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Karin Leukefeld: Flächenbrand.
Syrien, Irak, die arabische Welt und der Islamische Staat
2015
Karin Leukefeld kennt sich aus im Nahen Osten. Sie ist als ausländische Journalistin in Damaskus akkreditiert und berichtet seit 2000 aus Syrien und den Nachbarstaaten. Sie hat ihre Informationen oft aus ‚erster Hand“ („im Gespräch mit der Autorin“), verfolgt aber natürlich auch akribisch alle Medien und bietet ein detailliertes Bild vom Geschehen der Jahre seit 2011. Kritisch befasst sie sich auch mit der Darstellung des Krisenkomplexes in öffiziösen Verlautbarungen, die oft kurzsichtig und interessengeleitet seien. Auch die Rolle der syrischen Regierung unter Präsident Assad erscheint so nicht einseitig negativ.
Mir als Leser fällt es nicht leicht, die Relevanz einzelner Stellungnahmen, Kriegsereignisse, Verhaftungen in das Gesamtbild einzuordnen. Es entsteht der Eindruck eines globalen wie lokalen engmaschigen Netzes von Interessen, Ideologien, Einflusssphären, welche sich oft kurzfristig und unvorhersehbar ändern.
Im ersten Teil des Buches über die Entwicklung und Lage in Syrien wird die Eskalation des Krieges von 2011 bis 2015 chronologisch nachgezeichnet und die vielschichtige Konfliktlage Syriens beschrieben. Die Wurzeln der innersyrischen Konflikte liegen in der Geschichte der Region, in ihrer Kultur, in der geographischen und geostrategischen Lage zwischen Europa und Asien, Ost und West und in der internationalen jahrhundertelangen Einmischung.
Der zweite Teil beschreibt die Beziehungen Syriens zu seinen Nachbarstaaten seit 2010. Als Knotenpunkt der Region wollte das Land die umliegenden Staaten zum wirtschaftlichen und politischen Nutzen aller verbinden. Die politischen Umbrüche haben die gemeinsamen Interessen der Staaten zerstreut und den Einfluss internationaler Akteure verstärkt. Die Türkei folgte der NATO und eigenen Interessen als Regionalmacht. Irak hat sich seit der US-geführten Invasion 2003 nicht erholt. Jordanien ist eine westliche Militärbasis und der Libanon droht unter den inneren politischen Differenzen zu zerbrechen. Israel nutzt die Lage, um – in Kooperation mit bewaffneten Gruppen – seinen völkerrechtswidrigen Anspruch auf die Golanhöhen zu behaupten, und profitiert davon, dass Syrien und die libanesische Hisbollah in einen Abnutzungskrieg gezwungen werden. Die Auswirkung des Krieges auf die Palästinenser, die nach ihrer Vertreibung aus Palästina 1947/48 und 1967 in Syrien eine Art Heimat gefunden hatten, ist katastrophal.
Bis 2010 „war prognostiziert worden, dass Syrien die fünfstärkste arabische Wirtschaftsmacht sein würde“. Seit 2011 hat sich in yrien und den Nachbarstaaten der „Flächenbrand“ ausgebreitet, der im Land und in der Region nicht mehr gelöscht werden kann, der von wenig durchschauten und durchschaubaren internationalen Maßnahmen eher angefacht wird und der globale Folgen hat: von den Flüchtlingen über die Verbreitung von Terror bis zum Verlust des Einflusses der UN (Sicherheitsrat). Ein Resümee Leukefelds:
»Daesh« – so das im Arabischen benutzte Kürzel der Gruppe, die sich selbst als »Islamischer Staat« bezeichnet – kommt nicht »aus dem Nichts«. Regionale und internationale Sponsoren standen hinter »Daesh«, der offenbar über unerschöpfliche finanzielle Ressourcen verfügt. Diese Sponsoren benutzten die Kämpfer, um die Nationalstaaten zu zerstören, die vor rund hundert Jahren in der Levante gegen den Willen der damaligen Bevölkerung geformt worden waren. Damals ging es um die kolonialen Interessen von Großbritannien und Frankreich, heute geht es um die Sicherung von Rohstoffen für die westliche Welt. Der Zorn der Golfstaaten auf die unabhängige Politik, die in Syrien verteidigt wird, schlug sich nieder in der Bewaffnung und Ausbildung von irregulären Kampfgruppen, die inzwischen von »Daesh« dominiert werden. Der gesellschaftliche Boden, der sie nährt, ist die Armut.
