Nachrichten vom Höllenhund


América
13. Januar 2017, 17:47
Filed under: Theater

América
Nach dem Roman von T.C.Boyle
Inszenierung: Stefan Pucher

Der (deutsche) Titel vereint, was nicht zusammengehört. América ist der Kontinent, ist der dominierende Staat und América heißt die 17-jährige Mexikanerin, die mit ihrem Mann Cándido illegal in Kalifornien zu leben versucht, da ihre Heimat das Elend ist. Wenn sie in den USA ein Kind kriegt, wird es US-Bürger(in) sein. Das Kind nennen sie „Rette uns“ – Socorro. (Aber wie könnte man es als anmelden, wenn man selbst illegal ist?) Der Originaltitel betont das Trennende: Der „Tortilla Curtain“ markiert die Grenze, zwischen Arm und Reich, zwischen Leben und Sterben, zwischen uns und den anderen, denen aus dem Süden (woher sonst?), die am3toleriert sind, solange sie sich kontrollieren und ausbeuten lassen – und solange sie nicht „zu viele“ werden.

Was im Roman bedrückend fasziniert, ist das grenzenlose Elend von Cándido und América. Immer, wenn man hofft, der Tiefpunkt sei erreicht, stürzt die nächste, schlimmere Katastrophe auf sie. Hunger und Arbeitslosigkeit ließen sich ertragen, es könnte ja ein Ende finden, die Vergewaltigung lässt die Hoffnung sogar auf das Kind schwinden. Weshalb muss auch noch das Feuer kommen und der Erdrutsch? Biblische Schicksalsschläge, doch der Glaube ist keine Hoffnung mehr.

Stefan Pucher und seine Bühnenbildnerin Barbara Ehnes verbauen América (Sylvana Sedig) und Cándido (Gonzalo Cunill) von Anfang an alle Möglichkeiten. Sie stecken sie in Käfige, hinter Glas, Schau-Objekte wie die „Wilden“ in Dioramen aus einer längst verloren geglaubten Zeit. Reglos harrt América aus, fast so starr wie der ihr beigegebene ausgestopfte Kojote. Die am4Gleichsetzung stammt von T.C.Boyle. Nur in wenigen Szenen wird das Leid laut, verzerrt den Menschen, Sylvana Sedig wird zur schmerzensreichen jungen Frau und Mutter. Eindringlich. Wenn man die „Eindringlinge“ nicht mehr sehen will, schieben sie Tafeln mit Bildern des amerikanischen Traums vor die Käfige: Pool mit Badeentchen, Supermarkt mit Corned Beef. Der Coyote wird später als Bar wieder auftauchen.

Vor den Guckkästen agieren die Herren (mit Dame) von Arroyo Blanco, der Siedlung nahe der „Natur“ für die „White Collars“. Im Gegensatz zu den Mexikanern haben sie die Sprache und die Floskeln, mit denen sie sich auf der Bühne (wie im Leben) verständigen können. (Das sprachlose Elend lässt sich besser im Roman erzählen.) Delaney Rossbacher, Verfasser von Naturkolummnen, liberal, umweltbewusst, humanistisch, alle „Werte“ von der Ostküste nach Kalifornien geschleppt – und alle eher Gefühl als fundiert: Amerika eben. Delaneys selbstgeglaubte Attitüden geraten schon ins Trudeln, als sich der Kojote über den Familienhund Osbert hermachen und als immer mehr Migranten auftauchen, hat er nichts mehr gegen die Um-Mauerung der naturnahen Siedlung zur gated community. Seine Frau Kyra ist Immobilienmaklerin, fallende Hauspreise verursachen ihr stärkere Ohnmachtsgefühle als der Verlust von Hundundkatz. Wiebke Puls spielt sie als taffe Klischeeschnepfe (also realistisch), Jan Bluthardt, Gast an den Kammerspielen, bleibt als Delaney im Schatten von Wiebke Puls und kann sich auch sonst nicht durchsetzen.

Ein Roman, der auf Straßen, Plätzen und in Canyons spielt und die Schauplätze wechselt, muss am1im Theater auf Sprache verdichtet werden. Viel Geschehen lässt Pucher (von Peter Brombacher oder Samouil Stoynaow) erzählen. Lesung aus dem Roman. Ein bemühter Behelf. Authentizität schaffen viele Projektionen, Schautafeln, Einspielungen; die Bühne treibt beträchtlichen Aufwand, damit das Publikum auch etwas zum Betrachten hat. Liegestühle, illuminierte Kaktusse oder Stetson-behütete Rednecks kolorieren das aus dem politischen Weste(r)n bekannte Mia-san-mia-Gehabe. Ein angefressenes Exemplar darf im Video über die Unerlässlichkeit von bemauerten Grenzen schwadronnieren und in einer entlarvenden Kompilation zelebriert Donald POTUS Trump seine „Absicht, eine Mauer zu bauen“. Seine Parteigänger johlen. Ja, das Thema des Romans von 1995 ist verdammt aktuell, auch hierbeiuns.

Zur Halbzeit wird (statt einer Pause) die Szene umgebaut, in den Zuschauerraum erweitert, am2wodurch ein Teil des Publikums in die auf der Bühne eingerichtete Bar „El Coyote“ umziehen muss/darf. Der bunte Kneipenprospekt ist hübsch anzusehen, der dramaturgische Gewinn erweist sich als gering. Man kann die Gäste auf Videos ausmachen, einige dürfen Stellen aus dem Roman vorlesen (und machen das gut), der Vorbau wird als „Schneise“ kaum bespielt. Man kann das symbolisch sehen. Leider findet Pucher kein Ende. Katastrophen brechen herein, überwältigen, knallen. Pucher lässt lesen, zu lang, zu gestreckt, der Knall verhallt. Schade.

Trotz großen technischen Aufwands kann das Stück den Roman nicht ersetzen, nicht einmal abbilden. Aber es zeigt, dass jenseits der Bühne ein guter, geschickt komponierter, mit Verve geschriebener, wichtiger Roman steckt. T.C.Boyle ist der aktuelle Erzähler der Aufgeblasenheit des amerikanischen „Traums“. Dieser „Traum“ lässt sich nicht wegschreiben, er drängt gerade wieder in einer verdammt archaischen Variante ins Rampenlicht. – Volles Haus.

Münchner Kammerspiele – Aufführung am 6. Januar 2017

barronDas gleißende Gegendiorama liefert die amerikanische (Schein-)Realität. Der Junge wirkt aufgesetzt, der Coyote wird von einem ausgestopften Löwen gespielt. Man beachte die verstreuten Limousinen.


Kommentar verfassen so far
Hinterlasse einen Kommentar



Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit Deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Twitter-Bild

Du kommentierst mit Deinem Twitter-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit Deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..



%d Bloggern gefällt das: