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Michael Lüders: Never Say Anything
Sophie Schelling ist Reisereporterin einer angesehenen deutschen Wochenzeitung. Sie will in Marokko die „Himmelstreppe“ von Said Attar sehen und besucht dazu mit ihrem einheimischen Begleiter Hassan den Ort Gourrama im Süden des Landes nahe der algerischen Grenze. Wie es der Zufall will, erleben sie einen Drohnenangriff in unmittelbarer Nähe, bei dem ein Hirte zerfetzt wird. Auf einem Raketenteil entdecken sie ein Schild, das auf den US-Usprung hinweist. In der nächsten Nacht wird das Dorf von Helikoptern angegriffen, alle Bewohner werden getötet, auch hier liegt der Verdacht bei privaten US-Söldnern, die den Erschossenen die Kugeln aus den Körpern schneiden, um das Massaker zu anonymisieren. „Find, fix & finish“ – Finden, festnageln und fertigmachen lautet das Motto von JSOC, des Joint Special Operations Command.
Als Erstes sah Sophie den Arganbaum, dann, beim Aussteigen, das, was in ihm hing. Ihr Körper reagierte so unvermittelt, wie sie es noch nie erlebt hatte: Sie erbrach sich augenblicklich, ein Schüttelfrost überkam sie, am Ende spuckte sie gelbgrüne Gallenflüssigkeit. In ihrem Kopf hörte es nicht auf zu hämmern: Ein Bild wie von Dali, surreal, verzerrt, entrückt. Der Oberkörper des Hirten, etwa bis zur Höhe des Gürtels, hing wie hingeworfen rücklings über den Ästen. Seine Arme waren ausgebreitet in Form eines Vs, sein unversehrtes Gesicht wirkte so friedlich, als schliefe er. Die Augen waren geschlossen. Sein Unterkörper lag über mehrere Meter verteilt, unzählige Male zerrissen und zerfetzt. Allein sein rechter Unterschenkel einschließlich des Fußes war erhalten geblieben. Die Gedärme schlangen sich teils im den Baum.
Sophie Schelling ist, wieder ein Zufall, die einzige, die überlebt. Sie schlägt sich nach Berlin durch und hofft, ihre Erlebnisse und Erkenntnisse in ihrer Zeitung unterbringen zu können. Hier beginnt Michael Lüders’ Lehrstück. Sophie, die Frau, also ideologisch unverdächtig, wird zur Protagonistin und erfährt, stellvertretend für den lesenden Stubenhocker, wozu die „Weltpolitik“ des frühen 21. Jahhunderts fähig ist. Zum Aus-der-Haut-Fahren.
Die Zeitung ziert sich, die Fakten seien nicht überprüft, nicht überprüfbar, der transatlantische Chefredakteur empfiehlt Zurückhaltung. Sophie schreibt einen neutralen Artikel, erhält darauf Informationen von amerikanischen Investigativ-Journalisten und stellt diese auf ihrem Privat-Account ins Netz. Lüders beschreibt die Konsequenzen als Thriller.
Sophie Schellings Wohnung wird durchsucht, auf ihrem Konto geschehen rätselhafte Überweisunugen, worauf es gesperrt wird, ihr Facebook-Account wird gehackt, das Auto, das sie fährt wird Ziel einer Cyber-Attacke, man lässt sie überleben, weil man weitere Informationen bei ihr vermutet. Klischees, aber vorstellbar, die Wirklichkeit ist meist brutaler.
Michael Lüders „war lange Jahre Nahost-Korrespondent der Hamburger Wochenzeitung DIE ZEIT“, er analysiert die globale Einbettung der Konflikte und Zustände in der arabischen Welt des Nahen Ostens, sein zentrales und mit Verve vertretenes Anliegen ist zu zeigen, was „westliche Politik im Orient anrichtet„:Wer den Wind sät“ von 2015)
Im Thriller schickt er Sophie Schelling in den Kampf mit den USA. Sie hat keine Chance, aber sie schlägt sich gut, gibt nicht auf, ihre Beharrlichkeit soll dem Leser die Augen öffnen über die Machenschaften von Militär und NSA („Never Say Anything“), über die Einbettung von Medien, über die totale Unterordnung von Menschlichkeit unter die Machtinteressen, über Drohnenkrieg und Enthüllungsplattformen.
