Dominique Manotti: Letzte Schicht
Der Wirtschaftskrimi hat ein Handicap.Wirtschaft ist System, Struktur, abstrakt. Man kann analysieren, Theorien erstellen, Prozesse offfenlegen. Der Roman aber braucht Figuren, Personen, Handlungsträger, Jean Paul hat das einst Charaktermasken genannt, Typen, die ihr Handeln für autonom halten. Aber anstatt „die Wirtschaft“ zu gestalten, werden sie vom System getrieben, es wird physisch.
Als Erstes möchte er fliehen, weit, weit weg. In die Mongolei, ein alter Traum, die kleinen Pferde mit dem waagerechten Hals reiten, dem Schneetiger mit seinem dichten weißen Fell und den schwarzen Streifen endlos hinterherjagen. Aber er flieht nicht. Mehrere besorgte Gesichter fragen ihn, ob es besser gehe. Viel besser. Sehr gut sogar. Ein kleiner Schwächeanfall wegen Überarbeitung, die Anreise auf leeren Magen, es ist nichts. Er hört sich mit den Zähnen knirschen. Ermittlungen der Börsenaufsicht dauern mehrere Monate. Bis dahin … Er weiß nur, dass bis dahin nichts mehr sicher ist und dass er Angst hat.
Die Möglichkeiten liegen darin, sich an die Stelle des Konkurrenten zu drängen, noch etwas brutaler, raffzahniger, korrupter zu sein. Das ist ihre Welt. Sex und Drugs und Geld und das selbstgeglaubte Gefühl, Macht zu haben. Accessoires, Talmi.
Dominique Manotti zeigt diese „Welt“ in ihrer hemmungslosen Dürftigkeit. Wer sich ihnen in den Welt stellt, liegt dort bald als Leiche, Geld ist rigoros. Natürlich kann auch Manotti das „System“ nicht darstellen, aber sie zeigt in all ihrer Realität die vom System Getriebenen und Gezeichneten. Sie zeigt, dass hinter den Mördern Männer stehen, die das System am Laufen halten, die es für legitim halten, dass ihnen dabei viel Geld zufließt. Manotti zeigt sie als Masken, sie lässt sie nicht davonkommen. „Die Wirtschaft“ juckt das nicht, sie dreht sich weiter.
Die „Letzte Schicht“ ist keine Fiktion, die Privatisierung des französischen Rüstungs- und Elektronikkonzerns Thomson sollte 1996 erfolgen. Lothringen ist weitgehend deindustrialisiert, das Kapital verfolgt sein Hauptanliegen, Arbeitsplätze sind rar und umkämpft, auch die Solidarität ist auf der Strecke geblieben, so etwas wie Klassenbewusstsein zuckt gelegentlich noch auf. (Didier Eribon beschreibt, wie es – nicht nur in der Region – in die rechte Ecke gedriftet ist.) Die Arbeitsbedingungen in der Thomson-Bildröhrenfabrik sind desolat. Ein Unfall soll die Abläufe nicht weiter stören, doch deckt er die brüchigen Strukturen auf. Wem gehört eigentlich die Fabrik, wer hat das Sagen, wer bezahlt die Arbeiter? Weshalb werden ihnen die zugesagten Prämien versagt? Es zuckt! Betriebsbesetzungen à la française, plötzlich brennt das Werk. „Die Polizei wird sich zunächst für die Arbeiter interessieren.”
Alcatel, Matra und Daewoo streiten um die Übernahme, Manotti nennt die Namen. Es stellt sich immer deutlicher heraus, dass die geheimen Fäden ganz oben gesponnen werden. Die Gelder kommen von der EU und die Raffzähne sorgen dafür, dass sie nicht in der Region und bei den Arbeitern ankommen. Die “oberste Liga der Korruption”, „Blut und Tod, so weit entfernt und doch so nah an der Welt der großen Geschäfte. (…) »… Es war, als wäre die ganze Fabrik eine Kulisse, und wir führten ein Stück auf, ohne es zu verstehen …«”
Er grüßt ihn mit einem Knurren, lässt sich auf die Rückbank fallen und breitet die Titelseiten der drei französischen Tageszeitungen aus, Ein und dieselbe Meldung in allen Schlagzeilen: Landesweiter Streik und Demonstrationen der Beschäftigten von Thomson Multimedia gegen die Übernahme durch Daewoo. Erleichterung. Nicht nötig, die Artikel zu lesen. Was kann ein Streik schon gegen die großen Deals der internationalen Finanzwelt ausrichten? Nichts. Das ist bestenfalls lachhaft. Diese Leute werden es nie verstehen.
