Nachrichten vom Höllenhund


Haldeman
17. Januar 2016, 14:28
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Charles Haldeman: Der Sonnenwächter

haldeman„Dieses Buch ist eine Sensation“, meint Helmut Böttiger in der SZ. Charles Haldemans „Der Sonnenwächter“ erschien 1963, bis 2015 dauerte es zur deutschen Erstausgabe. Charles Haldeman „wurde 1931 in Pickens, South Carolina, als Sohn Deutscher Auswanderer geboren, studierte Geisteswissenschaften in den USA, diente dann bei der US-Navy, bevor er in Heidelberg sein Studium fortsetzte“. (Klappentext – Metrolit-Verlag)

Hauptperson des Romans ist Stefan Brückmann. Im ersten Teil („Linkes Paneel“) erzählt Brückmann , wie er als Sohn einer Roma-Familie zunächst von Bekannten aufgenommen wird, dann aber doch ins KZ kommt, das er durch einen Zufall überlebt. Nach dem Krieg landet er in einem amerikanischen Lager für „displaced persons“, wo er den GI Moon kennenlernt, der ihn adoptiert und in die USA holt.

Stefan Brückmann kehrt nach einigen Jahren zurück nach Heidelberg (“Rechts Paneel“). Als Student mit Ambitionen zum Schreiben trifft er auf „Kriegsheimkehrer, Schicksalsversehrte, Lagertraumatisierte, Korpsstudenten, Austauschstudenten, Amerikaner, Fräuleins mit grünlackierten Fingernägeln, Funktionsträger mit Entnazifizierungsschein, Studienräte, die dem Alkohol verfallen, Zimmerwirtinnen, die morgens Muckefuck servieren“ (Sammlung: Tobias Döring, FAZ). Wichtigste Kontaktperson ist „der Poet und Verleger Rainer Maria Gerhardt – einer der wenigen, die schon in den späten 40er Jahren in Deutschland begannen, die amerikanische Avantgarde zu entdecken. Er war depressiv und brachte sich mit 28 Jahren um. Er ist heute weitgehend vergessen.“ (Verlags-Info) Im Roman heißt er Paul Speer, nach seinem Tod beginnt Brückmann ein Verhältnis mit seiner Frau Barbara.

Der erste Teil des Buches ist als Tagebuch geschrieben und deshalb betont subjektiv, sprunghaft, mit Reflexionen und Gedankensprengseln,; das Schicksal des Jungen wird lebendig.

Tausende kamen und gingen wie Lüftchen, nicht zu unterscheiden und nicht zu erinnern, Beigaben zu einem Leben auf der untersten physi schen Ebene. Ich hielt mich in fast vollkommener Anonymität unter einhunderttausend Flüchtlingen auf- die sich glichen oder auch nicht, tot, lebend, leidend, jenseits von Leiden -, wie Treibholz aus allen Flüssen Europas gestrandet in diesem großen Fundbüro namens Deutschland: Ein riesiger Endbahnhof mit endlosen Bahnsteigen, auf denen wir fahrkartenlos herumstanden und gedankenlos zusahen, wie ein langer, langer Zug an uns vorbeifuhr ohne anzuhalten, und wir vertraten uns die Füße auf Glas, während von den Stahlträgern über uns die letzten Splitter herunterrieselten, wenn unser Hin-und-Her die Erde erbeben ließ.

Wie oft wurde ich befragt? Ein Papierfaksimile zu meiner Person gewann dabei zunehmend an Umfang – wie mir schien, an die vier Meter lang, ein rechteckiges, aus Wörtern und Fotografien und Fingerabdrücken bestehendes Abbild von mir, das wohl über einhundert Kilo wog. Möglicherweise ein Sarg für die wertlosen, deskriptiven Daten und die Sackgassen von Erinnerung und ruinierter Geschichte, der aus irgendeinem Grund noch darauf bestand, sich selbst Stefan Brückmann zu nennen. (…)

Meine deutschen Arbeitskollegen waren meistens verbittert und apathisch; viele waren verheiratete Kriegsveteranen, und sie beklagten sich über alles – über den miesen Lohn, über die Amis mit ihren Autos und ihren Nachtklubs, darüber, dass sie weiße Bohnen und Kartoffelpulver und salzige Butter essen mussten (»sogar an der Front war das Essen besser«) und dass Polen und Tschechen aus dem Lager mit ihnen arbeiteten – einfach über alles. Irgendwie kam ihnen zu Ohren, dass ich in einem Konzentrationslager gewesen war: Ich würde ihnen doch wohl nicht weismachen wollen, dass all diese Geschichten stimmten? Sie wollten es zwar wissen, aber sie wollten eine negative Antwort. Also gab ich mich so wenig wie möglich mit ihnen ab und ließ sie sich darüber ihren eigenen Kopf zerbrechen.

Die Sprunghaftigkeit wird im zweiten Teil verstärkt durch wechselnde Perspektiven. Tobias Döring, der den ersten Teil für „schwer erträglich“ hielt, entdeckt im zweiten Teil eine „fesselnde … Collage deutscher Nachkriegswirklichkeit“.

Ich lese hier nur die Selbstbespiegelung der Figuren, an denen ich zunehmend mein Interesse verliere, zu fern sind sie mir, zu verstrickt in ihre Beziehungen. Kein Blick auf die Gesellschaft, kein Interesse an Politik, in den Gedanken allein die mäandernden Versuche, an neuer Literatur zu partizipieren. Die Elogen Helmut Böttigers – „fulminanter Debutroman“, „atemberaubend avanciert“, „ein Geniestreich“ – kann ich nicht nachvollziehen. „In diesem Buch tritt einem die Geschichte des 20. Jahrhunderts auf ungeheuer neue Weise vor Augen.“ Vor meine nicht. Ein Buch, das man nicht lesen muss, auch nicht ein halbes Jahrhundert nach seinem Erscheinen.


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