Nachrichten vom Höllenhund


Hungaricum
27. Oktober 2016, 15:31
Filed under: Theater

Brüder Presnjakow: Hungaricum
Inszenierung: Jens Poth

Die Augen des ferngesteuerten Autos leuchten auf, bevor es sich auf dem Hochflorteppich festfährt. Hat das schon was zu bedeuten? Grenzverkehr? Am Schluss hängt der Vogel Greif in den Seilen und erklärt, er sei der Schauspieler Gunnar Blume. Der aber spielt laut Besetzungsliste einen „alten Mann“ und auch einen Mann namens Gyula (beides überzeugend).

Es ist niemand zu trauen im Hungaricum, die Darsteller und ihre Figuren trauen sich ja selbst nicht über den Weg. Wenn sie eine Chance im Leben haben wollen, sind sie völlig auf sich gestellt und müssen dem anderen nehmen, was sie gern hätten. Nichts hat einen Wert, alles hat Tauschwert. Gyula ist bei Toyota entlassen worden und ernennt sich kurzerhand zum Grenzpolizisten und holt sich mit fadenscheinigen „Argumenten“, was die grenz-hunga3überschreitenden Subjekte zu verbergen suchen. Bei dem als Mozart kostümierten Mann erschnüffelt er Drogen, einer jungen Kellnerin luchst er mit dem Hinweis auf Terrorgefahr ihren Laptop ab, als Michael Heuberger mit einem Suppntopf erscheint, will er „Einlagen“ herausfischen. Die Drogen landen zunächst in dem Täschchen der Kellnerin und später in den Händen Heubergers, der jetzt der Rumänienungar Mózes ist und mit läppischen Lei bezahlen will. Gerade noch war Heuberger mit seiner Frau Susanne Berckhemer vor den verschleierten Migranten aus Deutschland an den Plattensee geflohen. Sie ist dann als Gyulas Frau Éva einer internationalen Suppentauschbörse beigetreten – Gglobal Soup – und schickt die Reste ihres hunga4Gulasch (ist auch bloß eine Suppe!) nach Zürich oder, besser: in die Slowakei. Grotesk. Vielleicht ist alles auch anders, aber das ist egal, es sind satirische Grenzfälle.

Träume platzen, neue treten an ihre Stelle, denn das Leben ist prekär. An einen helfenden Staat ist nicht zu denken, denn der überstülpt das reale Elend des kleinen Mannes und der kleinen Frau mit dem Diktat der Größe der Nation. („Wir sind stolz darauf, dass unser Volk Jahrhunderte hindurch Europa in Kämpfen verteidigt und mit seinen Begabungen und seinem Fleiß die gemeinsamenWerte Europas vermehrt hat.“ – Isten, áldd meg a magyart/ Gott, segne den Ungar!) Ungarn ist nur Formatvorlage, Polen folgt geflissentlich, in Russland können die Autoren-Brüder Presnjakow ihre Groteske darüber schreiben, aber Russland hat nicht die schönen Grenzen. Die CSU södert sich an den heiligen hunga2Orbán heran. Doch die Realität ist, trotz des „Irrsinns“, nicht „so erschreckend relevant“ wie Judith Werner von „Samt& Selters“ glaubt. Deutschland ist überall weit weg, uns geht nichts was an. So sind wir nicht und so wollen wir uns nicht sehen.

Der Farce sind Politik & Gesellschaft eher schnurz, sie verliebt sich in sich selbst, lebt von Anspielungen, auch politische, popkulturelle, viel Zeitgeistiges, von allem ein bisschen, gut gequirlt. Ein Vexierspiel, irgendwo zwischen den Blicken könnte schon ein Moment Realität lauern. Doch die Vorstellung lenkt die Aufmerksamkeit sofort auf die nächste Absurdität ab. Der Leerlauf der Handlung wird mt vielenvielen panoptischen Einfällen der Brüder und des Regisseurs Jens Poth aufs Amüsanteste überspielt. (Man möchte nicht aufhören zu erzählen.) Die Bühne hat Nora Johanna Gromer mit dem grellen Charme der pannonischen Frühmoderne und flexibel möbliert, die Küchenzeile (samt Sparherd) ist hunga1transportierbar und deshalb auch als „Tauschwert“ zu gebrauchen, die Frauen sind hipprollig kostümiert. (Judith W. sieht das präziser: Sie sind „eingequetscht in Gymnastikstrampler, Leoprintleggings und Nuttenstiefeln“. Danke) Alle dürfen endlich mal aus ihrer Rolle fallen und die Komödiantin rauslassen. Silke Heise singt vom Nachtclub und wetteifert mit Susanne Berckhemer, wer leiser singen muss, Andine Pfrepper hat ihren Part gefunden und singt nicht chinesisch, macht sich aber als Flühlingslolle zurecht, Susanne Berckhemer erscheint als artistische „Einlage“. Usf. Die Männer stinken dagegen nicht ab. (Patrick O. Beck als statuarischer Diskurswerfer, zum Verbiegen) Die spermatischen Details gibt’s wie immer bei Samt & Selters, inzwischen nicht nur die „nüchterne“, sondern auch die bessere Theaterkritik in Regensburg – verglichen mit der Heimatzeitung.

„Hungaricum“ – man soll der Suppe nicht auf den Grund schauen, ein Stück für Silvester. Der Beifall war freundlich zu den Spielern, toste aber nicht wie bei der Premiere, er wurde wohl durch viel dem Publicum Rätselhaftes begrenzt.

Theater Regensburg – Aufführung am 23. Oktober 2016

Fotos: Jchen Quast

P.S. Für den After-Play-Talk böten sich die Lokale am Haidplatz an. Das „da Toni“ soll bis 23.00 Uhr geöffnet haben, wollte uns aber schon um halb Zehn nicht mehr empfangen, das „Al Kimono“ gegenüber hat laut Internet bis 23.30 offen, bietet auch viele internationale Gerichte zur Auswahl („Global Pizza“), das Elend der Speisen wurde kompensiert durch die Größe der Portion .Noch waren die Gläser nicht geleert, wurden schon die Stühle hochgestellt. Für das Weltkulturerbe mag es genügen, wenn die Stadt auf die Qualität der Stühle für die Freisitze achtet, mit der Kulturhauptstadt Europas wird’s so nix. (Vielleicht sollten die Sonntags-Theatervorstellungen schon um 17.00 Uhr beginnen.)


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