Elena Ferrante: Meine geniale Freundin
Lenù und Lila im Rione-Land. Ferrante, die sich wie ihre Erzählerin Elena nennt, schreibt die introspektive Chronik des diventare adulta, von der Phantasiewelt der Grundschulzeit bis zur mittleren Reife, von der verlorenen Puppe zum gefundenen Märchenprinzen, von der zögerlichen Annäherung bis zur unausweichlichen „Auflösung“ der Mädchenfreundschaft.
Lenù, die Tochter des Pförtners, ist die gute Schülerin, die viel weiß, weil sie viel lernt, die ziemlich unkritisch mitnimmt, was man ihr zum Lernen vorsetzt, egal ob Latein oder Griechisch oder Theologie. Sie darf aufs Gymnasium, bleibt aber die staunende Chronistin des Geschehens. Raffaela – oder Lila – die „geniale Freundin“, Tochter des Schusters, weiß aus eigenem Antrieb viel, sie ist die Eigenständige, die Schule ist nichts für sie, da man dort nur Unwesentliches erfährt, Lila hilft beim Schuhemachen. Sie will nicht in der Bildung, sondern im Leben ankommen.
Nichts Besonderes. Die Geschichte zweier BFFs, die sich im Kontrast ergänzen, die sich brauchen, um sich zu spiegeln, zu bestätigen, um zu sich selbst zu kommen. Erstaunlich ist das Setting: Elena/Lenù erzählt im Abstand von Jahrzehnten. Sie ist in die Jahre gekommen, weiß aber doch noch jede Kleinigkeit: Gespräche, Gedanken, Gefühle, bei jedem Schritt ist der Leser dabei, in der Eisdiele, der elterlichen Wohnung, der Schule, beim Spaziergang, beim Stelldichein. Das könnte langweilig werden. Lenù weiß auch, was passiert, wo sie gar nicht dabei war, etwa in Lilas Familie. Seltsam ist auch die Sprache der Erzählerin. Sie beschreibt die fantasierte Welt der Kinder in der nüchtern elaborierten Diktion der Gebildeten.
Ich tat, wie Lila mir geheißen, und Gino verschwand. Es war also keine wahre Liebe, doch das machte mir nichts aus. Der Austausch mit Lila war für mich so erfreulich gewesen, dass ich mir vornahm, mich ganz und gar ihr zu widmen, besonders im Sommer, wenn ich mehr freie Zeit haben würde. Bis dahin wünschte ich mir, dass dieses Gespräch beispielgebend für alle unsere künftigen Treffen sein möge. Ich fühlte mich wieder klug, als wäre etwas gegen meinen Kopf geprallt und hätte Bilder und Worte wiederauferstehen lassen.
Weil die Sprache aber präzise ist, wirkt das nur selten abgehoben oder maniriert. Es gibt noch eine zweite Sprachdiversität: den neapolitanischen Dialekt und das Italienische, das nicht jedem zur Verfügung steht und ein Mittel zu sozialer Abgrenzung ist. Der Dialekt ist das Authenische, stellt aber oft nur Formeln und Floskeln bereit. In der Übersetzung kann das nicht wiedergegeben werden (im Original, macht Ferrante das auch nicht), aber Ferrante achtet genau auf die Sprechweisen.
Diese Momente regten mein Herz und meinen Kopf an: Lila und ich mit all diesen wohlgesetzten Wörtern. An der Mittelschule gab es nichts Vergleichbares, weder mit meinen Klassenkameraden noch mit meinen Lehrern, es war traumhaft schön. Nach und nach überzeugte mich Lila davon, dass man in der Liebe ein wenig Sicherheit nur erlangen könne, wenn man den Anwärter auf eine harte Probe stellte. Sie riet mir, plötzlich wieder in den Dialekt verfallend, Gino zwar zu erhören, doch unter der Bedingung, dass er mir, ihr und Carmela den ganzen Sommer lang Eis kaufte.
