Nachrichten vom Höllenhund


McCarthy
25. Juli 2016, 13:41
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Tom McCarthy: Satin Island

satinislandEs wird keinen Leibniz 2.O geben. Was es geben wird, ist eine endlose Abfolge von Migrationen: Wissensparzellen, die von einem Feld ins nächste wandern und dabei mutieren. Kein einzelnes Individuum wird diesen Vorgang steuern; er wird kollektiv unternommen werden, mit dem Input der ganzen Bandbreite an Disziplinen, mit dem Know-how aller Fachmänner. Migration, Mutation also, und das, was ich (bekräftigte Peyman) »Superzession« nenne: die Fähigkeit jeglicher Praxis, sich selbst zu überwinden, ihre eigenen Grenzen zu sprengen, sogar bis zu dem Punkt hin, ihre eige­nen Bedingungen und Grundsätze für den Durchbruch zu opfern; und diese im Niemandsland zwischen den Territo­rien, in den weißen Feldern auf der Karte, jenen Zwischen­raumzonen also, wo das Licht sich um unmögliche Topo­grafien herum biegt und bricht und so Illusionen, Fata Morganas, Erscheinungen, Spektren hervorbringt, und sie auf neue, fantastische und explosive Weisen zu kombinieren. Das, so Peyman, ist die Zukunft des Wissens.

U., der Erzähler, sieht Claude Levi-Strauss – “der brillanteste Eth­nograf des zwanzigsten Jahrhunderts” – als sein Rollenmodell, er versteht sich als Anthropologe, “aber jetzt gibt es keine Eingeborenen mehr – oder wir sind die Eingeborenen.“ Macht nichts, gerade das ist das Exotische, das liefert Strukturen, Formen, Muster, Texturen, Gewebe. “Präsens-Anthropologie; Anthropologie als Lebensform. „Das war’s: Präsens-Anthropologie™; eine Anthropologie, die in der Gegenwart baden würde, und in jetztheit- darin baden würde wie in einer tiefen, sprudelnden und nymphengesät­tigten Quelle.” Die Welt ist erforscht, die Firma das substanzielle Universum: “Echte Unternehmen aber, sagte er, während seine Hand über dem Schreibtisch einen Kreis beschrieb, der das ganze Ge­bäude meinte: Sie sind die Schmiede, die Hütte, wo wirkli­ches Wissen geschmolzen, geformt und ausgehämmert wird.” Leibniz 2.0.

Sein Arbeitgeber Peymann, der Fixpunkt von U.s angedachten Projekt(ion)en, will von U. den „Großen Bericht“. „® Der Große Bericht: Hier bedarf es weiterer Erklä­rung. Er war Peymans Idee. Als er mich einstellte, mir die Hand schüttelte, um mich an Bord zu begrüßen, fixierte er mich mit seinem Blick und sagte: U., schreib den Großen Bericht. Den Großen Bericht?, fragte ich, die Hand noch in seiner gefangen; was ist das? Das Dokument, sagte er; das Buch. Das Erste und das Letzte Wort über unser Zeitalter.

Was, wenn die bloße Koexistenz mit diesen Gegenständen und dieser Person, der Fakt, dass ich meine eigenen Ränder und Kanten mit ihnen zerlaufen ließ, dass ich diesem Moment beiwohnte, ihn besetzte, oder, genauer, es zuließ, dass er mir beiwohnte, mich besetzte, befleckte und aufsog, und dass ich ihn eben nicht wie eine Daten­quelle für spätere Materialsammlungen behandelte – was, wenn das alles womöglich schon Teil des Großen Berichts war? Was, wenn der Große Bericht irgendwie, auf irgend eine Weise gelebt, ge-seint werden könnte, und nicht nur geschrieben?

Alles schien mög­lich.” Was natürlich zu viel ist und was U. radikal überfordert. „Ich wollte diese Idee nicht umsetzen. Ich stand nur da und beobachtete.” “Ich wusste nicht, was; aber et­was würde passieren. Und etwas würde Sinn ergeben – wenn nicht das ganze Schlamassel, dann doch zumindest etwas. Etwas ist nicht nichts, auch wenn es nicht alles ist.” “Nach Staten Island zu fahren – wirklich dahin­zufahren – wäre zutiefst sinnlos gewesen. Was hätte das in Wirklichkeit gelöst oder aufgelöst? Nichts.” Kulturtheorie 2.0 und höher. Das letzte Wort über die Welt. Die Anthropologie als Tautologie, raffiniert. Oder blendend? Ich greife vor.

U. spinnt seine formsuchenden Gedanken der Welt über und was erklärte die Texturen besser als die Extremform: die Katastrophe. Der Absturz eines Fallschirmspringers, dessen Schirm manipuliert ist: Wann tritt Schuld ein? Das aus dem Tanker gelaufene Öl, das seine Schlieren über die Küste legt und Leben vernichtet.

“Als ich danach im Bett lag, ließ ich meine Gedanken schweifen, die erneut in Bildern vom Öl landeten. Ich bewegte mich durch dunkle und schwerfällige Wogen, schwarz aufschießende Wellen und fleckenbespritzte Kiesel, bis ich mich zwischen Lachen niederließ, in denen das Öl, erschöpft und träge, über Felsen und Tiere drapiert war. Wo es ganze Tiere und Felsen abdeckte, sah es wie PVC aus, wie Fetischzubehör. Die Anzüge der Rettungs- und Aufräumteams wirkten zugleich pervers und prophylak­tisch. Vor der Küste, wo die Wellen brachen, konnte ich eine Aphrodite erkennen, die wie eine Schlampe in geschwärz­tem Schaum herumtollte, und ihr Gesicht trug den Aus­druck, den Laienmodelle in Schmuddelmagazinen haben.”

Besonders verstörend im Zusammenhang (nun ja, wenn es denn den Zusammenhang noch gibt) ein Kapitel, in dem Madison, U.s Freundin (?) in einem spröden Gespräch von ihren Foltererlebnissen bei den Protesten gegen den G-8 Gipfel 2001 in Genua berichtet. Eine Form der Erotik? “Als ich bei Madison war, hatten wir Sex.” Mit einigem Abstand: “Später am Abend traf ich mich wieder mit Madison. Wieder hatten wir Sex.” Süchtig machende Kulturtheorie? Poststrukturalismus. Tom McCarthy steckt die aktuelle „Kulturkritik in den Sack“, der Erzähler (U. = Du) sei selbst eine Reflexionsform, so Carlos Spoerhase in der SZ. Tom McCarthy “hat einen Weg gefunden, Kulturtheorie humorvoll und spannend darzustellen – in anderen Worten: Diese Lektüre macht süchtig.” (Klappentext mit Bezug auf The New York Times) Mich macht das nicht süchtig, ich empfinde Tom McCarthys Buch eher als unausgegoren und langweilig, man könnte auch sagen banal, trivial. Sich selbst verzehrende Komplexität. „But to what end?“, fragt PhilHogan im Guardian.Er löst nicht ein, was er – zugegeben – im Roman (in der amerikanischen Erstausgabe: A Treatise, An Essay, A Report, A Confession, A Manifesto, A Novel.) auch nicht verspricht. Zeitgeist als solcher, die Aussage ist die Aussage und der Erkenntnis beraubt. „Wie alle Bücher enthält Satin Island Hunderte von Anleihen, Echos, Remixe und direkten Wiedergaben.” (McCarthy) Alles schlägt über dem Präsens-Anthropologen – wie auch dem Leser – zusammen, löst sich auf in Strukturen, verpufft. „Wow, murmelte sie; das ist irgendwie abgefuckt.” Ist das der “Humor”? “.2.0

„Satin Island“ stand 2015 auf der Shortlist des Booker Prize for Fiction. Der Titel trägt seinen Namen aus einer TraumAssoziation des Erzählers zu „Staten Island“ in New York, „einer apokalyptischen Stadtlandschaft, in deren Mitte eine gigantische Müllverbrennungsanlage thront“ (Klappentext)

2015          220 Seiten

 

Leseprobe bei DVA (pdf)

 

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