Die Warnung ging Sophie nicht aus dem Kopf. Sie konnte schweigen oder sterben. Zu ihrem eigenen Erstaunen verspürte sie keine Panik, nicht einmal übersteigerte Angst. Weil sie mittlerweile gelernt hatte, mit Gefahren umzugehen? Die beinahe zu ihrem Alltag gehörten? Sie dachte in jede Richtung, erwog alle Optionen. Einfach alles hinzuwerfen, wäre gleichbedeutend mit Selbstaufgabe. Allein die Vorstellung bereitete ihr körperliches Unbehagen. Es gab nur einen Weg, sagte ihre innere Stimme: Dir selbst treu zu bleiben. Auch wenn Sophie sich keineswegs als Heldin sah.
Lüders müsste nüchterner Realist sein, der Roman darf aber – zumindest – hoffen lassen. Es gibt die kleinen Nischen, es gibt Länder, die sich ein Eckchen Souveränität bewahrt haben, es gibt den Leser, der Menschen wie Sophie Schelling braucht. Was der Leser nicht braucht, ist die Episode im “Berghain”-Club in Berlin, auch wenn auch hier “Schlachten” geschlagen werden.
Er suchte ihren Blick. «Eigentlich sollten Zeitungen Hintergründe liefern. Das tun sie aber nicht. Überall steht derselbe Quatsch, den ich längst im Internet gelesen habe. Durch deine Erfahrungen ist mir das zum ersten Mal so richtig bewusst geworden.»
«Weil Qualität Kosten verursacht, Günther. Ein Meinungsartikel ist schnell geschrieben. Recherche braucht Zeit und kostet Geld.»
«Du würdest mir also zustimmen, wenn ich sage: Da besteht eine Marktlücke?»
«Ja, natürlich. Das ist allgemein bekannt. Nur mag sie niemand füllen, weil völlig offen ist, ob sich das am Ende auch rechnet.»
«Sophie, da muss ich dir widersprechen. Dieser Niemand steht vor dir.»
Er führte aus, wie er sich das vorstellte: eine Enthüllungsplattform, die Nachrichten und Analysen veröffentlicht, die in den weich gespülten Medien untergehen. Geschichten wie die aus Gourrama. Geschichten wie die von Marc Lindsey. Geschichten wie jene, die Hassan Maliki in seiner Zeitschrift veröffentlichte. Wie hieße die noch gleich?
«Outland», warf Sophie ein.
Ja, was für ein schönes Wort. Es mache neugierig, wecke Lust auf Neues, verheiße einen Blick hinter die Kulissen.
Trotz der Vorhersehbarkeiten ist der Roman spannend, er ist auf der Höhe der Zeit, er leistet sich und den Helden ein bisschen Sentimentalität, die Idylle ist immer gebrochen. Der Stil hat sich dem Anliegen unterzuordnen, Lüders schreibt aber gut lesbar.
Der wolkenlose Sternenhimmel spiegelte sich im ruhig daliegenden See, als suche er sein Ebenbild. Sophie saß neben Helga auf der Bank eines Stegs, der wie ein Dolch in die Vollmondnacht hineinstach. Schlafende Enten trieben an ihnen vorbei, vom Wind bewegt, die Köpfe im Gefieder verborgen. Frösche quakten, in der Ferne bellte ein Hund. Spätabendliche Ruhe lag über dem idyllischen Ort, doch Sophie kämpfte gegen die jähe Einsamkeit, die sie befallen hatte. Mit großer Heftigkeit wurde sie von ihren Erinnerungen heimgesucht – wie sie mit Hassan Maliki unter dem Sternenzelt gesessen hatte, in seinem Heimatort, dessen Besuch sie beinahe mit dem Leben bezahlt hätte. Was würde sie geben, wäre er jetzt mit Helga an ihrer Seite. Er fehlte ihr, er fehlte ihr sehr. Fast sehnte sie Sturm und Regen herbei, um ihre Gedanken zu vertreiben. Warum starben immer die Guten viel zu früh, während die Verderber der Welt sich eines langen Lebens erfreuten?
«Woran denkst du?», fragte Helga.
«An die vielen guten Gelegenheiten, die ich nicht genutzt habe.»
Sophie sah das Lächeln auf Helgas Gesicht.
«Geht dir auch so, ja?»
2016 365 Seiten
Michael Lüders liest aus “Never Say Anything” (hier auch weitere Video-Links)
Kritik von Knut Cordsen in der kulturWelt von BR2
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