Wenn „Meine geniale Freundin“ nur die Geschichte zweier ragazzine del popolo wäre, würde mich das wenig interessieren. Aber Ferrante macht auch die Sozialpsychologie im Italien der anni cinquanta anschaulich. Der Rione, das Stadtviertel, ist die Welt, verschlossen von innen und nach außen und mit rigiden Regeln. Die zwei Mädchen lernen die Normen früh, verstehen sie aber erst nach und nach. Der Rione ist eine gewaltbereite Männerwelt. Zur Macht gehören Geld, Schlagkraft und Seilschaften. (Die Camorra wird nur am Rande angesprochen, erst am Ende steht sie auf verräterischen Sohlen im Raum.) „Stellte man Gerechtigkeit denn nicht mit Prügeln her?”, fragt sich Lenù. “Als mein Vater gerade damit drohte, mir beide Beine zu zerschmettern, falls ihm zu Ohren kommen sollte, dass ich noch einmal mit Pasquale Peluso allein unterwegs war, als wäre dies das größte Problem, gerade da ertönte ein gellender Schrei, so dass es uns die Sprache verschlug (…)Als mein Vater diese merkwürdige Neuigkeit hörte, bedachte er den dichtenden Eisenbahner mit den wüstesten Beschimpfungen. Meine Mutter erklärte, jemand müsse sich darum kümmern, diesem Scheißkerl seine Scheißfresse einzuschlagen.” Der Macho-Kampf explodiert in den „Krieg“ der Silvesterschießereien. Die Mädchen “waren nicht von Interesse, spielten nicht die geringste Rolle”. Ihnen bleibt der Traum vom Reichtum und von den Kerlen, die bella figura machen und sie zur Prinzessin erwählen. Davon handelt ein Großteil des Kapitels „Frühe Jugend“. Die Mütter haben nichts zu sagen und agieren lieblos und desillusioniert. Und das Schlimme ist: Die Mädchen werden erwachsen und verfallen damit unweigerlich ihrer Bestimmung.
Wie immer gibt es zwei Verhaltensmöglichkeiten: Anpassung oder Aufruhr, in der zahmeren Form: Widerspenstigkeit. Lenù setzt auf Bildung als Weg nach außen, Lila wird kratzbürstig und schafft sich damit ein lebbares Fundament der Fügsamkeit. Sie kennt die Regeln und sie versucht sie auszureizen, sie neu zu definieren, um sie dann ertragen zu können. „Lila richtete sich gründlich in ihrer Rolle als Stefanos Verlobte ein. Und auch in den Gesprächen, die wir führten, wenn ich etwas Zeit erübrigen konnte, schien sie stets zufrieden mit dem zu sein, was sie geworden war, als würde sie darüber hinaus nichts mehr sehen, nichts mehr sehen wollen, außer Hochzeit, Haus, Kinder.” Das macht Lilas Faszination für Lenù aus, ihre „Genialität“, das zu verstehen bemüht sie sich all die Zeit. Die Verachtung, das Herabschauen ist nicht vom Neid zu trennen.
Und das Schlimmste daran war meine feste Überzeugung, dass ihr Los besser sein würde als meines. Stärker denn je spürte ich die Bedeutungslosigkeit meiner Ausbildung, mir wurde klar, dass ich diesen Weg Jahre zuvor nur eingeschlagen hatte, um in Lilas Augen beneidenswert zu erscheinen. Dabei maß sie Büchern nun keinerlei Wert mehr bei. Ich hörte auf, für die Prüfung zu lernen, tat in der Nacht kein Auge zu und dachte über meine spärlichen Erfahrungen in Liebesdingen nach. Ich hatte Gino einmal geküsst, hatte kaum Ninos Lippen berührt, hatte die flüchtigen, schmierigen Berührungen seines Vaters erduldet, und das war’s auch schon. Lila dagegen würde im März, mit sechzehn Jahren, einen Ehemann haben und ein Jahr später, mit siebzehn, ein Kind und dann noch eins und noch eins und noch eins. Ich fühlte mich wie ein Nichts und weinte verzweifelt.
»Was passiert mir hier gerade, Lenù?« fragt Lila bei hrer Hochzeit, erstmals verunsichert. Jahrzehnte später ist Lila verschwunden. „Sie hat sich aus allen Fotos herausgeschnitten, auf denen wir gemeinsam waren, auch aus denen meiner Kindheit.” Elena sucht die Vergangenheit und schreibt sie auf, über 1700 Seiten, vierbändig. Lesen!
2011 420 Seiten
Leseprobe beim Suhrkamp-Verlag
Eva Mattes liest aus dem Roman auf zehnseiten.de (20 Minuten)
Diskussion im SRF-Literaturclub
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