Nachrichten vom Höllenhund


Kapitelman
8. November 2016, 17:38
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Dmitrij Kapitelman:
Das Lächeln meines unsichtbaren Vaters

kapitelmanDmitrij Kapitelman ist mit seiner Familie nicht nach Israel ausgewandert, sie haben sich 1994 ohne rechte Überzeugung von Kiew nach Deutschland aufgemacht. Als russisch-jüdische Kontingentflüchtlinge sind sie in einem sächsichen Asylbewerberheim glelandet. Das war, als „man die Nazis noch an ihren Glatzen erkannte und der junge Dima vor ihnen davonlaufen musste. Jetzt sind die Nazis in Gestalt von Pegida wieder auf den Straßen und die Kapitelmans wissen immer weniger, ob ihre „Identität“ wirklich deutsch ist bzw. ob sie überhaupt eine haben.

Sie haben sich irgendwie eingelebt: der Vater als Verkäufer im „Magazin“  für östliche Lebensmittel, der Sohn hat studiert, er macht (als Dheema) Musik und schreibt Bücher. Im Mittelpunkt von   „Das Lächeln meines unsichtbaren Vaters“ steht eine Reise nach Israel. Ich „wollte wissen, wer ich bin und ob es einen Ort gibt, an den ich gehöre. Und hoffte, dass Israel vielleicht beide Antworten bereithalten würde“. Er müsste sich entscheiden, sich in das Land einzufühlen oder es zu analysieren. Als Student ist ihm der Kopf näher.

Ich verstehe Borja. Ja, Israels Gesellschaft, die so viele Feinde hat, muss beispiellos selbstsüchtig sein, um zu überleben. Aber selbst aus Motiven der reinen Selbsterhaltung ergibt der Sieg des Likud keinen Sinn. Er verspricht Sicherheit, aber verneint Frieden. Alles, was die Regierung im Wahlkampf aufbot, war Angst. Angst vor dem Atom-Iran, Angst vor einem Palästinen­serstaat. Aber eine außermilitärische Strategie im Atomkon­flikt blieb der Likud schuldig. Statt deeskalierender Verhand­lungen versprach Netanyahu großspurig noch mehr Härte gegen Palästinenser. Und diese Anti-Agenda genügte, um zu siegen. In einem von Angst und den Nutznießern der Angst regierten Heiligen Land.

Dima fährt auch in die besetzten Gebiete, nach Ramallah, nach Nablus, ohne den Vater, der sich zu unsicher fühlt. Er trifft dort auf junge Araber, die, erstaunlich, auch Menschen sind, er trifft auf Dina, eine Computerworkerin, die zwischen Haar und Kopftuch wechselt, einme Hoffnung, unerfüllbar, das Misstreun ist zu groß. Aber romantisch. Dima Kapitelman entdeckt in Israel nicht sich selbst. Wie sollte er. Aber die Reise mit seinem Vater hat ihn sensibler gemacht. Auch gegenüber seinem Vater, der nüchtern zu bleiben versucht. Voller „philosophischer Schwermut“ und „argumentativer Widersprüchlichkeit“ (Alex Rühle, SZ), unsichtbar, wenn man sich an ihm festhalten will, aber mit großem Herz. Der Vater, der nur Zahlen gelten lassen will und beteuert, er glaube an gar nichts, beginnt an der Klagemauer zu beten. Eine der vielen irritierenden Erfahrungen des Erzählers.

Als wir an diesem lag zum dritten Mal beim gleichen Gra­natapfelsaftdealer unseren Stoff kaufen, möchte er wissen, wo wir herkommen. Und was uns nach Israel gebracht hat. Mitt­lerweile geht mir die Antwort seltsam kompakt von der Zun­ge: »Wir schauen uns das Leben an, das wir um eine Ausreise verpasst haben. Wir waren eigentlich schon fast Neuisraelis, dann hat mein Vater uns doch nach Deutschland geschleppt.« Später im Bus nimmt Papa den Faden wieder auf: »Ich habe uns also nach Deutschland geschleppt?«
»Hast du das etwa nicht?«
»Doch. Und ich hatte sehr gute Gründe dafür.« »Dass Mutter keine Jüdin ist?« »Ja, denn du wärst -«
»Ja, ich weiß schon. Jude zweiter Klasse. Was ist, wenn ich dir sage, dass ich mich momentan sehr jüdisch fühle? Genau hier in Israel.«
»Hier bist du kein Jude, in Deutschland bist du einer.« Papas ewig widersprüchliche Relativierungen über seine, vor allem aber meine Zugehörigkeit zum Judentum nerven und irritieren mich. Ich schalte auf Trotz.
»Ach, so einfach ist das also? Und wenn ich hier aufgewach­sen wäre und Hebräisch sprechen würde?«
»Dann wäre das anders. Du hast auf jeden Fall mehr jüdi­sches in deiner Seele als Moldawisches.«
»Und diese Seelenanteile bemisst man noch mal wonach?« »Das merkt man dir an.«
»Woran?«
»Daran, was für eine Art Mensch du bist.« »Und was für eine Art Mensch bin ich?« »Ein jüdischer Mensch.«
Gut, dass wir in aller Klarheit drüber gesprochen haben, Papa.

„Das Lächeln meines unsichtbaren Vaters“ ist kein Roman, sondern eine Spurensuche (auch in die Zukunft) mit autobiografischem Hintergrund. In einer Zeit, wo mancher vom Weg Abgekommene nach der Leitlinie der nationalen Zugehörigkeit sucht, stellt sich die Frage für Juden (in Deutschland) in extremer Form. Katja Petrowskaja erforscht die Spuren ihrer Familie, die auch nach Kiew führen („Vielleicht Esther”), Adriana Altaras hat ihre Flucht aus Jugoslawien nach Deutschland beschrieben und ist überrascht, wie sehr ihre jüdische Identität braucht und die Rituale zelebriert („Titos Brille”). Dmitrij Belkin hat jüngst ein Buch mit ähnlichem Thema, der „Grauzone verschiedener Identitäten“ (Robert Probst, SZ) veröffentlicht. Dmitrij Kapitelman erzählt amüsant, ist offen für Wendungen, lässt den Leser in vielen oft heiteren, in Palästina auch bedrückenden Episoden die oft skurrilen Wege des „Identitätskaters“ miterleben.

 2016         285 Seiten

Leseprobe beim Hanser-Verlag


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