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Jule Jakob Govrin: Sex, Gott und Kapital.
Houellebecqs Unterwerfung zwischen neoreaktionärer Rhetorik und postsäkularen Politiken
»Nolens volens hat dieser Roman eindeutig eine politische Resonanz. […] Er markiert in der Geistesgeschichte das Datum, an dem die Ideen der extremen Rechten – wieder – in die hohe Literatur eingedrungen sind.«“ (Laurent Joffrin, Libération-Herausgeber) Joffrin zieht zunächst eine Verbindung zum bereits oben erwähnten Redakteur bei Le Figaro, Eric Zemmour, der schon vor Houellebecq den Feminismus und die Schwulen- und Lesbenbewegung als Wurzel der sexuellen Misere diagnostizierte, der wegen rassistischer Äußerungen verurteilt wurde und dessen letzte Publikation “Le Suicide Français” (2014) verkaufstüchtig skandalisierte.
Jule Jakob Govrin untersucht “diffuse, dynamische Wechselwirkungen“, die sich zwischen den Romanen Michel Houellebecqs, vor allem ”Plattform” (2001) und “Unterwerfung” (2015) , und der Aktualität der Theorie und den Aktionen der französischen Rechten zeigen. Antimuslimischer Rassismus und Homofeindlichkeit artikulieren sich auch in den reaktionär-katholischen Bewegung “Manif Pour Tous”, die vordergründig gegen die gleichgeschlechtliche Ehe demonstriert. “Die Entfremdung und Vereinzelung im Neoliberalismus wird als Konsequenz aus den sexuellen Emanzipationsbewegungen dargestellt. Plötzlich erscheint die heteronormative Kernfamilie als Fluchtpunkt aus den kapitalistischen Lebensverhältnissen. Ähnlich dazu beschreibt Unterwerfung eine Sehnsucht nach Sicherheit, die mit heteronormativem Streben einhergeht.”
“Schon das apokalyptische Szenario eines muslimisch dominierten Frankreichs, welches den Roman eröffnet, ist keine originäre Schöpfung Houellebecqs, denn es zitiert den Begriff des Grand Remplacement, des Großen Bevölkerungsaustauschs, welchen der Autor Renaud Camus 2011 prägte und der daraufhin massiv in den Medien zirkulierte.” Zu Recht werde er in Frankreich inzwischen “als Denker eines neoreaktionären Diskurses verstanden, zu dem auch Zemmour und die Neuen Philosophen, die schon seit den 1970er mit rechtsintellektuellen Positionen intervenieren, gerechnet werden.“ „Die intellektuelle Sogkraft, die von der Nouvelle Droite, den Nouveaux Philosophes, den Neo-Reacs hin zur Neuen Rechten ausstrahlt und sich in den Feuilletons breitmacht, manifestiert sich auch in der Kunst, wofür Houellebecq ein herausragendes Beispiel liefert.“
Die Situation in Deutschland streift Govrin nur am Rande, doch sieht sie “rechtsintellektuelle Netze (…), die sich zwischen Frankreich und Deutschland aufspannen”. “Inzwischen wird Unterwerfung auf Theaterbühnen in Berlin und Hamburg inszeniert, deren Vorstellungen ausverkauft sind. Das Publikum kann sich am Spektakel des Schreckens ergötzen und sich im bildungsbürgerlichen Sicherheitsabstand zu rechtsradikalem Gedankengut wähnen. (…) Der Schutzmantel postmoderner Ironie, in den sich reaktionäre Inhalte kleiden können, ebenso wie der Kampf für Meinungsfreiheit gegen die vermeintliche Diktatur der Poltischen Korrektheit tragen dazu bei. Houellebecqs Romane und die Pamphlete der Manif Pour Tous illustrieren, wie in rechter Rhetorik linke Kapitalismuskritik angeeignet wird.” Viele Begriffe der neuen Rechten tauchen auch in Deutschland auf, etwa bei der AfD: die “Umvolkung”, der “Selbstmord” Deutschlands, der antimuslimische Rassismus. „Im neuen Jahrtausend reiht sich der Parteiphilosoph der Alternative f’ürDeutschland (AfD) und Sloterdijk-Schüler Marc Jongen in diese Denklinie ein, der für eine gesteigerte Geburtenrate als politisches Mittel gegen die Immigrationspolitik plädiert und sich »ein männlich-heroisches Deutschland zurück[wünscht] – ein Deutschland, das dem >Thymos< (griechisch >für Stolz, Zorn<) huldigt«.“
2016 90 Seiten
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Danny Michelsen und Franz Walter: Unpolitische Demokratie.
Zur Krise der Repräsentation
Die Ursachen des Misstrauens gegen die repräsentative Demokratie sind vielfältig und unübersichtlich, sie liegen zudem nicht nur in inhaltlichen Themensetzungen, sondern in der sich beschleunigt veränderten Kommunikation. In einigen Stichworten: Dominanz der finanzgetriebenen Ökonomie, Zersplitterung sozialer Gruppen in „Torso-Individualitäten“, Fragmentierung von Lebens- und Sinnzusammenhängen und Perspektiven, Primat der Konsumorientierung, Versuche der Inklusion und Partizipation „quantitativ auch noch so geringfügig vertretene Meinungen und Interessen“, Zwang zur Beschleunigung der Entscheidungsfindung, Produktion von sich abkapselnden Gegenöffentlichkeiten, uvm.