Karin Leukefeld: Über Syrien – Rede auf dem Solidaritätsbasar in Bremen – 26.11.2015
mit weiteren youtube-links
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Frank Schirrmacher:
Ungeheurliche Neuigkeiten.
Texte aus den Jahren 1990 bis 2014. Herausgegeben von Jakob Augstein
Kafka, Franz Kaiser, Joachim Kant, Immanuel Karajan, Herbert von Karlauf, Thomas. Kaufmann, Stefan Kempner, Robert Kempner, Walter Kempowski, Walter Kennedy, John Kerr, Alfred Kershaw, Jan, Kiesfinger, Kurt Kipphardt, Heinar Kirchhoff, Bodo Kisch, Egon Erwin Klee, Paul Klein, Carl August Kluge, Alexander Knobloch, Charlotte Knopp, Guido Koeppen, Wolfgang Kohl, Helmut …
Literatur und Geschichte stehen im Mittelpunkt, doch Frank Schirrmacher schaut über den Rand der Kultur hinaus und befasst sich auch mit Technik, Wirtschaft, Wissenschaft und gründelt nach deren Auswirkungen. Nachzulesen lohnt sich manches, oft, weil es wichtig war und noch ist, oft, weil man sieht, wie schnell auch die jüngere Vergangenheit vergeht. Schirrmacher ist Konservativer und gerade deshalb interessiert ihn auch, was seine Welt bedrängt, was bewahrenswert oder – eher -gefährdet scheint. Er sitzt in der Spielwiese Feuilleton der Zeitung für Deutschland und weiß, dass dort Meinungen erscheinen, dass aber die Seiten des Geldes andere sind.
Man hat sich daran gewöhnt, die oft verwirrenden künstlerischen und literarischen Formen der ersten Jahrhunderthälfte als Experimente von Bild, Ausdruck und Inhalt zu lesen. Die Literatur, die Lyrik an erster Stelle, ist durch alle Formen geschritten und hat die weißen Flecken im Atlas der ästhetischen Imagination gefüllt. Aber das Experiment mit der Sprache war ein Experiment mit dem Bewußtsein, das durch die Sprache gebildet wird, und am Ende ein Versuch mit jenen Reizungen und Hirnströmen, die ein Wort oder ein Satz hervorzurufen vermögen. Auch die beiden gewalttätigen Ideologien des Jahrhunderts waren nichts anderes als eine buchstäblich, geradezu mathematisch genaue Umsetzung von Texten in die Wirklichkeit.
So schreibt Schirrmacher, in ästhetischem Ideal, Text für Wirklichkeit setzend. Er sucht nach Strömungen, teilt gerne ein, am liebsten in Generationen.
Nie wieder hat es eine Generation gegeben, die so wie diese an die Totalität der Kunst und die Veränderbarkeit der Wirklichkeit glaubte. Benn und Brecht waren schon unter dem Zeichen des kunstreligiösen Herrschaftsanspruchs geboren worden. In einer außerordentliche Inspirationsenergien freisetzenden Übertragung richteten sie ihn an die Politik. Und sie wurden die letzten, die die Relikte dieses Versuchs über den Krieg bis in die Nachkriegswelt hinüberretteten.
Jakob Augstein im Vorwort: Schirrmacher „sah die Welt bedroht und lebte selber im Genuss der Bedrohung. Der katastrophale Imperativ war die Grundform seiner gedanklichen Grammatik. Die Angst war sein Thema. Angst vor dem Verlust der Identität: der Tod, die Technologie, das Alter, die Verzweiflung, die Ausbeutung – unablässig werden wir in Frage gestellt, werden unsere Grenzen verletzt, gerät unsere Autonomie in Gefahr. (…)Bei Schirrmacher drängte immer alles und alles stürmte. Immer ging es um alles.”
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Philipp Felsch/Frank Witzel: BRD Noir
2016
Von Philipp Felsch (Jahrgang 1972) erschien 2015 „Der lange Sommer der Theorie. Geschichte einer Revolte 1960 – 1990“. Frank Witzel (Jahrgang 1955) erhielt 2015 den Deutschen Buchpreis für seinen Roman „Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969“. In dem Gesprächsband „BRD Noir“ unterhalten sich beide über ihre Erinnerungen und „Narrative der Bundesrepublik“.
