Nachrichten vom Höllenhund


Kirchhoff
16. Oktober 2016, 14:31
Filed under: - Belletristik | Schlagwörter: ,

 

Bodo Kirchhoff: Widerfahrnis

widerfahrnisEs müsste sie doch noch geben, die guten Dinge: das {Wahre, Schöne, Gute} Echte. Auch die Liebe, vor allem, die Jugend. Julius Reither ist um die 60, sein Kleinstverlag findet nicht mehr die Leser, die gute Bücher zu schätzen wissen. Abends klingelt es an seiner Tür: Leonie Palm, seine Nachbarin, auch sie hat ihren Beruf verloren. Verloren haben sie auch ein Kind: Leonies Tochter beging Selbstmord, Reithers Ungeborenes wurde abgetrieben. Das Leben scheint an ein Ende gekommen.

Zwei, die Pleite gemacht haben, Sie mit einem Verlag, Reither, ich mit einem Hutladen. Und das nicht nur, weil es keine Hutgesichter mehr gibt. Nein, weil die Leute meine Hüte nicht mehr brauchen, so wie sie Ihre Bücher nicht mehr brauchen, weil sie schon seit Jahren etwas ganz anderes wollen als handgemachte Hüte oder gute Bücher, das ist die Wahrheit.

Nach ein paar Gläsern Wein und vielen Zigaretten ist man bereit für den Aufbruch. Gemeinsam in die verlorenen Zeiten. Nach Süden. Der unvorherzusehende Start in die Novelle mit Leonies Auto, sie fahren abwechselnd, rauchen noch mehr, damit sie sich nicht entscheiden müssen. Jede Zigarette wird auch ausgedrückt, das Dingsymbol? Verpassen sie auch diese, die letzte (?) Gelegenheit? Sie siezen sich bis Seite 80. Sie hören Paul Anka von einer abgewickelten Kassette. Das gute Alte, die Manufactum-Novelle. Die Fahrt dauert ewig, vorbei an Tankstellen, Blicke auf Müll und Meer, leise Gespräche über die Vergangenheiten, “beide trugen sie ihre Sonnenbrillen, also gab es keine Blicke in die Augen”, unzählige Zigaretten, – “jeder wäre nur in seinem Gehäuse, ein Flüchtling vor dem Le­ben!”.

Behutsame Annäherung und genaue Worte dafür in Endlosschleifen. Sie sehen Flüchtlinge, die sich nach Norden schleppen, ich hielt das zunächst für ein zeitgenössisches Accessoire, ärgerlich in der Kombination mit der Wohlstandsflucht in die alten Zeiten. Doch erfährt die Novelle eine Wendung, als sie in Catania auf ein Mädchen treffen, wohl aus Nordafrika, eine scheue Streunerin, “verstockt” und “mit allen Wassern gewaschen” kommt sie ihnen vor. Das Flüchtlingskind schließt sich ihnen an, “fast wie ein Hündchen”, dem man etwas zu fressen gibt, “Eltern mit Tochter, hätte man meinen können”. Da passt Kirchhoff die Motive wieder zusammen, nach zwei Dritteln wird die Erzählung interessant. Schließlich findet man in Sizilien noch die echten Menschen, die guten, hilfreichen, ehrlichen: Flüchtlinge aus Nigeria, auf der Suche nach der Zukunft, im Norden.

Kirchhoff inszeniert die Novelle und kommentiert ständig seine Inszenierung. Ersteres ist gut für die Komposition, die Beschreibung ist legitim, Reither ist ja Verleger, Lektor, weiß, was man von Geschichten erwartet. Jedes Wort prüft er, der Erzähler auf seine Zulässigkeit, fragt, ob er es stehenlassen könne, ob es präzise sei, ob es echt sei. Dennoch nervt das Verfahren, man hätte das als Leser ja auch selbst gemerkt haben können.