Gestützt auf viel Literatur bearbeiten Danny Michelsen und Franz Walter ein breit sich auffächerndes Spektrum von Beschreibungen und Lösungsalternativen, kommen dabei aber letztlich zu keinem anderen Schluss: „It’s representation, stupid!“ Alle vorgeschlagenen Methode zeigen ihre deutlichen Schwächen und Risiken und halten einer eingehenden Betrachtung nicht stand. Weder die Verlagerung von politischen Entscheidungen in Expertengremien noch Ansätze zu mehr direkter Demokratie noch Versuche zu einer „digitalen/liquiden“ Demokratie hinterlassen mehr als verlängerte Ratlosigkeit und ändern wenig an der sich entpolitisierenden Gesellschaft und Politik.
Das Buch stammt von 2013, die Tendenzen haben sich seither verstärkt und werden in ihrer Wirkungsmacht immer stärker sichtbar. Ein Problem ist die Darstellung, Franz Walter stellt dazu in deeiner Nachbemerkung fest: „Ganz leicht dürfte ihnen die Lektüre nicht gefallen sein. Der [mehr als 30 Jahre] ältere der beiden Autoren des hier vorliegenden Buchs weiß, dass die Form der Darstellung in einem scharfen Kontrast steht zu allem, was er über Jahrzehnte zum Stil sozialwissenschaftlicher Veröffentlichungen geäußert hat. Doch sollte man zumindest einmal im Leben selbst durchmachen, was sonst nur aus der Distanz kritisch beschrieben wird. Der Autor, mitunter als Feuilleton-Politologe charakterisiert, hat die Virtuosität, mit der sein jüngerer Kollege den Stil des akademischen Theoriediskurses leichthändig beherrscht, zu bewundern gelernt. Aber sein Unbehagen daran ist nicht rundum gewichen.”
In der Forschung wurde oft darauf hingewiesen, dass governance-Verfahren, zumal in Mehrebenensystemen wie der EU, Formen der Legitimität erzeugen, die die traditionellen accountability-Kriterien demokratischen Regierens nur noch in prekärer Weise erfüllen . Da die Netzwerke in kaum formalisierten Strukturen agieren, arbeiten sie in einer von den parlamentarischen Arenen abgekoppelten Umgebung, die keine formale Legitimation besitzt. Im »selbststeuernden Kapitalismus«, für den die Vorstellung von »Governance ohne Government« zu einem ordnungsbildenden Paradigma geworden ist, werden Entscheidungskompetenzen »aus den politischen und politisierbaren Entscheidungsarenen der Nationalstaaten in internationale Exekutivorgane oder Regulierungsagenturen« verlagert.` Die Fragmentierung von Politik, die Diffusion politischer Verantwortlichkeit wird sich dadurch noch weiter fortsetzen. Parlamentarische Beratungen – nicht aber die unpolitische Administration – verlieren ihre Relevanz für die soziale Praxis und umgekehrt, sodass Bürger (und Politiker) immer häufiger mit juridischen, technischen oder ökonomischen Begründungen »alternativloser« Problemlösungen konfrontiert werden und zum Beispiel bestimmte Probleme der Finanzmarktregulierung vom Parlament zwar beraten, aber nicht direkt beeinflusst, weil durch nationale Gesetzgebung (allein) nicht mehr gelöst werden können, da zwingendes Recht zunehmend von einem reflexiven Recht abgelöst wird, das nur noch dazu dient, verschiedenen Interessengruppen einen Ordnungsrahmen zur Konsensfindung zur Verfügung zu stellen.
Good governance wird heute primär an der Fähigkeit der staatlichen Akteure zur Interdependenzbewältigung gemessen, also daran, inwieweit es ihnen gelingt, das »Management der teilsystemischen Interdependenz« möglichst ohne Rückgriff auf einen schwindenden Pool formaler Entscheidungskompetenzen in den Griff zu bekommen.`
Leseprobe beim Suhrkamp-Verlag
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Didier Eribon: Rückkehr nach Reims
Didier Eribon wurde 1953 in Reims geboren. In seinem Buch beschreibt er die sozialen Bestimmungen seiner Herkunft und seine Ablösung von Region und Familie. Seine Vorfahren waren Arbeiter in der Schwerindustrie und verstanden sich als „Kommunisten“ „und zwar in dem Sinn, dass die Bindung an die Kommunistische Partei als eine Art politisches Ordnungsprinzip den Horizont des Verhältnisses zur Politik überhaupt bestimmte“. Eribon konnte als erster seiner Familie aufs Gymnasium gehen und später studieren, entfremdete sich damit aber seinen Eltern und auch Geschwistern. Sein Leben ist auch geprägt durch seine Homosexualität, die ihn nicht nur aus der Geburtsstadt drängte, sondern ihm in Paris auch neue intellektuelle Kreise erschloss, etwa die Freundschaft mit Foucault und Bourdieu. Die „Rückkehr nach Reims“ ist ein Versuch der „Selbstwahrnehmung“, wobei
das individuelle Gedächtnis vom kollektiven Gedächtnis der Gruppe bedingt ist, der man angehört oder mit der man sich identifiziert und zu deren Bestehen man dadurch beiträgt, dann muss man umgekehrt auch beachten (…), dass ein Individuum immer mehreren Gruppen angehört, sei es gleichzeitig oder nacheinander. Manchmal überschneiden sich diese Gruppen, sie entwickeln sich und sind permanent in Bewegung. Deshalb ist das »kollektive Gedächtnis« – und mit ihm die individuellen Gedächtnisse und Vergangenheiten – nicht nur plural verfasst, sondern auch historisch veränderlich. Beide entstehen aus multiplen, heterogenen Räumen und Temporalitäten, die sich nicht auf einen gemeinsamen Nenner oder eine bestimmte innere Hierarchie reduzieren lassen, in der wichtige von unwichtigen Erinnerungsaspekten klar getrennt wären.
Eribon exemplifiziert das am Leben seiner Eltern und deren Weg von “Alltagsrassisten” zum Front National.
Mit etwas Abstand frage ich mich, ob der Rassismus meiner Mutter (der Tochter eines Immigranten!) und ihre ungehemmte Verachtung für eingewanderte Arbeiter (insbesondere »Araber«) nicht Mittel waren und bis heute sind, um sich gegenüber noch ärmeren und ohnmächtigeren Menschen in Überlegenheit zu wiegen. Sie gehörte von jeher einer sozialen Gruppe an, die permanent mit ihrer eigenen Unterlegenheit konfrontiert war. Vielleicht erfuhr sie in der Abwertung der anderen eine Aufwertung ihres Selbstbilds, vielleicht sah sie darin einen Weg, die eigene Existenz zu verteidigen. (…)”Das Viertel, in dem man lebt, ist für das Selbstverständnis und die Sicht auf die Welt nun wichtiger als der Arbeitsplatz und die Position im sozialen Gefüge.
Didier Eribon fragt sich, wie es dazu kommen konnte, „dass man in derselben Familie wenig später rechte oder rechtsextreme Parteien wählte und dies sogar manchmal als die »natürliche« Wahl empfand?“ Er hat keinfache Antwort, gibt aber die Methode vor, die den grassierenden Populismus nicht nur verstehen, sondern auch eindämmen kann.
Wenn die Linke ihren eigenen Niedergang verstehen und aufhalten will, muss sie sich nicht nur von ihren neoliberalen Auswüchsen, sondern auch und gerade von den Mythologisierungen und Mystifizierungen lösen, für deren Aufrechterhaltung sich manche als Verfechter einer neuen Radikalität feiern lassen. Die Beherrschten haben kein »spontanes Wissen«, oder, genauer, ihr spontanes Wissen hat keine stabile Bedeutung oder politische Bindung. Die Stellung innerhalb des sozialen Gefüges und der Arbeitswelt bestimmt noch kein »Klasseninteresse« und sorgt auch nicht automatisch dafür, dass die Menschen dieses als das ihre wahrnehmen. Dazu bedarf es vermittelnder Theorien, mit denen Parteien und soziale Bewegungen eine bestimmte Sichtweise auf die Welt anbieten. Solche Theorien verleihen den gelebten Erfahrungen zu einem bestimmten Zeitpunkt eine Form und einen Sinn, und die selben Erfahrungen können ganz unterschiedlich interpretiert werden, je nachdem, welcher Theorie oder welchem Diskurs man sich gerade zuwendet, um in ihnen einen Halt zu finden.
Leseprobe beim Suhrkamp Verlag
„Wenn das Soziale national wird, wählt man eben rechts.“ – arte-Beitrag vom Juni 2016
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Patrick Schreiner:
Unterwerfung als Freiheit.
Leben im Neoliberalismus
Patrick Schreiner sagt auf seinen 110 Seiten nichts Neues, er fasst zusammen. Nach einer knappen Definition des Begriffs „Neoliberalismus“ spricht er an, welche Lebensbereiche heute vom Neoliberalismus geprägt sind. Bildung und Lernen, Positives Denken, Esoterik, Sport und fitte Körper, inszenierte Vorbilder, Reality TV und Seifenopern im Fernsehen, soziale Netzwerke im Internet, Lifestyle und Konsum sind die Kapitel der Untersuchung und überall findet Schreiner sein Fazit bestätigt:
Der Neoliberalismus treibt soziale Ungleichheit auf immer neue Höchstwerte, vernichtet Mechanismen der sozialen Absicherung, zerstört Gewissheiten und Verlässlichkeiten. Nicht Solidarität und sozialer Ausgleich, sondern Marktprinzipien und Vereinzelung bilden die Grundlage neoliberaler Gesellschaften. Mit der Privatisierung sozialer Sicherungssysteme und öffentlicher Unternehmen werden menschliche Schicksale privatisiert. Mit dem Abbau sozialer Rechte werden Schutzmechanismen für alle abgebaut. Mit der Schwächung von Gewerkschaften werden Arbeitnehmerinnen geschwächt. Die Menschen werden auf sich selbst zurückgeworfen. In neoliberalen Gesellschaften ist jeder und jede sich selbst der/die Nächste.