Felsch: „Die Bestandsaufnahme ihrer zivilisatorischen Errungenschaften scheint bis auf Weiteres abgeschlossen. Jetzt folgt die schwarze Romantik der Bundesrepublik. In letzter Zeit wird sie ästhetisiert, verfremdet und verzaubert, wobei die älteren Narrative keineswegs als wirklicher oder wahrer zu gelten haben. Doch anders als der Ostalgie in ihren verschiedenen Spielarten liegt diesen Reminiszenzen das Idyllische vollkommen fern. Hinter dem Gewöhnlichen spüren sie das Bizarre, hinter dem Alltag den Abgrund und in der Provinz das Unheil auf. Ihr gemeinsamer Nenner ist die Optik des BRD – Noir.“
Witzel wandelt das in Camois ab: “So verwandelte sich das aus den USA importierte Noir in der BRD mithilfe des Märchens in die damals noch für Fotoabzüge bevorzugte Farbe Chamois, so als sollte im Bild durch eine künstlich erzeugte Patina vor allem die Vergangenheit betont und die Wiedergabe der Realität gleichzeitig gemildert werden. Getönt und mit gezacktem Rahmen, wie von einem Spitzenbezug umhäkelt, wurde das Festgehaltene ins Album eingeklebt und war kaum geschehen, schon wieder vergangen.”
Themen sind die „Provinz“, Adornos „Minima Moralia“, Verbrechen, Gewalt und RAF, die “Banalität des Bösen”, das Fernsehen, “Sexualität und Wahnsinn”, die Eltern, “Evangelisch versus katholisch” oder, nicht unwichtig, der Pop-Diskurs: “Mick Jagger war ein Beatle”.
Witzel spielt “eher den Part des Zeitzeugen” und Felsch “die Rolle des Historikers”. Ich entdecke einiges, was ich so noch nicht gesehen oder zusammengedacht habe, grundlegend Neues darf man von den fundierten Plaudereien nicht erwarten.
Susanne Mayer ärgert sich: „Nur Frauen sind abwesend.“
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Andreas Rödder: 21.0 – Ein kurze Geschichte der Gegenwart
2015
Als Historiker bringt Andreas Rödder Politik und Soziologie zusammen. Es entsteht einKompendium, ein breit angelegter Überblick über die Themen, Entwicklungen und Probleme der Zeit. Man findet nichts, was über jeweilige Einzeldarstellungen hinausweist, doch ergeben sich neue Aspekte und Sichtweisen durch die Einbindung in historische Zusammenhänge. Das führt Rödder zu angenehmer Gelassenheit und zu einer Relativierung betriebsamer Medienaufbauschungen, welche sofort nach schreiender Vorführung und kaum analysierender Wertung verlangen. Das führt auch zu einem Konservativismus, der drängenden Problemen oft mit dem Blick des Abgeklärten begegnet. „Die Kontinuitäten sind größer, als es medienöffentlich scheint.” Nicht immer kennzeichnet Rödder Meinungen als solche.Im politischen Teil schreibt und denkt Rödder „aus westlich-europäischer Perspektive”. “Eine Politik der Integration um jeden Preis unter Zurückstellung eigener Interessen – etwa in Form einer europäischen Transferunion – würde Deutschland selbst schwächen und ihm schaden.” Nicht nur dazu gibt es auch andere Positionen. Ähnlich einseitig liberal und marktkonservativ wertet Rödder etwa auch den Klimawandel.
Nützlich erscheint mir das Buch vor allem in der Korrespondenz von Politik und Gesellschaft. Sehr erhellend ist dabei – u.a. – die knappe Übersicht über die “Postmoderne”.
Mit dem Zusammenbruch des kommunistischen Ostens blieb der siegreiche Westen übrig, der seit den achtziger Jahren zugleich im Innern in Frage gestellt wurde. Das Ende des Ost-West-Konflikts war das Ende der Systemkonkurrenz und der ganzheitlichen ideologischen Großentwürfe der Hochmoderne. 1989 wurden die Karten neu gemischt, und neue Verbindungen wurden zum Charakteristikum der neuen Ordnung. Postmoderner Individualismus und radikales Marktdenken kamen, so die These von Luc Boltanski und Eve Chiapello, über Ideen der individuellen Entfaltung und des unternehmerischen Selbst, der Kreativität und der flachen Hierarchien zusammen, und der «flexible Mensch», so Richard Sennett, prägte die «Kultur des neuen Kapitalismus». Postmoderne und Digitalisierung trafen sich auf dem gemeinsamen Nenner dezentraler Netze anstelle pyramidaler Hierarchien und linearer Kausalität, Feminismus und Kapitalismus entdeckten ihr gemeinsames Interesse an weiblicher Erwerbstätigkeit.
