Radek Knapp: Der Gipfeldieb
Ludwik Wiewurka lebt schon lange in Wien, nachdem ihn seine Mutter als Zwölfjähriger von Polen und seinen Großeltern weg nach Österreich „entführt“ hat. Zu seiner Mutter spricht er in der 3. Person und lässt sich von ihr mit Unmengen von Palatschinken verwöhnen. Jetzt ist er 35, – äußerlich – erwachsen und nach verschiedenen Tätigkeiten als Heizungsableser beschäftigt. Ein Job, der ihm zusagt, denn er kommt in Gemeindewohnungen und trifft dort auf seltsame Wiener samt ihren Tieren und erlesenen Liebhabereien. Besonders ins Herz schließt er den „Gipfeldieb“, der ihm einen Gipfel von der hohen Tatra schenkt.
»Ich bin so gut wie fertig«, sagte ich meinen Spruch auf und machte mich an die Arbeit. Schon nach einigen Augenblicken wurde klar, dass es weniger eine Wohnung war als eine umgebaute Skihütte. Praktisch alles außer meinen Heizkörpern gehörte ins Reich der Berge, denn wenn man in meiner neuen Heimat von etwas wirklich was versteht, dann davon, Tausende mysteriöse Gegenstände zu produzieren, die das Fortkommen in den Alpen erleichtern. (…)
Es gab keine Möbel oder sonst irgendwelche Spuren dessen, was man Wohnlichkeit nennt. Stattdessen stand es voller Glasvitrinen, zwischen denen man auf schmalen Wegen hindurchgehen konnte. Etwas Ähnliches hatte ich mal im Naturhistorischen Museum in der Käfersammlung gesehen. Nur lagen in diesen Vitrinen hier keine Käfer, sondern kleine Felsbrocken. (…)»Schauen Sie doch bitte genau hin«, sagte er sanft und zeigte auf die Vitrine vor meiner Nase. »Was sehen Sie da?«
Ich ging so nah an das Glas wie nur möglich. Aber es waren immer noch gewöhnliche Felsstücke, egal, aus welcher Entfernung man sie betrachtete.
»Ich muss passen«, sagte ich. »Worauf muss ich achten? Übersehe ich etwas Wichtiges?«
»Alles haben Sie übersehen! Aber das ist nicht Ihre Schuld. Sie sehen mit den Augen eines Laien. Nehmen wir den da zum Beispiel«, er zeigte auf ein Felsstück, das wie ein halbiertes Brot aussah. Auf der Schachtel stand: »Eiger, Mönch und Jungfrau«. »Das habe ich als Letztes heruntergeholt.« Er berührte zärtlich das Glas: »Das sind alles Gipfel.«
»Gipfel? Was für Gipfel?« Ich stand auf der Leitung. Aber ich war kein Bergmensch.
»Berggipfel natürlich. Alle eigenhändig abgeschlagen. Mit der Spitzhacke da drüben.« Er zeigte auf die Spitzhacken, die sich in einer Ecke türmten. »Und jetzt sind sie alle hier bei mir.«
»Ja, aber darf man das denn?«, fragte ich verwundert. Eine berechtigte Frage, wie ich fand. Wenn mehr Leute auf die Idee kämen, würden die Österreicher bald statt Skiabfahrten nur noch einen großen flachen Eislaufplatz haben.
»Sicher darf man das. Die Berge gehören uns allen.« »Ich verstehe«, sagte ich. »Das ist wirklich originell. « »Das ist nicht originell«, er ärgerte sich wieder, »das ist notwendig und nützlich.«
Ich zweifelte daran, ob der Alpenverein das auch so sehen würde, aber ich nickte eifrig, weil mir nichts Intelligentes als Antwort einfiel.
»Ich bin kein primitiver Gipfeldieb, mein Junge«, belehrte er mich dann. »Wenn ich ein Problem habe, gehe ich auf einen Berg und schlage einen Gipfel ab. Letztes Jahr starb meine Mutter, da habe ich den Großglockner genommen. Ich habe sieben Tage gebraucht, um hinaufzukommen, weil das Wetter so schlecht war. In diesen sieben Tagen habe ich alles vergessen, sogar dass ich eine Mutter hatte, die einfach so tot umgefallen ist. « Er nahm vorsichtig einen anderen Gipfel heraus. »Und den habe ich vom Montblanc geholt, als meine Angetraute mir sagte, sie würde lieber mit der Luft zusammenleben als mit mir. Da habe ich endgültig verstanden, was das Wichtigste ist im Leben. Weder Geld noch Gesundheit, ja nicht mal die Liebe, sondern die Vogelperspektive. Hinter der sind alle her. Verstehen Sie langsam?«
»Ich glaube, ich fange an, ja.«
Radek Knapp erzählt amüsant verschiedene Episoden aus seinem Leben – stets verwundert über die Rituale und deren skurrile Eigenheiten. Im Rathaus wird ihm die österreichische Staatsbürgerschaft verliehen, gerade noch rechtzeitig vor seinem 35. Geburtstag, damit er zum Wehrdienst eingezogen werden kann. „Von nun an wird sich der österreichische Staat um Sie kümmern.“ Mit etwas List und Glück kann er den Dienst aber als Helfer im Altersheim „Weiße Tulpe“ leisten. Auch dort findet er sich schnell ein und freundet sich mit dem Leiter und mit Schwester Sylvia an.
Ein Schelmenroman, heiter und melancholisch erzählt, mit dem Zynismus des Menschenfreundes. „Die Behörden in ganz Westeuropa bemühten sich recht ordentlich, die Fremden zu integrieren. (…) Der Westen hatte gute Absichten, er übersah nur einen Punkt. Dass es keinen Emigranten auf der Welt gibt, der sich selbst als Emigranten sieht.“
„Die Leichtigkeit und subtile Hintergründigkeit, mit der Knapp das Leben dieses Konsum- und Karriereverweigerers skizziert, macht ihm so schnell keiner nach.“ (Linda Stift, Die Presse) Im Polnischen heißt „wiewiórka“ Eichhörnchen.
2015 2015 Seiten
Audio-Besprechung des SWR (4:30)
Leselounge: „Man darf nicht alles so ernst nehmen!“
Radek Knapp im Gespräch mit Günter Kaindlstorfer (Video 14:30)
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