Ausgerechnet in neoliberalen Gesellschaften, die allesamt Individualismus und Autonomie predigen, ist die Unterordnung unter (angebliche oder tatsächliche) Anforderungen von Markt und Gesellschaft zur alltäglichen Normalität geworden. Die Menschen sollen nach außen ein authentisches, echtes Ich darstellen, das sich permanent für Markt und Gesellschaft optimiert. Dazu scheinen sie allerdings alleine nicht in der Lage zu sein – nicht zuletzt, weil Authentizität und Unterordnung sich widersprechen. Sie suchen sich deshalb ExpertInnen und Autoritäten, von denen sie sich über die Erwartungen von Markt und Gesellschaft aufklären lassen. Damit ordnen sie sich ein zweites Mal unter.
Spätestens hier wird deutlich, dass der neoliberale Individualismus letztlich auch nur eine besondere Form von Vergesellschaftung ist. Er ist ein Prozess, durch den Menschen lernen, sich den Vorgaben von Markt und neoliberaler Gesellschaft zu unterwerfen. Er ist mithin eine Form von Knechtschaft. (…)Eine Knechtschaft allerdings, die keineswegs nur auf Druck und Zwang setzt, sondern mindestens ebenso auf Autonomie und Selbststeuerung.
Schreiner bleibt beim Überblick, mehr nicht, seine Logik liegt in der Sache. Das Buch ist keine Ratgeberliteratur, wie man den knechtenden Neoliberalismus abstreifen kann.
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Gunter Gebauer:
Das Leben in 90 Minuten. Eine Philosophie des Fußballs
Es ist das Manko des Philosophen, dass er viele Worte hat und sich mit ihnen über alles auslassen kann. Er geht den Dingen auf den Grund, will die Anthropologie in ihren je thematischen Ausprägungen umrunden, der Weg führt über die Evolution hin zu den menschlichen Kulturtechniken – und schon sind 300 Seiten über die Philosophie von irgendwas gefüllt und gedruckt. Weil gerade Europameisterschaften sind, hat Gunter Gebauer den Fußball in die Pflicht genommen, als Stand- und Spielbein der menschlichen Existenz.
Dass Fußball und Philosophie ohne einander nicht auskommen können, sieht man schon an den vielen fußballernden Freunde der Weisheit. Man muss hier nur Franz Beckenbauer nennen und schon fallen einem die anderen ein, die das Wesen und das Gewese des Fußballs auf einen Begriff gebracht haben. Wodurch sich Gebauer negativ von ihnen unterscheidet: Beckenbauer & Co. Gelingt es, die Weisheit in ein “Aperçu, auch Bonmot oder Sentenz genannt, zu verdichten, eine prägnante Bemerkung, die auf einen geistreichen oder scharfsinnigen Einfall zurückgeht. Wird es schriftlich festgehalten, kann das Aperçu mit seiner sprachlichen Prägnanz als literarischer Aphorismus fungieren. (wikipedia) Gebauer gebärdet sich als Dribbler, der das Thema wortreich umkreist, um es zu einem banalen Ende zu verbreiten. Er hätte sich vornehmen müssen, seine Philosophie auf 90 Seiten (+ Anmerkungen) einzudampfen.
Hier die Worte des Philosophen:
Mit der Aufrichtung und der Freisetzung der Hand von der Vorwärtsbewegung hat der Mensch selbst seine Situation noch um einige Grade fragiler gemacht. Diese einzigartige Entwicklung hat ihm die Chance zu neuen Errungenschaften gegeben, die seine Position insgesamt stärken. In dieser Perspektive lautet das Grundprinzip der menschlichen Evolution: Was die Fragilität des Menschen vorübergehend erhöht, macht ihn langfristig antifragil. Die Stärkung von antifragilen Kräften ermöglicht ihm, gemeinsam mit anderen Menschen geteilte Absichten zu erzeugen und so die Grundlagen einer gesellschaftlichen Praxis zu legen. Anstatt von einem Mängelwesen zu sprechen, kann man also mit Nietzsches Gedanken der großen Vernunft des Leibes darauf hinweisen, dass sich das »noch nichtfestgestellte Thier« in einer Handlungspraxis selbstgemacht hat. Im Gedächtnis der Menschheit scheint der Erfolg der Aufrichtung und Freisetzung der Hände aufbewahrt worden zu sein – als ein Prinzip ihrer Weiterentwicklung: Der Mensch geht das Risiko der Fragilisierung ein und erringt durch die Erfindung von neuen Handlungsmöglichkeiten einen antifragilen Zustand.
