich eine lange Reihe ausgemergelter Männer in grauem Drillich vor ihm her. Es waren jüdische Zwangsarbeiter aus den Minen von Bor, wie ihm ein Wachmann auf dem Fahrrad am Ende des Zuges sagte, ein Ungarndeutscher mit einem »Besenstiel« in der Hand, der alten Mauser. »Heim ins Reich bringen wir die. Wer schlappmacht, hat Pech. Verstehe nicht, warum man denen das noch antut.« Die Unterarme auf dem Lenker, spuckte er etwas Tabaksaft aus; zäh tropfte er von der Lampe. »Wieso man sie nicht gleich umlegt, meine ich. Was will man aus den Hungerhaken noch rausholen … Hast du Schnaps?«
An seinem Gürtel hing eine rostige Kneifzange, und Walter verneinte und fuhr langsam an dem Zug vorbei. Die Männer, mit Sackfetzen und Decken behängt, hielten die stoppeligen Köpfe gesenkt und nahmen ihn wohl kaum wahr. In Fußlappen oder auch barfuß um Gleichschritt bemüht, starrten sie apathisch vor sich hin und schraken höchstens zusammen – bei manchen war es nur ein Zucken der Lider -, wenn irgendwo in der endlosen Reihe das seltsam tonlose, fast klatschende Geräusch einer dicht aufgesetzten Pistole erklang. Dann strafften sich die Rücken und alle marschierten wieder etwas schneller.
Die Kritik ist sich einig, dass “Im Frühling sterben” ein gutes und wichtiges Buch ist, uneins ist man darüber, ob Rothmann den Figuren psychologisch nahe genug gekommen ist und ob es eher ein Buch für Jugendliche oder Erwachsene ist.
2015 235 Seiten
Leseprobe beim Suhrkamp Verlag
3SAT-kulturzeit – Gespräch mit Ina Hartwig | Ralf Rothmann liest
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