Lydia Tschukowskaja: Untertauchen
1949. Nina Sergejewna ist in einem Sanatorium für sowjetische Kulturschaffende. Sie hat in den Stalin-Säuberungen der 1930er-Jahre ihren Mann verloren und versucht über dieses Trauma hinwegzukommen. Sehnsüchtig wartet sie auf Informationen über das Schicksal ihres Mannes. Der Schriftsteller Nikolaj Bilibin, ihr Tischnachbar und bald auch Vertrauter, ist aus einem sowjetischen Straflager zurückgekehrt, einer von sehr wenigen Überlebenden. Er könnte Informationen haben, doch Gespräche sind gefährlich, gerade 1949 wurde die Unterdrückung erneut – antisemitisch -verschärft.
In langen Spaziergängen, allein und mit Bilibin, sucht Nina Sergejewna Trost, doch auch die winterlichen Birkenwälder, das Gluckern der Bäche lassen kein „Untertauchen“ zu, die Qualen wirken weiter, auch das Erzählen hilft nicht über den Verlust hinweg.
Ich wollte so schnell als möglich zu mir, nein, nicht zu mir, sondern ins Zimmer acht. Ihm alles erzählen: von den Zeitungen, von Ljudmila Pawlowna, von der Kiste, von dem Dicken und – wenn meine Kraft reichte – von den Kindern. Aber als ich mit einem von Tränen wie zugeschnürten Hals bei ihm eintrat, saßen dort der Phantastische Abenteurer und Walentina Nikolajewna. Der Phantastische verbreitete sich über die Wurzeln des Zionismus in unserem Land, die unbedingt ausgerissen werden müssten. Bilibin widersprach nicht, sondern erklärte, dass der Mensch der Zukunft sich nicht mehr von Suppe und Klopsen, von Gemüse und Brot ernähren werde, sondern von speziellen nährstoflhaltigen Tabletten. Man würde dann eine Tablette nehmen und für den ganzen Tag satt sein.
»Das ist ja komisch! Tabletten! Ich esse aber viel lieber Kuchen!«
»Sie brauchen es mir nur zu sagen, und der Kuchen wird vor Ihren Füßen liegen«, antwortete Bilibin galant, »vielmehr vor Ihren Lippen.«
Ich blieb nur fünf Minuten und beeilte mich, auf mein Zimmer zu kommen.
Nach dem Abendessen wollte ich noch einmal Luft schöpfen und ging allein über die dunkle Straße zum Bach hinab. Wieder drängte sich der dunkle Wald an die Straße, wieder konnte man unter den Tannenästen das Grab nicht erkennen. Die Schlucht lag im Mondschein. Ich blieb eine Weile auf der Brücke stehen und lauschte dem Tuckern des Generators. Was liefert er eigentlich hier? Bloß den Strom? Oder vielleicht auch die Zeit? Er zählt noch dreizehn Tage ab – Ende. Dann beginnt Moskau.
Ich versuchte, hinter dem Tuckern die Stimme des Baches zu hören. Am ersten Abend hatte Bilibin gesagt: »Mal ja, mal nein.« Da hörte ich das reine kindliche Plappern des Baches. >Der Liebe<, dachte ich und kehrte um. >Gleich werde ich zu Bett gehen. Vielleicht hilft mir der Bach einzuschlafen.<
Sie ist gespannt auf Bilibins Manuskript zu einem Roman über die sowjetischen Lager. Aber in Nina Sergejewnas Augen schreibt er Leid, das das Regime zugefügt hat, in einen „verlogenen Lobgesang auf die Errungenschaften des Sowjetkommunismus“ um.
Bis zu diesem Tag habe ich in meinem Leben manchmal leiden müssen. Aber jetzt, zum ersten Mal, musste ich mich schämen.
Ich schämte mich, und dieses Gefühl war so stark, dass die Zeit stehenblieb. Wie im Glück.
Ich habe die Schritte nicht gehört. Ich hörte Klopfen. Ich wusste, das ist Bilibin. Er klopft immer so leicht, vorsichtig, bloß mit den Nägeln. Wie auf Zehenspitzen.
Ich antwortete nicht sogleich. Ich musste Mut fassen und meine Stimme wieder in die Gewalt bekommen.
»Herein«, sagte ich. »Bitte, nehmen Sie Platz.«
Ich zeigte auf den Stuhl am anderen Tischende. Sonst saß er immer auf dem kleinen Bänkchen neben mir. Er wunderte sich, setzte sich aber.
»Sie sind ein Feigling«, sagte ich. »Nein, schlimmer: Sie sind ein falscher Zeuge.« Er erhob sich ganz langsam. »Sie sind ein Lügner.«
“Untertauchen” ist ein autobiographischer Roman, auch wenn die Erzählerin hier anders heißt. Durch die Anlage als Tagebuch erscheint das Erleben sehr subjektiv, es werden keine Terroraktionen direkt benannt, es ist keine “Lagerliteratur”, nur der jüdische Mitbewohner Weksler erzählt einmal vom gewaltsamen Tod seiner Frau und seiner Kinder. Im Mittelpunkt steht das Leid an der Unterdrückung und Ausschaltung der Künstler und das lebenserhaltende “Untertauchen” in Natur und unpathetischer, leise ironischer Sprache. Das Motto stammt von von Tolstoj: “Die Moralität eines Menschen zeigt sich in seinem Verhältnis zum Wort.”
1975 (EnglischeAusgabe) 250 Seiten
Leseprobe und weitere Infos beim Dörlemann-Verlag
Gespräch im Literaturclub des SRF vom März 2015
Rezension von Daniel Henseler bei „literaturkritik.de“
Besprechung in Constanze Matthes’ Literaturblog ZEICHEN UND ZEITEN
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