Der Ethnologe Claude Levi-Strauss unterscheidet die Zivilisationen danach, ob sie ihre Speisen roh oder gekocht essen. Wir leben seit Jahrtausenden in einer Kultur des Gekochten. Seit einiger Zeit gibt es bei uns jedoch den Wunsch, den echten Geschmack bestimmter Pflanzen und sorgfältig ausgewählter Fische und Fleischsorten zu erfahren. Man verzichtet auf den zivilisatorischen Akt des Kochens und erschließt sich, wie beim Sashimi oder Carpaccio, den Geschmack des Rohen. Er wird intensiver in einer Zivilisation, die das Kochen für eine unverzichtbare Zubereitung von Speisen hält.
Die Aufgabe einer lange geübten Gewohnheit muss kein Rückschritt sein; sie ist vielmehr die grundlegende Neuorientierung einer wesentlichen kulturellen Praxis. Als die Kunst gegen Ende des 19. Jahrhunderts die perspektivische Darstellung aufgab und nach dem Vorbild der japanischen Druckgrafik eine flächige Malerei ausbildete, erschloss sie dem Publikum ein neues Sehen, das nicht von der Illusion eines Raums und der Vorstellung eines dargestellten Geschehens abgelenkt wurde. Die neue Kunstpraxis sprach den Sehsinn stärker an und wirkte tiefer auf den Körper der Betrachter als die verfeinerte Salonkunst ihrer Zeit.
Ähnlich wie die moderne Malerei verzichtet der Fußball freiwillig auf hoch entwickelte Mittel – der Maler auf künstlerische, der Fußballer auf verbale Ausdrucksmöglichkeiten. In dieser Hinsicht ist er nicht weniger radikal als die moderne Kunst: Er setzt sich der experimentellen Situation einer artifiziell herbeigeführten Notlage aus. Das Spiel wird zum Drama eines Menschen, der seine gesteigerte Unsicherheit bewältigen muss. Es zwingt ihn dazu, neue Fähigkeiten und Techniken des virtuosen und kooperativen Spiels mit dem Fuß zu entwickeln. Fußball ist eine kommunikative Praxis, aber er verzichtet auf konventionelle Zeichen, die nur Stellvertreter der von ihnen bezeichneten Dinge sind. Die Hand produziert Zeichen, »Werke der Hand«, wie Heidegger sagt, um fortzufahren: »Die Hand zeichnet, vermutlich weil der Mensch ein Zeichen ist.« Der Fuß zeichnet nicht, aber er erzeugt »Werke des Fußes«. Der Mensch spielt Fußball, weil seine Füße gestalten können.
Der Zufall kann im Fußball alles unmöglich machen. Die besten Spieler vergeben die größten, die »todsicheren« Chancen: Messi trifft bei einem Elfmeter gegen Milan, der das Spiel entschieden hätte, den Pfosten, Barcelona verliert; Lewandowski findet gegen Marseille frei stehend das leere Tor nicht; Borussia Dortmund vergibt in der Hinrunde der Bundesligasaison 2014/15 eine unfassbare Menge »lupenreiner« Torchancen. An manchen Tagen »geht nichts« für die Torjäger. Aber ist es immer Zufall; oder wirken hier Selbstzweifel, Nervenschwäche, Unsicherheit? Fußball scheint ein Spiel des ewig wiederholten Misslingens zu sein (Martin Seel). Auf der anderen Seite trifft Balotelli, von den deutschen Abwehrspielern kaum gedeckt, im Halbfinale der Europameisterschaft 2012 gleich zwei Mal gegen Deutschland und vernichtet die Hoffnung der vermeintlich besten europäischen Nationalmannschaft auf den Titel. Eine scharfe Linie kann zwischen Zufall und Versagen ebenso wenig gezogen werden wie zwischen Glück und genialer Aktion. (…)Es genügt ein Schuss, um alles anders enden zu lassen als im Jahr zuvor. Einmal geht er an den Pfosten, ein Jahr später trifft er ins Ziel. Im Champions-League-Finale gegen Chelsea 2012 in der eigenen Arena versäumt es Bayern München trotz großer Überlegenheit, während der Spielzeit das entscheidende Tor zu erzielen. Im Elfmeterschießen muss Bastian Schweinsteiger für den Sieg der Bayern treffen: Schweinsteiger ist auf dem Höhepunkt seiner Leistungsfähigkeit; er hat ein erstklassiges Match gemacht. Niemand zweifelt daran, dass er den Ball ins Tor schießen wird. Er läuft an, zögert ein wenig, schießt hart ins Eck – der Ball trifft den Pfosten. Chelsea gewinnt den Pokal, eine weitere Tragödie für die Bayern. Ein Jahr später aber siegen sie im Finale gegen Borussia Dortmund mit 2:1 durch ein Tor Minuten vor dem Abpfiff. Diesmal sind die Dortmunder Spieler, die das ganze Match über mindestens ebenbürtig waren, in der Rolle der tragischen Helden.
Wie sentenziös, mit welchem Aperçu hätte Beckenbauer das ausdrücken können! (Eine sinnlose Auswahl an Fußballweisheiten findet sich hier.) Wir leben alle auf dieser Erde, aber eben auf verschiedenen Spielhälften – Klaus Augenthaler.
