Nachrichten vom Höllenhund


Sinha
23. Dezember 2015, 17:04
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Shumona Sinha: Erschlagt die Armen !

sinhaWie die Autorin Shumona Sinha stammt die Erzählerin des Romans aus Indien; sie lebt in Paris und ist an ihrer Hautfarbe als Migrantin etrkennbar. Als Dolmetscherin in der Asylbehörde steht sie zwischen dem bürokratischen Apparat und den ehemaligen Landsleuten. Zu beiden fühlt sie sich nicht zugehörig; beide erwarten Loyalität zu den Gesetzen bzw. Verständnis für ihr Anliegen, die Anerkennung als Asylberechtigte. Dieses Dilemma reibt die Erzählerin auf, sie hält den Belastungen nicht mehr stand und lässt ihre Wut in der Metro an einem Migranten aus. Sie schlägt ihm eine Flasche über den Kopf und wird festgenommen. Erschlagt die Armen! (Titel eines Gedichts von Charles Baudelaire)

Mit ihrer Zwischenperspektive beleuchtet Shumona Sinha einen besonderen Aspekt der Migration nach Europa. Sie thematisiert den Zustand zwischen Weggehen und erhofftem Ankommen im „gelobten“ Land. Ihr Herkunftsland, das ist das „Land aus Lehm“, und sie werden es auch im glatten Europa nicht los.

Sie trugen ihre Heimat, ihr Vaterland, ihre Religion bei sich. Sie waren verstreute Ländereien einer Nation, die durch sie weiterexistierte, in der Schwebe, wie ein Luftschloss. Ihre unbesiegbaren, uneinnehmbaren, undurchlässigen Schlösser in der Stadt und um die Stadt herum.

Im Apparat der Behörde „kommen die Dolmetscher aus verschiedenen Kontinenten und Ländern zusammen, aber es ist eine falsche, eine trennende, unberechenbare Nähe. Stacheldraht zwischen uns. Niemandsländer zwischen uns. Den anderen zu kennen, wäre genauso riskant wie die Überquerung der Grenzen, Meere und Ozeane. Jeder ist eine Welt für sich. Jeder trägt eine ganze Welt in sich, eine chaotische Welt. Hinter dem Anschein von Ähnlichkeit sind die Bewohner des globalen Dorfs unendlich weit voneinander entfernt, vereint und gleichzeitig so allein. Manchmal laufen wir einander über den Weg. Die Industriellensöhne und die Söhne der Dorfimame, die Doktoranden und die Gemüseverkäufer, die Mitteleuropäerin und die Russin, die Albanerin und der Armenier, der Inder und die Singhalesin, die Bengalin und die Chakma, die Mongolin und der Nepalese, der Kongolese und der Tschader, der Kurde und der Araber, die Türken und die Araber, die Araber und die Pakistaner, alle waten in derselben Langeweile und lauern darauf, an die Reihe zu kommen und ihre Sprachengymnastik zu beginnen.

“Sprachengymnastik” nennt sie die verlangten und für die staatlichen Stellen eingeübten Methoden, sich mit den Lebenswelten auseinanderzusetzen. Die Dolmetscherin muss auf der richtigen Seite stehen, sie muss politisch korrekt handeln und sprechen, obwohl eine solche Korrektheit nicht vorgesehen ist.

Die Dolmetscher aus den ehrgeizigen, im Wandel begriffenen Ländern, aus den nachtragenden Waisen-Ländern haben sich geschworen, nicht die Speichellecker der Länder des Nordens zu werden.

Ich wusste nicht, wie ich es ihm erklären sollte, aber ich versuchte trotzdem, ihm eine langsame Entwicklung verständlich zu machen, die nichts mit familiären oder beruflichen Zwängen zu tun hatte. Ich wollte ihm das versteckte Verlangen erklären, das Verlangen, das in endlosen Stunden des Lesens gewachsen war. Die Blendung. Die Trunkenheit. Bilder eines Lebens, getragen vom Strom einer fremden Sprache. Darin schwimmen und ertrinken. Auch mein Widerstreben gegen alles, das dieses Niveau nicht erreichte, das keine Erleuchtung brachte, das unweigerlich ins geistige Elend abstürzte.

Die Bewerber wollen nur eines: anerkannt werden. Darauf lassen sie sich vorbereiten mit den “Fabeln, die hinter der Bühne, in den Kulissen entstanden”. Doch der “Körper widerlegt das, was die Worte herbeireden. Ich wusste nicht mehr, wo der Körper aufhörte und die Sprache begann.”

Es war, als würden hunderte Männer ein und dieselbe Geschichte erzählen und als wäre die Mythologie zur Wahrheit geworden. Ein einziges Märchen und vielfältige Verbrechen. (…) Ich hörte mir ihre Geschichten aus zerhackten, zerstückelten, hingespuckten, herausgeschleuderten Sätzen an. Die Leute lernten sie auswendig und kotzten sie vor die Computerbildschirme. Menschenrechte enthalten nicht das Recht, dem Elend zu entkommen.

In der genauen Beobachtung und der präzisen Sprache für die Leiden der Menschen auf beiden Seiten – “die Verschmelzung der Zivilisationen” nennt sie „die albtraumhafte Verwirrung“ – liegt das Besondere des nachdenklichen und eindringlichen Romans. Shumona Sinha findet viele Bilder für die Entwurzelungen, auch ihrer eigenen, ihrer „traurigen Wut„. Und sie sieht ihre Rolle als Frau – die arbeitet, was die Männer, mit denen sie konfrontiert ist, nicht verstehen können.

Eleutheria, die Freiheit, beschreibt die Möglichkeit zu gehen, wohin man möchte. Ob Tier oder Mensch, der Wunsch zu gehen, wohin man möchte, ist unveränderlich. Ob Grieche oder nicht, frei ist niemand. Sie waren es nicht, keiner der Männer, die wir in unseren Büros empfingen, war frei. Sie werden es niemals sein. Aber sie werden frei sein zu sagen, was sie zu sagen haben. Sie werden frei sein zu sagen, was sie für ihre Wahrheit halten. Sprechen ist eine Freiheit. Eine magere, aber immerhin.

2011         130 Seiten

Leseprobe bei Edition Nautilus

SWR – Buch der Woche (mit Audio)

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