Ausgehend von den achtziger Jahren bestimmten zwei Hauptströme die weitere sozialkulturelle Entwicklung. Der eine war der postmoderne Dekonstruktivismus, aus dem die neue Ganzheitsvorstellung der «Kultur der Inklusion» hervorging. Der andere, dem wir zunächst folgen wollen, war das Modernisierungsparadigma der Marktorientierung und der kulturellen Ökonomisierung, das in den neunziger Jahren die Vorherrschaft gewann und nach der Weltfinanzkrise von 2008 seine Glaubwürdigkeit verlor.
Hans-Peter Schwarz (FAZ): „D er Crashkurs beinhaltet: die Digitalisierungs-Revolution, Global Economy, Energiepolitik und Klimawandel, die Trends der Weltzivilisation, die Probleme von „Vater Staat“ (der nicht verschwindet, sich vielmehr als ein wahrer Proteus erweist), die Probleme des Großexperiments EU, Weltpolitik und Weltgesellschaft – dies und vieles mehr wird auf dem neuesten Analyse-Stand komparatistisch behandelt.
400 Seiten plus Anmerkungen und ausführliches Literaturverzeichnis
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Robert Fleck:
Die Ablösung vom 20. Jahrhundert.
Malerei der Gegenwart
Robert Fleck sieht – wie schon vor 100 Jahren – eine signifikante „Ablösung“ der Malerei vom vergangenen Jahrhundert. Die Malerei sei – dokumentiert und befördert von der „dacumenta X“, wo 1997 unter der Leitung von Catherine David zum ersten Mal bei einer Großausstellung keine „Tafelbilder“ mehr gezeigt wurden – zu einem „minderheitlichen Medium“ geworden. Dadurch sei aber die Malerei „befreit“ worden von ihrer „Bindung an die Abbildfunktion“.
Die Malerei habe sich damit einen „neuen, Bildraum“ geschaffen mit „neuen, ungesehenen Kombinationen von Farben“, die auf den Bildebenen „floaten“. „Die Gestalt scheint in einer Flüssigkeit zu schwimmen.“
Als „Maler des 21. Jahrhunderts“ nennt Fleck neben Georg Baselitz („In the Name of Life II von 1998 – „Russenbilder“ 1998f) z. B. Herbert Brandl, Peter Doig, Albert Oehler, Cecily Brown, Luc Tuymans u.a.m. Die erwähnten Bilder kann man sich leicht im Internet zusammensuchen. Ob sich mit dem Jahrhundertwechsel wirklich auch ein „Paradigmenwechsel“ vollzogen hat, wird sich zeigen. Robert Fleck, Professor für Kunst und Öffentlichkeit an der Kunstakademie Düsseldorf, hätte dies gerne und liefert für seine These interessante Gedanken und Beobachtungen.
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Alexandra Popp:
Hannah Arendt. Eine Denkbiografie
Alexandra Popp schreibt eine „Verstehensbiografie“. Ihr Anliegen ist es, den Leser verstehen zu lassen, Was Hannah Arendt antreibt und was ihre Thesen und Aussagen sind. Man fühlt sich an die Hand genommen („Inzwischen kennen wir Hannah Arendt gut genug …“) und durch Arendts Universum geführt; der Text windet sich in Schleifen voran und wirkt manchmal schon etwas bemüht und besorgt.
Popp beginnt mit einem knappen biografischen Abriss, ohne den Hannah Arendts Werk nicht zu verstehen ist. Immer wieder betont Popp, dass sich Arendt nicht als Philosophin versteht, sondern als politische Theoretikerin, der es nicht um die Freiheit des Einzelnen geht, sondern um „“Politik“, also die Freiheit, gemeinsam das Leben (im Staat) zu gestalten. Ein Großteil der Arbeit widmete Arendt der Klärung und Abgrenzung von Begriffen, etwa „Macht, Herrschaft und Gewalt“, Totalitarismus oder Revolution.Popp verhandelt Arendts Denken wohlwollend, spart aber auch Kritik nicht aus, etwa an Arendts starker “Verhaftung an der antiken Polis” oder ihrem “Hervorheben des Politischen sehr stark auf Kosten einer kompletten Ausklammerung des Sozialen”. Am Schluss plaädiert sie für ein “kreatives Weiterdenken von Arendt, gestützt auf deren Abhandlungen zu einer “Tätigkeitsgesellschaft an Stelle einer Arbeits- und Konsumgesellschaft” oder der Vision einer “Weltbürgergesellschaft”.
