Nachrichten vom Höllenhund


Zeh
7. Oktober 2016, 18:42
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Juli Zeh: Unterleuten

zehunterlleutenErich Kästner sitzt im sommerlichen Eiscafé mit dem Schüler, der im Roman in der warmherzig sentimentalen Weihnachtsgeschichte „Das fliegende Klassenzimmer“ spielt. Juli Zeh alias Lucy Finkbeiner spaziert neben dem Bürgermeister durch das Dorf, das sie im Roman „Unterleuten“ nennt. Finten, die die Fiktion authentifizieren. Er kennt seine Internatsschüler, sie kennt ihre Einwohner. Alles ist echt: die Soziographie der Heimschule, die „Soziologie des Ruralen“. Nur: Juli Zeh ist nicht Erich Kästner.

Wenn man die Menschen, die man kennt, nicht mag oder nicht mit ihnen kann, sucht man sich neue. Das geht in der Stadt, wo genug andere leben und auf einen warten. Das geht nicht auf dem Dorf, wo es an Alternativen mangelt. In letzter Not kann man abwandern, verliert dann aber auch den Kontakt zu den wenigen Lieben. Wenn man ins Dorf zuwandert, wird man den Kontakt zu den Eingesessenen suchen, ihn aber nicht finden. Man will wieder weg. Das Dorf ist ein „Spinnennetz“, ein „Organismus“, eine „Maschine“, wo die Rädchen ineindergreifen müssen, damit es funktioniert, ein Kosmos, für die Bewohner der Kosmos. Von der Außenwelt droht Gefahr, zu viel Unbekanntes und deshalb Bedrohliches. Im Dorf kennt man sich und die Regeln, das gibt Sicherheiten, die nicht auszuhalten sind.Ein „Kampfplatz“ mit eingeübten Ritualen, mit vererbten Hierarchien, mit Randexistenzen und Platzhirschen. Juli Zeh liebt die Tierymbolik und setzt sie penetrant oft ein. “Das Tier von nebenan“, „Nachts sind das Tiere“, „Fallwild“ heißen die Kapitel. Der „Kampfläufer“ ist der Leitvogel.

Ständig glaubten alle, alles zu wissen, während in Wahrheit niemand im Bilde war.
Statt miteinander zu reden, erfanden die Leute Geschichten, die sich weitererzählen ließen.“ Kron kannte „das Gesamtwesen. Hätte man die Beziehungsfäden sicht­bar machen können, welche zwischen den Anwesenden hin und her liefen, wäre für den Uneingeweihten ein undurch­schaubares Knäuel zum Vorschein gekommen. Ein Experte wie Kron hingegen sah ein logisches System, klar struktu­riert wie ein Spinnennetz. Verwandtschaft, Bekanntschaft, Nachbarschaft, Freundschaft, Feindschaft. Liebe, Hass, Schuld, Neid, Abhängigkeit.

Kathrins Unterleuten las keine Zeitungen, sah kaum fern, benutzte das Internet nicht, interessierte sich nicht für Ber­lin, rief niemals die Polizei und vermied überhaupt jeden Kontakt mit der Außenwelt – aus einem schlichten Grund: weil es die Freiheit liebte. In den Jahrzehnten der sozialisti­schen Diktatur hatten die Menschen erfahren, dass Macht im Abstrakten und Irrealen waltete. Deshalb hielten sie sich lieber an das Reale und Konkrete. Der globalen Einschüch­terung, die den ganzen Planeten im Griff hielt, boten sie keine Angriffsfläche. Wer nichts las, schaute, klickte oder hörte, wurde auch nicht regiert, weder von Politikern noch von Informationen und Ängsten, und schon gar nicht von einer Kombination aus alledem. Unter der ruppigen Ober­fläche von Kathrins Unterleuten wohnte vielleicht keine Menschenliebe, aber doch eine Art Menschenfreundschaft.

Das Dorf gibt es überall, Juli Zeh hat ihre Kampfzone in das märkische Brandenburg platziert, in eine „Landschaft, die sich selbst abschafft“, als Prototyp mit einigen regionalen und historischen Spezifika. Der Untergang der DDR hat die Verhältnisse durchgeschüttelt, aber nicht verworfen. Nur die dörflichen Vertrautheiten und die Arbeitsplätze haben die Leute gehalten, jetzt gibt es keine Perspektiven mehr, die Arbeitsplätze sind prekär, nur die Zwänge haben überlebt.

Das Dorf heißt „Unterleuten“, ein schöner, ein mehrdeutiger Name. Den Plan findet man auf der Webseite „http://unterleuten.de/unterleuten.html“, auch die Bewohner  sind mit ihren „hervorstechenden Eigenschaften“ aufgelistet Im Roman lernt man sie ausführlich kennen, obwohl man sie eigentlich alle schon kennt, denn sie sind Typen. Je mehr man von ihnen erfährt, desto vertrauter werden sie einem und desto weniger mag man sie.

Um die „Kampfläufer“ gegeneinander in Stellung zu bringen, lässt Juli Zeh den Stein des Anstoßes ins Dorf fallen: Eine Windkraftanlage soll gebaut werden. Es werfen ihren Hut in die Arena der Interessen: der Umwelt- und Vogelschützer (Kampfläufer),   der an sich uninteressierte Investor, der im Dorf und im Roman selten auftaucht, der Altkommunist (Typ: Krüppel ohne Perspektive), der wendige Organisator (Typ: Koloss mit Kampfhund), der harmoniserende Bürgermeister als Anwalt der rarer werdenden Arbeitsplätze, die Alt- und die Neubürger, jede(r) mit eigenem Charakter versehen, jede(r) reibt sich am anderen wie an sich selbst.

Zeh verzögert dieses „unerhörte Ereignis“ 150 Seiten lang, wo sich bessere Bücher schon Gedanken über die Lösung des Konflikts machen. Und die Windräder geraten zunehmend zum Hintergrundrauschen am Horizont, dräuen als Profithoffnung und Ausverkauf, sind äußerlicher Katalysator, das Motiv wird aber klar überlagert von der „ruralen Soziologie“.

Zehs Verlegenheit ist es, dass sie nicht nur erzählen will, sondern vorführen. Sie ist es, die die Regeln des Kampfes versteht und erklärt. Sie ist die, die ihre Personen besser kennt, als diese sich selbst. „In Wahrheit verspürte sie Lust, alle Rollenspiele auf den Müll zu werfen und sich zu einer einfachen Formel zu be­kennen.” , „Unterleuten“ ist „lehr- und kenntnisreich zum Platzen … Die Wahrheit dieses, in vieler Hinsicht bewundernswerten, Werks ist seiner Schönheit immer voraus. Bei großer Literatur verteilen sich die Gewichte umgekehrt.“ (Ursula März, ZEIT) Der Roman liefert stets den Kommentar zur Erzählung. Das ist hilfreich, aber das tut man nicht, das ist Bevormundung des Lesers, das ist betreutes Lesen. Juli Zeh handelt die Themen der Zeit ab, in denen sich jeder Leser/jede Leserin wiederfinden kann:

Jule hatte geschworen, niemals eine dieser hysterischen Mütter zu werden, die ihren Kindern auf Berliner Spielplätzen mit Feuchttüchern und Vollkornkeksen hinterherrannten. Ger­hard wollte ein moderner Vater sein, der sich im Restaurant lautstark darüber beschwerte, dass der Wickeltisch auf der Frauentoilette stand. Arbeitsteilung und Kommunikation sollten über allem stehen. ‘Erst Paar, dann Eltern’ lautete ihr gemeinsames Motto. Schließlich gab es nichts Schlimme­res als überbesorgte Eltern, die nicht begriffen, dass Fort­pflanzung seit Tausenden von Jahren ohne Ratgeberlitera­tur, Holzspielzeug und lactosefreie Milch stattfand.” (Eltern) – “Ständig kämpften die jungen Frauen von heute darum, niemanden zu brauchen.” (Überforderte junge Frauen von heute) – “Den meisten Menschen fiel es schwer zu akzeptieren, dass das Leben eine Mischung aus alltäglicher Langeweile und sinnlosen Tra­gödien war.” (Das Leben als solches) – . “Seit die Wirtschaft gelernt hatte, die Sprache der Moral zu sprechen, lag das politische Engagement im Koma.” (WirtschaftPolitikMoral) – “Kron wusste durchaus, was Freiheit war. Ein Kampfbe­griff. Freiheit war der Name eines Systems, in dem sich der Mensch als Manager der eigenen Biographie gerierte und das Leben als Trainingscamp für den persönlichen Erfolg begriff. Der Kapitalismus hatte Gemeinsinn in Egoismus und Eigensinn in Anpasssungsfähigkeit verwandelt.” (Freiheit) – Einsichten, in den Mund gelegt.

Juli Zeh bevölkert ihr sozialpolitisches Seminar mit den alten und jungen Bürgern von Unterleuten. (Zu) viel wird hier angehäuft, (zu) viel wiederholt, zu wenig als bereits behandelt erkannt und weggelassen. Und so wächst sich der Roman zu epischer Breite an. Noch eine Situation und noch eine, vieles ist oder wird zum Klischee. Handlung steht nicht im Zentrum, auch die Bewegung der Personen ist der Idee untergeordnet. „Doch so effektiv es für die kompositorische Anlage auf den ersten Blick ist, den ländlichen Mikrokosmos als Spiegelfläche für zeitdiagnostische Thesen zu wählen, verweht der Plot bald wie märkischer Sand.“ (Sandra Kegel, FAZ) Die Spannung bleibt moderat, erhebt sich zum Schluss in den finalen Showdown der Platzhirsche Kron und Gombrowski, in pathetisch inszenierte Ersatzmythen incl .Gewitter. „Ihr Duell ist der Glutkern des Romans.“ (Ursula März, ZEIT) Ein „Thriller“ ist der Roman nicht, auch wenn das in manchen Rezensionen steht. Die vermeintlichen „Kindesentführungen“ lese ich als aufgesetztes Larifari. Natürlich ist Juli Zeh zu schlau, das ohne mitgelieferte Ironie stehen zu lassen. Deshalb kann man es auch mit gutem Gewissen lesen. Auch deshalb liest es sich leicht, weil Juli Zeh nicht auf die Seminarsprache setzt, ihre Sätze sind betont menschlich und im Reden und Denken einfach und lebendig. Leider ist „Unterleuten“ auch ein vorpolitisches Buch. „Jetzt wünscht man sich einen Band zwei herbei: Vielleicht mit einem Unterleuten, das ein Flüchtlingsheim bekommt.“ (Verena Lugert ) Ich denke an die TV-Serie.

Eigenen Reiz gewinnt „Unterleuten“ auch durch das Spiel, das Autorin und Verlag veranstalten. Da findet man Maximen des Managermotivators Manfred Gortz (der bei youtube darauf insistiert, dass es ihn wirklich gibt) als komische Leitmotive („Der eigene Schatten verschließt das Tor zum richtigen Weg.“) oder auch die Homepage von „Unterleuten“ mit – z.B. – der Speisekarte des „Märkischen Landmann“.

2016              635 Seiten

Leseprobe beim Luchterhand-Verlag

Essays und Artikel von Juli Zeh auf ihrer Homepage

Sieglinde Geisel, NZZ – Juli Zeh über ihren Roman

Juli Zeh über ihren Roman „Unterleuten“ (NZZ Standpunkte 2016) – Video

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