Wer Gebauer nicht lesen will, möge sich Monty Pythons Bericht über das Spiel der deutschen gegen die griechischen Philosophen ansehen. Hier wird zugleich der Mythos widerlegt, Ballbesitz sei eine Qualität sui generis. (Im deutschen Team: Beckenbauer (!) – Gedreht wurde übrigens im Grünwalder Stadion!)
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Gila Lustiger: Erschütterung
Gila Lustiger „muss die Welt verstehen“. In ihrem „persönlichen Essay“ will sie ihre Erschütterung angesichts der Attentate in Paris nicht in Wut, sondern in Verstehen umsetzen. Sie hat Montesqieu gelesen und Tucholsky und Kafka, um verstehen zu können. Sie interessiert sich für die Täter und die Opfer und macht sich Gedanken um mögliche Beziehungen. „Nicht jede Epoche bringt Dschihadisten hervor. Unsere aber schon. Und sie bringt sie in europa hervor, es sind Kinder der Republik.“ Die Attentäter stammen aus den Banlieus, die kein Interesse mehr an Integration haben. Sie lehnen Angebote des Staates ab, sie greifen Bibliotheken und Schulen an, sie zerstören, was für sie unerreichbar erscheint, was ihnen nicht hilft. Die Arbeitslosigkeit ist hoch, Perspektiven sind nicht erkennbar.
Ich glaube, es lag auch daran, dass wir spätestens seit den Attentaten im Januar 2015 die immer wieder gleichen Lebensläufe der Terroristen nacherzählt bekommen hatten. Ich hatte einfach nichts mehr über Jugendliche hören wollen, die, statt einen Abschluss oder eine Lehre zu machen, in die Kleinkriminalität schlitterten. Die, statt sich zu verlieben und mit ihrer Freundin zusammenzuziehen, auf Hassprediger hereinfielen und nach Syrien fuhren, um dort eine Kalaschnikow zu bedienen.
So unterschiedlich die Träume und Wünsche dieser jungen Männer und Frauen in ihrer Jugend auch gewesen sein mochten: Einmal dem Terror verschrieben, waren sie nur noch dessen willige Vollstrecker. Ich glaube, wir waren ihrer alle müde.
Die Opfer der Attentate vom 13. November stammen aus 17 Ländern, fast alle „Wahl-Pariser“. Gila Lustiger hat nach ihnen und ihren Biografien gefragt. Und sie ist erschüttert, dass der Front National von vielen Erst-Wählern gewählt wurde, die von Europa profiterit haben. Sie hat keine Lösungen, wie könnte sie auch, am Ende bleibt ihr Appell: „Wir müssen immer wieder die Grundrechte verteidigen. „Keiner muss zu einer Kalschnikow greifen, weil er sich gedemütigt fühlt.“
P.S. Elfriede Jelinek arbeitet sich in ihrem neuen Text „Wut“ auch an den Attentätern ab. Zu Beginn der Aufführung an den Münchner Kamerspielen projizieren sie einen Satz von André Breton auf den Vorhang: „Die einfachste surrealistische Tat besteht darin, mit Revolvern in den Fäusten auf die Straße zu gehen und blindlings, solange man kann, in die Menge zu schießen.“ Leider verliert sich diese Statement in den Jelinekschen Sprachkaskaden. Gila Lustiger besitzt den nötigen Ernst, sie stellt sich ihren Erschütterungen auch persönlich.
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Philipp Blom:
Die zerrissenen Jahre. 1918 – 1938
Ein Geschichtsbuch, geordnet nach Jahren, gebündelt nach Facetten der „Zerrissenheit“, die der Modernisierung ihre treibende und zerstörende Energie verdankt. Philipp Blom sammelt das auf, was die große Historie oft übersieht, was aber das Leben des Menschen ausmacht und sich in ihr Weltbild einprägt. Das sind natürlich auch die Kriege, die Wirtschaftskrisen, die Arbeitswelt, die Ideologien, es sind aber auch die Wissenschaft, die Kultur, auch die populäre.
Um diese Periode der nach innen gewendeten Kriege und der sich überlappenden Strömungen von Furcht und Hoffnung, Entfremdung, Flucht und Engagement zu fassen und zu beschreiben, habe ich beispielhafte Episoden aus dem Zeitgeschehen herausgegriffen, um so aus einzelnen Elementen die Umrisse eines Gesamtbilds der gefühlten Zeit zu gewinnen. Gefühlt ist die Zeit deswegen, weil mein Interesse mehr dem Selbstgefühl und der Weltsicht der damals lebenden Menschen gilt als den schon oft und gründlich analysierten politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen.
