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Katerina Poladjan: Vielleicht Marseille
Als Arm die Augen öffnet, steht das Auto still, und sie ist allein. Sie legt den Kuchen beiseite, steigt aus, streckt sich, schlägt den Mantelkragen hoch und läuft durch den Regen zum Rasthaus hinüber. Luc Gaspard sitzt an einem der Tische und starrt auf seine Tasse.
Ich bin eingeschlafen, sagt sie und setzt sich ihm gegenüber.
Und ich habe eine Pause gebraucht. Hier, der Kaffee ist für Sie. Ich hoffe, er ist noch warm. Danke.
Er geht hinaus, um das Auto abzuschließen. Sie betrachtet das Telefon, das er auf dem Tisch liegengelassen hat, nippt am lauwarmen Kaffee. Das Telefon klingelt. Sie nimmt es in die Hand und liest: Miyu. Sie sollte gehen.
Was machen Sie da? Er nimmt ihr das Telefon aus der Hand, aber das Klingeln ist schon verstummt.
Es hat geklingelt. Ich dachte … Verzeihung.
Wortlos kehren sie zum Auto zurück. Sie nimmt ihre Handtasche vom Beifahrersitz und ihren Koffer aus dem Kofferraum.
Was haben Sie vor?
Danke für alles, sagt sie und wendet sich in Richtung Auffahrt. Ich sollte gehen.
Wie Sie meinen. Bitte. Eine gute Reise. Wo wollen Sie denn hin, ruft er ihr hinterher.
Ein Kombi fährt an ihr vorbei, Kinder winken ihr zu. Ein Lastwagen, Import-Export, ein zweiter Lastwagen. Sie kann hier stehen bleiben, sie kann zurück in das Rasthaus gehen und dort warten, dass ein anderer Franzose sich zu ihr setzt. Geh doch, zerstreu dich! Nun, ich zerstreue mich in alle Himmelsrichtungen.
Das Ziel ist abhanden gekommen, die Richtung verliert sich, ist egal. “Vielleicht Marseille”, ohne Fragezeichen. Die Begegnungen sind unbeabsichtigt, vielleicht gewünscht, flüchtig, folgenlos. Vielleicht folgenlos. Nicht einmal das Smartphone gibt Sicherheit, es ist nicht zuverlässig, wem gehört es, wer liest die Nachrichten? Stimmen diese? Zeichen des postmodernen Lebens. Es gibt fliehende Spuren, Katerina Poladjan legt Fäden aus, sie verquirlen sich, ihre Enden sind lose, verloren. “Nun, ich zerstreue mich.”
Katerina Poladjans Roman-Konzept ist unbefriedigend, denn es verweigert Anfang und Ende – und damit einen Sinn der Lebenswege. Nur die Wege werden eine kurze Strecke verfolgt. Nach Salzburg, Bozen ist schon unpräzise, Marseille ein Name. Vielleicht trifft Poladjan mit ihrer betont unpathetischen Sprache die Zeit: das Leben als Projekt, als Performance, Angebot. Mit den Zwängen verschwinden die Zwecke.
Annerose Rauch, Ann, hat ihren Mann verloren, sie will mit ihrem Sohn Theodor, Theo, über den Verkauf des Hauses sprechen, doch die fährt an ihm vorbei nach Salzburg. Dort trifft sie auf Luc Gaspard, der an einem Polizeikongress teilnimmt, wegen ihr aber seine Rede nicht hält. Sie lässt ihr Auto stehen, den Zündschlüssel im Schloss, er nimmt sie mit, nach Bozen, sie sagt, sie habe dort Bekannte. Nach einer Nacht im Berghotel fährt sie mit seinem Auto weiter, vielleicht nach Marseille. Dort wohnt Luc mit seiner Familie. Luc bleibt in den Alpen, fühlt sich auf den Bergen sowas wie frei, der Kontakt mit seiner Familie bricht ab, denn die Handys wurden vertauscht. Frau Miyu und die Kinder warten, vertrösten sich. Zukunftspläne belasten die Gegenwart, die Vergangenheit lässt sich nicht aus den Gedanken vertreiben.
“Vielleicht Marseille” könnte eine Novelle des 21. Jahrhunderts sein, entkernt, befreit von zielführenden Lebensläufen. Die Kritik verweist auf die “Nouvelle Vague“, auf Godard. Der Leser wird mit all den Beliebigkeiten zurückgelassen, er darf selbst Platz nehmen, kann es aber auch lassen. Vielleicht klingelt das Handy. Vielleicht fällt Ann auch wieder ein, was ihr Sohn Theo neben Theologie noch studiert. Vielleicht trifft man sich. In Marseille?
An der Oberfläche ist “Vielleicht Marseille” eine etwas unkonturierte Erzählung über die Frau und den Mann und die kurzfristige Attraktion, die beider Wege verbiegt. Vielleicht steckt aber viel von unserer Zeit drin.
2015 175 Seiten
Interview mit Katerina Poladjan bei intellectures.de
Homepage von Katerina Poladjan
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