Julia Deck: Viviane Élisabeth Fauville
Ihr Mann, Julien Antoine Hermant, ein Bauingenieur, wurde vor dreiundvierzig Jahren in Nevers geboren. Am 30. September hat er einer zweijährigen Ehehölle ein Ende gesetzt. (…) Sie haben mit vollkommener Gelassenheit den Schlag eingesteckt, der Ihnen die Rippen zertrümmerte. (…)Sie haben geantwortet Nein, ich bin es, die geht. Behalte alles, ich nehme das Kind, Unterhalt brauchen wir nicht. Sie sind am 15. Oktober ausgezogen, haben eine Kinderfrau gefunden, Ihren Mutterschaftsurlaub aus gesundheitlichen Gründen verlängert, und am 16. November, also gestern, haben Sie Ihren Psychoanalytiker umgebracht. Sie haben ihn nicht symbolisch umgebracht, wie man irgendwann den Vater umbringt. Sie haben ihn mit einem Messer der Marke Henckels Zwilling, Serie Twin Profection, Modell Santoku, umgebracht. »Die einmalige Geometrie der Schneide bietet eine optimale Stabilität und ermöglicht ein leichtes Schneiden«, präzisierte die Broschüre, die Sie in den Galeries Lafayette studiert haben, während Ihre Mutter das Scheckheft zückte.
Wer ist es, der Viviane anspricht? Wer weiß so viel und so Genaues von ihr? Genaueres, als sie selbst weiß. Genaueres, als sie selbst wissen will.
Sie sind nicht ganz sicher, aber Sie haben das Gefühl, vor vier oder fünf‘ Stunden etwas getan zu haben, was Sie nicht hätten tun sollen. Sie versuchen, sich die Abfolge Ihrer Gesten in Erinnerung zu rufen, deren Faden wiederaufzunehmen, aber jedesmal, wenn Sie eine zu fassen bekommen, fällt sie, statt automatisch die Erinnerung der nächsten nach sich zu ziehen, wie ein Stein auf den Grund jenes Loches, das nun Ihr Gedächtnis ist.
Offen gestanden sind Sie nicht einmal mehr sicher, vorhin in jene Wohnung zurückgekehrt zu sein, die Sie seit Jahren heimlich aufsuchen. Konturen und Mengen, Farben und Stil verschmelzen in der Ferne. Hat es diesen Mann, der Sie dort empfing, überhaupt gegeben? Außerdem, wenn Sie sich etwas vorzuwerfen hätten, säßen Sie doch jetzt nicht untätig da. Sie würden umherirren, Ihre Fingernägel unter die Lupe nehmen, und die Schuldgefühle würden Ihre Entscheidungsfähigkeit lähmen. Doch davon keine Spur. Trotz jener Unschärfe, die in Ihren Erinnerungen herrscht, fühlen Sie sich sehr frei.
Weshalb sind Vivianes Erinnerungen nicht zuverlässig? Weshalb fällt sie mitsamt ihrer Gedanken in ein Loch? Läuft sie jetzt durch Paris, um sich selbst zu verstecken oder doch eher um sich wiederzufinden? – Julia Decks Roman changiert, stellt neben die überpräzisen Beschreibungen und Ortsangaben – “Viviane, die an der Station Michel-Bizot ausgestiegen ist, geht die Rue de Toul, dann die Rue Louis-Braille hinunter. Die Nummer 35 ist ein durchschnittliches, irgendwann in den siebziger Jahren errichtetes Gebäude” – die verlaufenden Konturen der biografischen Sicherheit, die Versuche der Frau, sich mit Verletzungen zu spüren, sich aufzuspüren, Halt zu finden in “diesem Körper, den ich nur für so kurze Zwischenzeiten bewohne“. Sie hat nicht nur ihren Mann verloren, ist nicht darauf vorbereitet, jetzt alleinerziehende Mutter zu sein, fühlt sich durch das Baby festgezurrt. Der Roman gibt keine Sicherheiten, auch nicht für den Leser, enttäuscht dessen Erwartungen. Vielleicht ist das ein Weg, der Frau nahezukommen, näher zumindest. Leicht macht Julia Deck es dem Leser damit nicht. “Die geistige Verwirrung der jungen Frau wird stilistisch dadurch umgesetzt, dass die Perspektiven von Erzählerin, Protagonistin und Leser sich verschieben und im Verlaufe des Buches verschwimmen.“ (Sebastian Riemann, belletristik-couch.de) Wenn es einen Mord gab, wird er nicht aufgeklärt, trotz polizeilicher Ermittlungen, den Kriminalfall unterläuft Viviane und ihre Autorin steht bei ihr, steht ihr bei, “Julia Deck bildet eine psychische Erkrankung ab“ (Mara Giese, buzzaldrins.de). Ein “überweit getriebenes Vexierspiel” (Niklas Bender, FAZ)
Man kann sich darauf einlassen, weiß aber am Ende doch nichts, spekuliert über die Psyche der Heldin. Ist man einer multiplen Person aufgesessen? Treibt Julia Deck doch bloß ihr modisches Spiel? “In ihren Wahrnehmungen und Fantasien gärt das Dilemma der Großstadtfrauen von heute, dieses explosive Gemisch aus überzogenen Selbstansprüchen und dem langen Arm der Traditionen, der männlichen Gängelungen.“ (Christoph Vormweg, Deutschlandfunk) Ist damit Viviane Élisabeth Fauville gemeint – oder Julia Deck?
2012 140 Seiten
Übersetzt hat den Roman Anne Weber, mit deren Roman „Tal der Herrlichkeiten“ ich nichts anfangen kann.
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