Kurzzusammenfassungen der wichtigsten Werke Hannah Arendts runden Popps Buch ab. Manche von Arendts Ansätzen scheinen mir nicht zeitlos genug zu sein, in der Präzisierung von Begriffen erkenne ich wenig Nutzwert fürs Heute.
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Jacques de Saint Victor:
Die Antipolitischen
Die „Antipolitischen“ sind für de Saint Victor die Menschen, die sich vehement gegen die herrschenden „Eliten“ in Demokratie und Parteien aussprechen und eine neue Form der Demokratie in direkten Beteiligungsmöglichkeiten, vor allem im und mittels des Internet propagieren. In den Mittelpunkt seiner Überlegungen stellt er die „Utopie“ der „direkten Demokratie“, die stets in der Gefahr des Populismus schwebe. „Das Netz gleicht einer einsamen Masse von Individuen, die Probleme haben, in wirkliche Dialoge einzutreten. In einem solchen Kontext laufen direktdemokratische Entscheidungen auf Nullsummenspiele hinaus, die bei der Minderheit das schmerzliche Empfinden auslösen, von der Mehrheit unterdrückt zu werden. Woraus wiederum ein gesteigertes Gefühl von Frustration und folglich von Empörung resultiert. Bereits Rousseau schrieb über die Direktdemokratie, »daß es keine andere Regierung gibt, die so sehr Bürgerkriegen und inneren Unruhen unterworfen ist«.”
de Saint Victor zitiert Platon und verweist auf die “Massentheoretiker” Le Bon und Canetti. Man muss sich “darüber Gedanken machen, ob das Netz ein Raum sein kann, der sich für eine »aufgeklärte« Diskussion eignet.” de Saint Victors Antwort: “Doch was kann dieser »Masseneffekt« in der Politik bedeuten, zumal wenn diese Masse sich selbst für »intelligent« erklärt? Sokrates hat uns gelehrt, dass man »mit der Masse kein Gespräch führen kann«, Tatsächlich nehmen viele Netzäußerungen, wie die Kommentarforen auf den Websites traditioneller Medien beweisen, die Form langer apodiktischer Monologe an. Die Debatten bestehen mehr aus Behauptungen als aus Argumentationen. Das Ausrufezeichen überwiegt.”
Die Masse ist niemals intelligent, denn sie stellt ein Gebilde dar, das die Rationalität außer Kraft setzt. Ideen haben keinen Einfluss auf sie, es sei denn, sie verwandelten sich in »Gefühle«. Das Erstaunlichste sei, so Le Bon, dass selbst die klügsten Köpfe nicht von diesem Phänomen kollektiver Verblödung verschont blieben: »Zwischen einem großen Mathematiker und seinem Schuster kann verstandesmäßig ein Abgrund klaffen, aber hinsichtlich des Charakters ist der Unterschied oft nichtig oder sehr gering.« Das erklärt, warum selbst der Kultivierteste, sobald er sich in einer Masse befindet, jede Form von Kritikfähigkeit und geistiger Unabhängigkeit verliert.
Hier ist auch der Begriff des “Volkes” infragezustellen. Wer ist es, der sich als das “Wir” des Volkes bezeichnet, wer wird ausgegrenzt. Ein weiterer zentraler Vorwurf de Saint Victors ist die “Ignoranz gegenüber der wirklichen sozialen Frage”. “Keiner dieser angeblichen »Weltveränderer« spricht von sozialen Dingen. Als würden sie meinen, in einer gerechten und idealen Welt zu leben, in der die einzigen Gefahren, die noch drohten, der Meinungsfreiheit im Internet gälten.” Die von den »antipolitischen« Netzaktivisten befürwortete totale Transparenz und die »Antipolitik« à la Beppe Grillo und seiner europäischen Mitstreiter kann als Autokratie enden, Grillo steuere „seine“ Abgeordneten qua Facebook. Was als -zumindest potenziell – fortschrittliche Antipolitik auftritt, ist meist eine neue Form der Entpolitisierung.