Er faltet die Zeitungen wieder zusammen. Dann kehrt die Unruhe zurück. Die Presse hat vor allem Daewoo im Visier, schon zum zweiten Mal. Ohne Deckung von Matra. Riskant. Mit diesem Schnüffler in der Nähe, der sogar schon bis zu Tomaso vorgestoßen ist. Der Kommissar sagt, er ist sauber. Aber dem kann man leicht ein X für ein U vormachen. Ich werde ihn noch mal darauf ansprechen. Er lässt sich zurücksinken und betrachtet bewundernd die in Nebel gehüllten letzten Ausläufer des Waldes, die sich auflösen, als sie mit der Stadt in Berührung kommen. Die Bäume färben sich rot, bald werden die Blätter fallen, und im Forst kann gejagt werden. Ich muss mit dem Wildhüter eine Runde durch den Wald gehen, um zu sehen, wo in der Grande Commune die Fasane sind. Die Zeit vergeht.
Dominique Manotti verflicht ihr Personal zu einem – wie in der Realität – oft unübersichtlichen Knäuel von Raffzähnen, lässt die Arbeiter und mehr noch die Arbeiterinnen hilflos zappeln und leiden und sterben. Das Glück ist fern und klein und kurz. Ein paar Reste von Guten gibt es auch. Rolande Petit, die aufrechte und attraktive Frau – wie lange kann sie widerstehen? Charles Montoya, der von außen kommt und als angeblicher Journalist viel herausfindet. Letztlich aber sinn- und nutzloses Wissen, denn der Fall kann und darf nicht gelöst werden. »Damit können wir die ganze Republik hochgehen lassen, was ja nun nicht unsere Absicht war. Alle würden dabei verlieren.« Immerhin führt es zu einem “peinlichen Rückzieher” (Die ZEIT zur Privatisierung des Thomson-Konzerns) der Regierung. Das Thema ist geparkt – beim “Alumniclub”.
Manotti schreibt im Arbeitstakt, heftig, sich überschlagend, präzise. (Mehr zu ihrem Stil hier.) Die Geschichte beschleunigt, kommt nicht voran und wird dadurch immer spannender. Ein Wirtschaftskrimi, nahe an der Realität, die man sich nicht so brutal vorstellen mag, die aber wohl jedes Klischee übertrifft.
Oberkörper richten sich auf, am Ende des Bands Rolande, prüfender Blick, ob die Lötpunkte korrekt sitzen. Klack, zischsch, das Band läuft weiter, Kopf leer, Hände und Augen arbeiten von selbst, klack, eins, zwei, drei, vier, Blick drauf, klack, zischsch, zwischen zwei Röhren Aïshas Gesicht, abgespannt, zwanzig Jahre, könnte besser gehen, klack, eins, ging’s dir mit zwanzig besser, zwei, schwanger, sitzen gelassen, drei, Mutter Alkoholikerin, aggressiv, vier, lag dir damals schon auf der Tasche, Blick drauf, klack, zischsch, Aïsha, leerer Blick, brutaler Vater, klack, eins, mein Sohn, Hände streichen übers Haar, zwei, übers Gesicht, liebevoll, drei, niemals in die Fabrik, nie, vier, lerne, lerne, Blick drauf, klack, zischsch, Aïsha, die Arbeit, sie kann nicht mehr, klack, eins, seit dem Unfall, zwei, der Unfall, das Blut, drei, überall Blut, vier, der durchtrennte Hals, Blick drauf, klack, zischsch, Aïsha voller Blut, klack, eins, sie hat Angst, zwei, ich auch, drei, wir alle, vier, Angst geht um zwischen den Blechwänden, klack, zischsch, Aïsha, ihr Vater, immer am Rumbrüllen, klack, eins, greller Blitz bei der Reihe gegenüber, bis zu den Neonröhren, eine Röhre brennt durch, ein Schrei, der auf dem höchsten Punkt abbricht, fast platzt das Trommelfell, Emilienne ist starr hintenübergekippt, Rolandes flache Hand schnellt von selbst zum Sicherheitsknopf, das Band bleibt stehen. Ein Kabel brennt bis hinauf zur Neonleiste, gelb-orange Funken und ein scharfer Geruch nach verbranntem Gummi, Gummi oder etwas anderem, zum Erbrechen.
Stille.
2006 250 Seiten
Interview mit Dominique Manotti beim Argument-Verlag
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