Das Tempo der Entwicklungen und Umwälzungen ist so hoch, dass es die Menschen nicht nur mitreißt, sondern auch konfus macht, ihnen die großen Linien und Zusammenhänge vertrübt und sie anfällig werden lässt für scheinbar einfache Lösungen, für Schwarz-Weiß-Denken, Kommunismus oder Faschismus, wir gegen sie, man behilft sich damit, in der Masse auzugehen. Blom berichtet von Personen, von Johnny Scopes etwa, an dem sich der “Jahrhundertprozess” um die Evolutionslehre in den USA entzündete, beispielhaft für die mächtige Sehnsucht der “Eliten” nach Bewahrung und den zum Kampf gezwungenen Fortschrittlichkeit der Wissenschaft. Er erinnert an den ideologisch geplanten Ausbau der sowjetischen Industrie in der Musterstadt Magnitogorsk als Zeichen der Systemauseinandersetzung, der in den “zerrissenen Jahren” Millionen von Menschen zum Opfer fielen. In Spanien etwa, wo sich im Bürgerkrieg beide Seiten in ihrer Brutalität nichts nachstanden. Immer wieder ist von der Musik die Rede, in Wechselwirkung mit der Macht und den politischen auseinandersetzungen, vom Jazz bis Schostakowitsch.
Der Blues war die Anklage aller Enttäuschten und Misshandelten, doch unmittelbar danach zelebrierte ein neuer, furioser Song das Leben, den Tanz, Sex und Freiheit und bewegte die Füße und Gefühle derer, die sich zu jung fühlten, um schon völlig desillusioniert zu sein, und die noch an ihr Recht auf ein eigenes Leben glaubten. Das Jazz Age mit seinen Flappers in den USA, die Bright Young Things in Großbritannien, die Goldenen Zwanziger Jahre mit ihren exzessiven Partys in den Kellerbars von Berlin und Paris bis nach Barcelona waren auch eine Form des spontanen Protests gegen eine Zeit, die oft zu ernsthaft und verzweifelt schien, entweder ohne Hoffnung oder aufgeplustert von den utopischen Träumen von rechts und links.
Keine Diktatur hat dem Jazz jemals getraut – aus gutem Grund. Menschen, die miteinander trinken und auf der Tanzfläche die Bewegungen ihres Partners Körper an Körper spüren, tun sich schwer, einander noch zu hassen. Engumschlungenes Tanzen ist vielleicht die beste Immunisierung gegen Ideologie.
In Tuchatschewskis Fall betraf das auch den Komponisten Dmitri Schostakowitsch, den der kultivierte Marschall persönlich gefördert hatte. Zunächst hatte das dazu geführt, dass Schostakowitsch relativ ungestört arbeiten konnte, aber nach der Verurteilung seines Gönners wurde das Leben auch für den Komponisten schwer.
Schon bevor der Marschall festgenommen worden war, hatte Stalin Schostakowitsch seine Gnade entzogen, teilweise auch, um seinen Rivalen zu schwächen. Schostakowitsch wurde in der Presse öffentlich angegriffen und beschuldigt, bürgerliche Musik zu komponieren. Besonders seine Oper Lady Macbeth von Mzensk wurde harsch kritisiert. Der Komponist sah sich immer stärker isoliert, erhielt keine Aufträge mehr und stand zeitweise aus Angst um sich und seine Familie kurz vor dem Selbstmord. Er war gezwungen, sich auf die Komposition ideologisch unverdächtiger Filmmusik zu konzentrieren, und schrieb Kammermusik, die bei Freunden aufgeführt werden konnte, sowie Partituren, die für Jahrzehnte in der Schublade verschwanden. Doch trotz aller Vorsicht fielen mehrere Mitglieder seiner Familie dem Terror zum Opfer.
Ein Lesebuch zur Auffrischung von Wissen mit neuen Aus- und Einblicken und zur Erkenntnis geahnter Zusammenhänge. Blom schließt an seine Darstellung Europas von 1900 – 1914: “Der taumelnde Kontinent“ an und verweist auch auf die Gegenwart, etwa auf die Finanzkrise. Das Buch liest man gern, es ist anschaulich und spannend erzählt und es gibt auch eine Menge kleiner Bilder.
2014 500 Seiten (+ Anhang)
Homepage von Philipp Blom
mit vielen aktuellen Texten, Beiträgen, Interviews und mehr
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Constanze Kurz/Frank Rieger: Arbeitsfrei.
Eine Entdeckungsreise zu den Maschinen, die uns ersetzen
2013
Jede der über vier Millionen deutschen Milchkühe wird so umfangreich überwacht und verdatet, daß es Post-Privacy-Anhängern nur den grünen Neid ins Gesicht treiben kann: Ein Bewegungssensor am Fuß erfaßt jeden Schritt, ein oder sogar mehrere Funkchips und Marken im Ohr erlauben die Identifizierung. Befindet sie sich auf der Weide, gibt es bereits satellitengestützte Systeme, die den Standort und das Bewegungsmuster des Tieres auf dem Mobiltelefon des Landarbeiters anzeigen können. So sind auch die etwa 600 000 deutschen Fleischrinder überall erfaßt, die in der Regel im Frühjahr und Sommer auf der Weide gehalten und erst im Herbst eingestallt werden. Sind die Kühe tragend, werden die speziell dafür vorgesehenen, etwas großzügiger gebauten Ställe nicht selten videoüberwacht, um einen permanenten Blick auf die Tiere zu haben, bevor sie ihre ungefähr vierzig Kilogramm schweren Kälber bekommen.
