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Rimini Protokoll (Haug/Wetzel):
ADOLF HITLER: MEIN KAMPF, Band 1&2
Angekündigt ist die Vorstellung als Performance, früher hätte man Revue gesagt, in den Medien heißt so etwas auch Feature. Das klingt zunächst zu unernst für Hitlers Ergüsse. Ist es aber nicht, denn erstens geht es um mehr als „Mein Kampf“, nämlich auch um uns, und zweitens lässt sich das „Manifest“ nur aus der rational-ironisierenden Distanz ertragen und zugleich einordnen als einen Text aus dem öffentlichen Raunen der Anfänge des 20. Jahrhunderts. Der österreichische Historiker Othmar Plöckensteiner – er tritt in einem Video auf – hält Hitler nicht nur in der „schrulligen“ Sprache für unoriginell, dem Zeitgeist verhaftet, sondern auch in seinen Themen „Antisemitismus“, „internationale Finanz- und Leihkapital“, Habsburgische Agonie,“Volk ohne Raum“. Hitlers „Leistung“ sei die Selbstinszenierung, „eine über fast achthundert Seiten sich erstreckende Aufblähung eines Einzelnen zum historisch-politischen Alleswisser und Alleskönner“ (Helmuth Kiesel). Hitler hat in Wien einen Juden gesehen und sofort alles über „die Juden“ gewusst. So erklärt sich in MK die Welt.
Rimini Protokoll tragen viele mögliche Diskussionsthemen zusammen – passend zum Ablauf der Urheberrechte (Freistaat Bayern) und dem bevorstehenden legalen Vertrieb von MK ab Januar 2016. Ist es heute (war es bisher) verboten, MK zu lesen, zu besitzen, zu kaufen, zu verbreiten? Wer hat seit seinem ersten Erscheinen 1925 MK gelesen, gedruckt, verarbeitet? Die Mitspieler stapeln auf den Armen des Weimaraner Buchrestaurators Matthias Hageböck Ausgaben aus allem möglichen Ländern, bis hin zur Manga-Fassung und zum türkischen Best-Of (auf türkisch: hit ler), der blinde Christian Spremberg liest aus einer Ausgabe in Blindenschrift (1933), Sibylla Flügge erzählt, wie sie eine Kurzfassung erstellte und diese ihren Eltern, erklärten Antifaschisten, zu Weihnachten schenkte (1965). Die junge Juristin Anna Gilsbach berät über die Veröffentlichungsfallen; sie spielt auch das Mädchen, dem der Israeli Alon Kraus in Tel Aviv mit seiner hebräischen Ausgabe zu nahe rückt. Wir hören auch Leseproben auf türkisch vom deutsch-türkischen Hiphop-PoetenVolkan T Error, der zugleich für musikalische Untermalungen auf seiner Saz sorgt und Anekdoten aus seinem Werk erzählt.
Der Abend hat keinen Spannungsbogen, ist auch um ein halbe Stunde zu gedehnt, bleibt aber stets informativ und unterhaltsam. Die schwächeren Szenen sind ein paar Ratespiele oder die Frage ins Publikum, ob jemand MK lesen wolle. Am eindringlichsten wirken die persönlichen Rückblicke der Akteure auf eigene Erfahrungen; von den allgemeinen Informationen ist doch einiges bekannt.
Ich habe noch keine Arbeit von Rimini Protokoll gesehen und war auf etwas Zeitgeistigeres eingestellt. Das Material ist ausführlich recherchiert und sogar die Berichte von der Suche erheitern, etwa die Nachfragen in Antiquariaten nach MK. Die Bühne ist mit Stellagen vollgestellt, aus denen man wie in einem Gemischtwarenladen bedient wird. In vielen Klappen und Türen verstecken sich die Fundstücke und zuweilen auch die Akteure. Auch eine Kuckucksuhr will nicht fehlen.Ein seriös-nachdenklicher Theaterabend nmit viel Stoff zum After-Play-Talk mit der beruhigenden Erkenntnis: MK stellt keine Gefahr mehr dar. (Die losen Hass-Gedanken toben aber auch so weiter durchs Land.)
Münchner Kammerspiele – Aufführung am 18. Dezember 2015
Gespräch mit Rmini Protokoll (aspekte) 10 Min.
Trailer vom Kunstfest Weimar 2015
Artikel im Guardian (mit Video) vom 3. November 2015 (englisch)
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