Jens-Christian Rabe (SZ): “Wenn man in diesem Sommer wenigstens ein aktuelles Buch darüber lesen möchte, wie schlecht es um die Demokratien des Westens steht, dann wäre der nur knapp mehr als 80 Seiten lange Essay „Die Antipolitischen“ von Jacques de Saint Victor, der in Paris Professor für Politik und Rechtsgeschichte ist, eine gute Wahl. Vielleicht sogar die beste. Nicht zuletzt auch wegen des 14-seitigen Aufsatzes „Republik, Markt, Demokratie“ des an der Universität Cambridge lehrenden Ideengeschichtlers Raymond Geuss am Ende der Ausgabe.“
De Saint Victor geht nur ganz beiläufig auf die „Piratenpartei“ in Deutschland und ihr – inzwischen gescheitertes Konzept der „ „liquiden Demokratie“ ein. Wie brandaktuell das Thema ist, zeigen u.a. Sascha Lobo, der in seiner SPIEGEL-Kolumne der „Flächenideotie“ der Netzöffentlichkeit zürnt, oder Christian Füller in seinem freitag-Essay über ie„verwilderte Netz-Demokratie“.
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Andreas Wirsching:
Der Preis der Freiheit.
Geschichte Europas in unserer Zeit
Andreas Wirschings Buch hat zwei Teile. Im ersten, politischen, skizziert er die Entwicklung der Europäischen Union zum Zwitter aus föderalistischem Nationalismus und konvergierender supranationaler Vereinheitlichung. Er zeigt, wie sich die EU gerade in und durch Krisenzu gemeinsamen Regularien zusammenfand. Er argumentiert vom erhöhten Standpunkt des Historikers, der Strukturen, politische Prozesse, Transformationen herausarbeitet, die die Entwicklung jenseits der getriebenen Tagespolitik bestimmen.
Gerade angesichts der Neuheit des zugrunde liegenden, höchst komplexen Prozesses, innerhalb dessen die europäischen Staaten es immer wieder neu lernen müssen, «kohärenter» zu werden und gewissermaßen «effizient» zusammenzurücken, wäre die Erwartung einer solchen Fortschrittslinearität verfehlt. Das «reale» Leben der Europäischen Union besteht in der ständigen Erfahrung des Scheiterns, des Ungenügens und der Kluft zwischen politischem Anspruch und den eigenen Möglichkeiten.
Im zweiten Teil beleuchtet Wirsching die sozialen und kulturellen Ausprägungen der europäischen Vereinigungen im Rahmen der fortschreitenden Globalisierung. Es geht, u.a., um „Technologische Revolution und Transformation der Märkte“, die Integration Osteuropas in die Weltwirtschaft“, um „Angleichung der Lebensformen und kulturelle Diversität“, als Beispiele werden „Elitenmobilität und Massenmigration“ erläutert. Neue kulturelle Vielfalt und „das Vordringen regionaler Identitäten“. Betrachtungen über die „Krise der Demokratie“ und denFormwandel des Politischen und über die Suche nach einer gemeinsamem „europäischen Ifentität“ runden das Buch ab. Der Text endet mit kurzen Ausblicken auf die Verwerfungen der Finanz- und Schuldenkrise. Die vertieften Zerwürfnisse und Risiken der europäischen „Einheit“ durch die extraordinäre Zunahme der Flüchtlingszahlen können nicht mehr eingeordnet werden.
Die Sprache ist geprägt durch die politische Fachterminologie, das Buch ist aber gut lesbar. Wirsching bringt viele Beispiele und geht immer wieder ins Detail, dennoch ersetzt es nicht die intensivere Auseinandersetzung mit den einzelnen Problemfeldern. Die Friktionen der neoliberalen Wirtschaftspolitik werden eher passim gestreift. Die Kritik ist behutsam und nicht aufgesetzt, Wirsching, Direktor des Münchner Instituts für Zeitgeschichte, hat einen Standpunkt und lässt ihn auch erkennen.
Lesenswert sind auch Andreas Wirschings Beiträge zum ersten Weltkrieg, etwa die Auseinandersetzung mit Christopher Clark „Schlafwandler und Selbstmitleid“ in der SZ.
2011 410 Seiten (plus Anmerkungen)
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