Auch am Melkroboter, die Bauern bereits seit über zehn Jahren nutzen können, wird die Kuh anhand ihres individuellen Funkchips erkannt. Sie kann den Zeitpunkt, wann sie in den Roboter hineintritt, selbst wählen, die Maschine verzeichnet den Zutritt nur. Um die Motivation zu erhöhen, liegt im Roboter ein Schman kerl zur Belohnung bereit: individuelles Kraftfutter für jede Milchkuh. Je höher die Energiekonzentration dieses Futters ist, desto attraktiver ist es für das Tier. Verläßt die Kuh nach dem Melken und dem Genug des Leckerlis den Roboter nicht, geht nach einiger Zeit ein Alarm auf das Mobiltelefon des Wachhabenden. (…)Viele Kühe ziehen jedoch den Melkroboter dem menschlichen Melker vor. Die Melker sind ja nicht dauernd vor Ort, die Kühe müssen daher anstehen, um gemolken zu werden, was für sie zu sozial stressigen Situationen führen kann, etwa wenn sich eine höherrangige Kuh in der Schlange befindet. Beim Melkroboter können sie sich den Zeitpunkt aussuchen und solche Streßsituationen vermeiden.
Kurz und Rieger legen den Faden ihrer Reise durch den Stand der Automatisierung „vom Bauern zum Brot“. Anschaulich berichten sie davon, wie stark inzwischen in der Ernährungsindustrie die „Maschine“ den Platz von Menschen eingenommen hat, wobei man sich unter Maschine nicht mehr Mechanik, sondern Algorithmen vorzustellen hat. Vom GPS-gesteurten Mähdrescher über die vollautomatischen Mahlfabriken zu den individualisierten und menschenleeren „Bäckereien“ führt der Weg, parallel zeigen die Autoren, wie Voraussetzungen und Rahmenbedingungen geschaffen werden, die Fabrikation von Agrarmaschinen, die Aufbereitung der Energie in den Raffinerien, die Lager- und Transportlogistik, die „Druckstraße“ für Werbung und Information.
Im zweiten Teil geht es um „die Zukunft der Arbeit“ und die überwältigenden Konsequenzen der Automatisierung in allen Bereichen von Tätigkeiten. Die „Telepräsenz“ etwa in der Medizin, die Dehumanisierung des Krieges durch selbststeuernde Drohnen, der Einsatz von Robotern in der Pflege, die „Automatisierung des Geistes“.
Man ist bei den Werksbesuchen vor Ort und doch angewiesen auf Bilder und Filme, da die Welt der Automatisierung so gegenwärtig ist und die Anschauung der Industrie doch noch stark von überholten Ikonen gesteuert ist. Präzise erläutern Kurz und Rieger die Probleme, mit denen die Automatiserung befasst ist, die Feinjustierung der Algorithmen, die Mensch-Automatik-Schnittstellen, die juristischen Fragen, etwa bei „Autos ohne Fahrer“, die rasanten Fortschritte bei der Verarbeitung von Datenvolumen und bei der Auflösung von Kameras und anderen Sensoren.
Im „Epilog“ skizzieren Kurz und Rieger Konsequenzen für die Gesellschaft und Forderungen an die Politik. Hauptsächlich die Bildungspolitik wird gefordert sein, aber auch für die generelle Arbeitsverteilung, die Steuer-, Sozial- und Rentenpolitik ergeben sich dringende Aufgaben.
Schaut man sich die Struktur der automatisierten, digitalisierten Wirtschaft an, so sind die größten kurzfristigen Gewinne an Effektivität und Produktivität aus der immer ausgefeilteren und immer schnelleren Auswertung der riesigen Datenberge zu erwarten, bei der Digitalisierung quasi wie nebenbei abgeworfen. Die dadurch entstehenden neuen Arbeitsplätze sind jedoch wenige, sie erfordern spezielles Wissen und Vorbildung, manchmal auch ausgeprägtes Talent, sei es als Softwareentwickler oder beim Entwurf neuer Ideen für Algorithmen. Wegrationalisiert werden dadurch nicht nur immer mehr Niedriglohnjobs, vor allem betroffen sind auch Aufgaben im Management, der Planung, Koordination, im Berichtswesen und in der Verwaltung der Unternehmen. Diese Tendenz zeigt einmal mehr den großen Irrtum der derzeitigen Bildungspolitik: Genau für diese geistigen Tätigkeiten auf unterem und mittlerem Niveau wird derzeit bevorzugt ausgebildet.
Wie wichtig die Bedeutung von Talent, Einfallsreichtum und solider Bildung ist, zeigt sich vor allem in dem Bereich, der mehr und mehr zum Kern der Innovationsentwicklung geworden ist: der Softwareentwicklung. Die Bandbreite von Produktivität bei Programmierern ist geradezu riesig: Ein sehr guter Programmierer schafft sowohl qualitativ als auch quantitativ bis zu zehnmal mehr als ein durchschnittlicher, Ausnahmetalente bringen es bis auf die hundertfache Leistung.
Gespräch mit Constanze Kurz in Deutschlandradio Kultur
Video von ttt bei youtube (6’)
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