Niña Weijers: Die Konsequenzen
Minnie Panis wird als „Star in der niederländischen Kunstszene“ vorgestellt. Gerade hatte sie mit einer Fotoserie in der Vogue Aufsehen erregt, in der sie sich schlafen ablichten ließ und wo ein „blauseidenes Lanvin-Hemdchen eine zentrale Rolle“ spielte. In „Minnie sleeping“ zeigt sie sich „als vollkommen eigenwillige Antikünstlerin, die sich über die ganze Idee von Subversivität erhebt und genau dort, im Herzen des Kommerzes, einen ‚dritten Raum’ des Widerstands findet“. Zuvor verfolgte sie ein „Projekt“, das „exakt 2095 Fotos von ihrem eigenen Abfall“ ergeben sollte. Ende 2007 hatte Minnie, „mehr oder weniger von einem Tag auf den anderen, beschlossen, alles, was sie besaß, zu verkaufen. Es hatte mit ihrer gefakten Versace-Couch begonnen; ein grässliches Ding – blauer Satin mit aufgedruckten französischen Lilien – von unglaublichen Ausmaßen, das sie einmal in einer Anwandlung bei eBay gekauft hatte. Sie war vernarrt darin gewesen, in seine protzige Dekadenz, die ausgesprochene Hässlichkeit, die zum Geschmack einer bestimmten, rasch reich gewordenen Klasse gehörte, für die dieser neu erlangte Reichtum gleichbedeutend mit allem war, was groß, glänzend und weich war – und schnell natürlich, soweit es Fahrzeuge betraf. Die Couch war, alles in allem, ein durch und durch ironisches Objekt. Alle hatten angesichts des Teils grinsen müssen; man begriff, wie die Hässlichkeit vom Kontext aufgehoben wurde, so dass jetzt sogar Schönheit von ihm ausging, auch wenn es die unprätentiöse Schönheit eines plumpen alten Hundes war”. “Nothing personal” war unerwartet erfolgreich. Pressestimme: “In erster Linie ist es ein extrem intimes und raues Selbstporträt einer Frau auf der Suche nach den äußersten Konsequenzen ihres Liebeskummers. Am Tag nach dem Verschwinden ihres Liebsten fragt sie sich, ob es gelingen könnte, ihr ‘ganzes Leben zum Verkauf anzubieten’, um ‘in der gespiegelten Leere gleichzeitig den ganzen Mistkrempel aufzulösen’. (…) Anhand ihres Besitzes rekonstruiert und dekonstruiert Panis ihr Leben.”
Und jetzt, 2012, schließt sie vor Notar Specht einen Vertrag mit einem befreundeten Fotografen: “Ab einem von [dem Fotografen] genauer zu bestimmenden Datum im Februar wird er der Unterzeichneten, Minnie Panis, an einundzwanzig aufeinanderfolgenden Tagen mit seiner Kamera folgen. Er wird mit der größtmöglichen Diskretion vorgehen und unter keinen Umständen in gleich welche Situation eingreifen. Keine der beiden Parteien wird während des Zeitraums zwischen dem 1. Februar und dem 21. März 2012 Kontakt zur anderen aufnehmen. Die Unterzeichnete wird in diesem Zeitraum Amsterdam nicht verlassen. Das einzige ihr gestattete Transportmittel ist ein Fahrrad.” “Das laut Klappentext “vielleicht riskanteste Experiment ihrer Karriere”.
Das alles ist nicht originell, aber es greift doch den Diskurs über die rasend verzweifelten Zwickmühlen von kommerzialisierter Kunst auf. Niña Weijers schreibt sich durch Namen und Aktionen, von Marina Abramović über Andy Warhol bis zu einer Barfrau, die “Dissertationen in Plastikmappen [hatte] rahmen lassen und sie als Readymades an die Wände einer Galerie im East Village gehängt. »Science 1-15«, hatte sie die Serie genannt”.
Am 15. Januar erhält sie einen rätselhaften Brief von Dr. J. Johnstone, Direktor einer Institution namens C B T H. Der Brief sollte Minnie Panis’ Leben verändern – und er verändert vor allem den Roman. Dr. Johnstone war der Arzt, der dem Frühchen Minnie ins Leben half, sie mit eigenartigen Methoden aus ihren seltsamen Absenzen lockte, und er tritt wieder in ihr Leben, als Minnie Panis “zum dritten Mal aus ihrem eigenen Leben verschwand. Es war der 11. Februar 2012, der Tag war klar und kalt, aber nicht kalt genug.” Minnie bricht beim Eislaufen ein und wird gerade noch gerettet. Es geschah im Zusammenhang mit ihrem Kunstprojekt, doch die Kunst spielt im weiteren Verlauf des Romans kaum noch eine Rolle.
In Rückblenden erzählt Niña Weijers vom Verschwinden des kleinen Mädchens, von ihrer fremden Familie, von den Therapien des esoterisch angehauchten Doktors. „Menschen, die ihr gesamtes Leben hinter sich lassen, spurlos verschwinden, ganz neu beginnen. Die Möglichkeit hat ihren Reiz: ein Leben auf rewind, alles in umgekehrter Reihenfolge, so dass es sich selbst löscht, bis man wieder ein sauberes Baby ist oder sogar noch weniger als das, ein Embryo ohne Oberhaut, ohne Fett, ohne Skelett, ohne Hirnwindungen. Ein Wesen, das sich noch für nichts entschieden hat, noch nichts unterlassen hat, noch nicht von purem Pech und ebenso irrsinnigen Momenten des Glücks überfallen worden ist. Von dort aus neu beginnen. Ohne Eltern, die einen falsch erziehen, ohne kindliche Ängste, ohne Navigationsfehler. Selbst einen Namen aussuchen, nicht langsam zu dem werden, der man ist, sondern es schon sein, ein Bausatz ohne fehlende Teile, falsche Berechnungen oder Konstruktionsfehler. Keine Willkür. Keine Verpflichtungen. Niemand sein, nirgends sein. Das Einzige, was der Fisch zu tun braucht, ist sich im Wasser zu verlieren.”
Mir gelingt es nur in Ansätzen, Minnie Panis’ Künstler-Sein mit den Verwerfungen ihres Lebens in Verbindung zu bringen, die Spuren ihrer Selbstentfremdung sind zu subjektiv, verzwirlen sich mit Esoterik und Maya-Kalender-Zyklen. Selbst der Titel, „Die Konsequenzen“, ist vieldeutig und erschließt sich nicht auf Anhieb. Für die These des Buches, die Künstlerin gehe für ihre Kunst an die Grenzen, bleiben die Belege aus, die Werke wirken wie Abziehbilder aus einer Anthologie der Gegenwartskunst, Minnie Panis’ Projekte sind nicht eigenständig und schon gar keine lebensverschlingenden Grenzfälle. Die Gedanken darüber, wo die Grenzen zwischen Kunst und Leben sind und ob Leben und Kunst verschmelzen können, verlieren sich im überhobenen Anspruch von Niña Weijers. Beide Teile des Romans sind in ihrer Subjektivität interessant, sie finden nicht zusammen.
2014 360 Seiten
Das Original-Cover zeigt die junge Frau in ihrer Nackheit. Weshalb greift man das in Deutschland nicht auf?
Leseprobe beim Suhrkamp-Verlag
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