Und der Kuss, der dauerte an, hatte seine eigene Zeit, die mit der übrigen Zeit in keiner Verbindung stand, ja Zeit war das falsche Wort dafür; es war eine einzige Aussöhnung mit dem Vergänglichen, man war Besiegter und Sieger zugleich, seinem Gehäuse entrissen und zugleich aufgehoben, bis die Consecutio Temporum dann doch in den Kuss ein­drang mit der Frage, wer ihn wie beendet. (…) Reither lag auf dem Rücken und weinte – und hätte das in einem Buch wohl auch so stehengelassen -, er weinte um sich, und Punkt. …

Wie warm war es tatsäch­lich, und wie warm war es ihm, das wäre dann ein An­haltspunkt, ob ihm etwas den Kopf verdreht hat – eine der Wendungen, die man in Büchern jüngerer Schreiber schon vergeblich suchte, als käme es auch nicht mehr vor, dass einem der Kopf verdreht wird. Von anderen Wen­dungen gar nicht zu reden, sein Herz verlieren, auf Wol­ken schweben, Feuer und Flamme sein, den Himmel auf Erden erleben, und was inzwischen sonst noch dem Schlager und evangelischen Pfarrern überlassen bleibt. Im Übrigen sah er nicht eine Wolke, es gab nur ein paar ferne Schleier auf seiner, der Fahrerseite, zu dünn, um auch nur gedanklich darauf schweben zu können, wie feiner Nebel, und demzufolge tauchte auch bald das Meer auf; hinter einem Küstenstreifen aus welligem Grasland erstreckte es sich in tiefem Blau. Da, schau, das Meer, sagte er, aber die Beifahrerin hörte ihn gar nicht. Leonie schlief – zwei Worte wie eine eben erfundene oder eine vom Himmel gefallene Wendung, Leonie schlief. …

Kapitel gegen Ende eines Buchs nehmen in der Regel an Umfang ab, wie die am Ende eines Lebens, das keine lan­gen ruhigen Zeiten mehr hat, nur noch solche von Ein­schnitt zu Einschnitt, der erste Freund, der zu Grabe ge­tragen wird, das letzte Umarmen eines Körpers, den man noch nicht kennt – Reither sah diese zwei, drei Schluss­kapitel förmlich auf sich zukommen, als ein Afrikaner in gelbem Sportanzug mit Kapuze neben ihm in die Hocke ging, auf seinen Rucksack gestützt, das Gesicht dunkler als der Nachthimmel, bis auf das Rötlich-Weiße in den Augen und die hellen Zähne – ein reines Wiedergeben von Phänomenen, wie der Afrikaner von ihm sagen könnte, dass er ein älterer, am Boden liegender Mann sei, Mitteleuropäer, blutend und an eine Weinflasche geklam­mert; am Boden zerstört wäre kaum zu viel gesagt. Can 1 help you? …

Bliebe jetzt nur noch zu klären, womit die Geschichte, die ihm noch immer das Herz zerreißt, enden sollte – wenn er die alten Maßstäbe anlegte, genau mit jenen Fal­ten, die aus der Mode waren.

Eine Novelle über das Verfertigen von Novellen in Zeiten der Flüchtlingskrise. Kunstvoll gearbeitet, penetrant mit dem Geist und der Sprache des Verflossenen kokettierend, “pathetisch in der Evokation großer Momente der Verzweiflung und des Glücks“ (Ulrich Rüdenauer, SZ), ein sehr bemühtes Spiel. Eine Altmännernovelle.

2016        225 Seiten

 Was mir durch den Kopf geht – Widerfahrnis.
Und warum gerade das?

(„Das widerfahrnishafte Ereignis irritiert uns, weil es in seiner positiven Bedeutung nicht innerhalb unseres faktischen Welthorizontes verstehbar ist. (…) Im Widerfahrnis werden wir mit der Frage nach dem eigenen Sein konfrontiert.“ (Martin Heidegger))

2-3

kirchhoff2P.S. IKEA ist einen Schritt voran. Die echte Familie, die sich Bodo Kirchhoff erschreiben will, sitzt auf dem Katalog-Titelblatt schon um den Tisch. Die Vereinnahmung der Flüchtlinge ist ohne novellistische Aufwendungen gelungen. Welch Glück, dass einem sowas Schönes widerfährt.“Not consumers“. Menschen. Ganz ohne Rauchen.

Ganz angekommen ist aber erst, wer nicht nur die deutschen Tische,sondern die deutsche Sehnsucht kennt: Der Immigrant auf dem Italien-Trip.


Kommentar verfassen so far
Hinterlasse einen Kommentar



Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..



%d Bloggern gefällt das: