Filed under: Theater
She She Pop: 50 Grades of Shame
Der Titel ist ein Wortspiel. Macht aber nix, man hätte den „Bilderbogen“ auch Spring Awakening nennen können, nach Wedekinds „Kinderdrama“ der Jahrhundertwende, Jugendstilzeit, Pubertät, unerhört, ungehörig, denn darüber spricht man nicht. Provokation.Und jetzt „Fifty Shades of Grey“ von E. L. James, ein Roman, „bei dem nur skandalös ist, dass er sich millionenfach verkaufen ließ“ (Bernd Noack, SPIEGEL). Pop, Kommerz, wie alles. Muss noch eine(r) aufgeklärt werden?
Es lohnt sich immer (wieder), die substantiellen Themen zu verhandeln: Liebe, Sex, Körper und Scham, Männer und/oder Frauen. (Die Rollen werden immer mehr als nur zugeschrieben deklariert.) Was ist erlaubt? Was verboten? Gibt es darauf neue Antworten, sind die Fragen überhaupt noch opportun? She She Pop weichen aus ins Verspielte: „Man darf in der Schwimmbad-Dusche keine Erektion bekommen; es ist überaus unangemessen, in einer WG Sex zu haben, wenn die Zimmertür offen ist.“ Muss man sich für Schamhaare schämen? Was tue ich, wenn ich nackt im Hotelgang stehe und die Key-Card nicht in den Schlitz bekomme? Wie geht’s weiter, wenn sie ihre Beine nicht weit genug spreizt und er zu fett ist, um dazwischen zu kommen? Das ist fürs Publikum erheiternd, wenn es an eigene Probleme mit der Scham erinnert. Die Vielfalt ist beliebig, panoptisch statt profund.

50 Grades of Shame
Gleichzeitig wird die Veranstaltung demodernisiert. Aufklärung im 21. Jahrhundert als Frontalunterricht. Die auf der Bühne performierenden Lehrer nennen sich She She Pop. Als Schülerin wird die „16-Jährige“ einkollektiviert, stellvertretend für das Publikum, das brav auf seinen Stühlen bleibt, viele emeritierte Studienrät*innen, man hatte bezahlt. Es waren wenig wirklich junge Leute im Saal. Es waren überhaupt nicht so viele Leute da wie sonst im langjährigen Abo.
Die Spieler lesen Wedekind, berichten von eigenen peinlichen Erfahrungen, reflektieren ihre Identitäten. Wenn ich hier auf der Bühne stehe, bin ich dann der Walter (Hess) oder bloß der Darsteller? Lektion um Lektion wird aufgerufen, neues Stichwort, öfter läppisch als lustig, Geplauder.
Wichtiger als Tiefsinn sind Kollektiv, Performance, Video, gemeinsam erarbeitete Improvisation. Neben – oder besser: vor – den Text tritt die Visualisierung. Mithilfe von Live-Videos werden die Geschlechts – oder Altersrollen aufgehoben, werden Körper segmentiert und als gender-generation-mix neu zusammengesetzt, jung zu alt, glatt zu faltig. Wir alle sind eins. Ich habe ein Spass-Schoko-Täfelchen, wo man den Torsi verschiedene Köpfe und Beine zuschieben kann, Mitte Eisbär, unten Pinguin, Kopf Weihnachtsmann. She She Pop probieren viele Variationen aus, was lustig ist, sich aber als Masche bald erschöpft. Kopf Walter Hess, Brust Anna Drexler, Beine Mieke Matzke, He She Pop. „Es soll auf der bildlichen Ebene auf der Bühne eine Vergemeinschaftung der Körper geben, einen kollektiven Körper. Dabei geht es nicht mehr darum, wie der Einzelne aussieht, sondern darum, Körperbilder zu feiern.“ (Mieke Matzke, She She Pop). „Das „ästhetisch-ideologiekritisches Konzept (ist) bei aller Turbulenz zu schnell entschlüsselt.“ (Tim Sagman, nachtkritik.de) Zusätzlich wird man vom Wort abgelenkt, da sich die Schauspieler im Hinterraum der Bühne damit abmühen, sich fürs Video passend zu positionieren und das jeweils benötigte Körperdrittel zu entblößen oder mit schwarzen Fummeln für die Projektion abzudecken. Viel Aufwand, viel Leerlauf, Verwirrung der Sinne. Was dabei völlig verlorengeht, ist die Sinnlichkeit. Keine Erotik, keine Lust. Die wird im
Schlussakkord eingeklagt zum Ringeltänzchen: Heißa, das Leben ist schön, auch mit alten Falten. Eine „selbsterfahrungstherapeutische Tanzeinlage des Ensembles“ (Bernd Noack), fast wie beim Kirchentag. Immerhin beschleunigt die Projektion, denn sie will das Publikum mitreißen. Santiago Blaum macht die Musik dazu.
Ein „g’schamiges Allerlei“ (Bernd Noack), „Was die vier weiblichen und vier männlichen Körperforscher da in 14 Lektionen hübsch schulmeisterlich und in Workshop-gruppendynamischer Cross-Gender-Verteilung auf die Bühne bringen, ist derart brav und unsinnlich und so ohne jede Not, dass man ihnen am liebsten ein Blümchen schenken möchte (für den entsprechenden Sex). Wedekind war ein Extremist dagegen.“ (Christine Dössel, verärgert in der SZ) Von Unterrichtsstunden sollte man sich nicht mehr erwarten. She She Pop: Aufklärung mangelhaft.
Münchner Kammerspiele – Aufführung am 27. Mai 2016
Kommentar verfassen so far
Hinterlasse einen Kommentar