Nachrichten vom Höllenhund


Bierbichler – Mittelreich
27. Februar 2017, 16:28
Filed under: - Belletristik, Theater | Schlagwörter:

Josef Bierbichler: Mittelreich

mittelreichDas Leben bietet genug Höhen und Tiefen, Aufs und Abs, viel Arbeit, viel Bier, ein bisschen – naja – Liebe, am besten ist es, wenn es seinen geregelten, bekannten, kontrollierbaren Gang geht. „Dann wird er ein bisschen glücklich.” Mit einiger Mühe gelingt es, die Routinen des Alltags in den Griff zu kriegen, mit Stöhnen lassen sich die Stürme der Natur eingrenzen, an guten Tagen ist Weihnachten oder es wird die Sau geschlachtet oder beim Feuerwehrball werden die Masken prämiiert. („Aber wie dem auch war, heute spielt es schon keine Rolle mehr, und es deutet viel darauf hin, dass diesmal die Hitlermaske gewinnen wird, denn es ist deutlich zu sehen, dass in dem braunen Anzug, den die meisterhaft geschminkte Per­son anhat, nicht ein Mann, sondern eine Frau steckt und noch dazu eine mit gewaltigem Vorbau.”), in schlechten Zeiten, und von denen gibt es mehr, hilft die Gläubigkeit.

Josef Bierbichler erzählt die Geschichte des Seehofs und des Seewirts Pankraz, seinem Vater, vom 1. Weltkrieg bis in die 80er -Jahre. Die zwei Kriege finden in der Ferne statt, ihre Auswirkungen werden weniger politisch oder ideologisch eingeordnet, die Ökonomie steht vorn im Denken. WK1 beginnt zur Erntezeit, wo man die Knechte dringend bräuchte, er beschert dem Hoferben eine Verwundung.

In der folgenden Woche hat der Pankraz schwer mit sich gerungen. Er wollte unbedingt Sänger werden, aber er hatte Angst davor, nicht mehr abgesichert zu sein. Er hatte nicht die geringste Vorstellung, wie er seinen Lebensunterhalt bestreiten sollte, wenn er nicht mehr zu Hause sein konnte. Er hatte nichts gelernt, außer daheim zu arbeiten. Er fühlte sich völlig überfordert. Drum hat er nach einer Woche seinen Berufswunsch aufgegeben und dem Vater zugesagt, den Hof zu übernehmen: aus reiner Existenzangst.

Von dieser Entscheidung erholt sich Pankraz nicht. Er fühlt sich vom Leben überfordert, sine Not wird existenziell. Als ein Sturm das Hausdach abdeckt, bricht er zusammen.

Ihm war noch nie sehr wohl dabei, dieses große Haus samt Frau und Kinder zu versorgen, das ist nicht seine Art. Er hat von Anfang an gespürt, dass ihn das überfordert. Sein Ziel lag im­mer ganz woanders. Meine Wünsche haben mich geprägt, nicht meine Herkunft, denkt er, man kann sich nicht verstel­len und so tun, als ob man etwas könnte, was man gar nicht will, selbst wenn man es bekommen hat. (…)Die Frau spürt, wie der Mann entgleist und ihr entgleitet. Er ist buchstäblich aus dem Häuschen. Er sieht sich selbst und alles, was um ihn herum und was ihm lieb ist, nahe am Ruin, und ihm fällt kein Mittel ein dagegen. Seine Gefühle und natürlichen Reflexe bestehen nicht im Aufbegehren und im Widerstand gegen den Angriff der Natur, sondern in einer Ergebenheit ihr gegenüber, einer Dreingabe in das Schicksal, in einer fatalistischen Hingabe an die Verzweiflung. (…) Sie stößt den weinerlichen Menschen weg von sich und schreit ihn an – und erkennt sich beinah selbst nicht mehr: Was ist denn los mit dir? Ist das eine Art? Du kannst dich doch nicht einfach gehenlassen! Es geht nicht um das Haus und nicht um dich. Jetzt geht es um die Kinder. Die müssen dich erken­nen können. Und du versteckst dich in dir selbst! Dann schlägt sie mit der Hand auf seine Brust, schlägt immer wie­der zu damit und ballt die Faust und schreit: Wach auf! Wach auf, Mann! Reiß dich zusammen! Reiß dich raus aus deinem feigen Leid, deinem Selbstmitleid! Ich kann dich sonst nicht mehr ertragen.

WK 2 entlässt Pankraz mit einem Trauma. Erst spät und beschämt erzählt er seinem Sohn, wie beim Einsatz in Belgien Kinder von der SS grausam vergast wurden. Stärker zu spüren sind die äußeren Folgen des Kriegs: Zwangsarbeiter, Vertreibung und Verteilung von Flüchtlingen treffen auch die Provinz, holen sie in das Weltgeschehen. Die ewige Ordnung ist dahin, die neue ist schwer zu verstehen, aber was bleibt übrig: Man arrangiert sich.

Ein paar Jahre lang hatten sie schweigen müssen. Nur wenn beim Wirt alle Vorhänge schon zugezogen waren und kein Fremder mehr in der Gaststube saß, wenn genug Bier und ein paar Schnäpse die weichen Birnen noch weicher hatten werden lassen und die Sehnsucht nach Rechtfertigung des Gewesenen noch sehnsüchtiger geworden war – dann war auch in den letzten Jahren schon hie und da etwas von der trotzigen Aufsässigkeit zu spüren, die dem aufgepfropften Schuldgefühl mannhaft Paroli zu bieten bereit war, das alle haben sollten, wenn es nach den Besatzern gegangen wäre, aber keiner so richtig spüren konnte und wollte, der trotz allem unverbogen und standhaft geblieben war.

Auch beim Seewirt war im obersten Stockwerk des Hauses in zwei Gästezimmern eine fünfköpfige Flüchtlingsfamilie einquartiert worden, bestehend aus zwei Großeltern und ih­ren Enkelkindern im Alter von sechs und zwölf Jahren und deren von einer Kinderlähmung in den Rollstuhl gezwun­genem Vater. Es war nahezu unmöglich, aus einer solchen Konstellation nützliche Arbeitskraft zu ziehen. Das erkannte der junge Seewirt sofort. Es war also in seinem Haus diesbe­züglich eine Beschwernis einquartiert, aus der keinerlei Pro­fit, am wenigsten ein Ausgleich für den Verlust der zwei nicht mehr vermietbaren Fremdenzimmer zu ziehen war. Die bei­den Alten erhielten bereits eine Krieger- und Altersrente und deren ausgebleichter Schwiegersohn im Rollstuhl eine Behin­dertenrente. So waren sie auf erwerbsmäßige Einkünfte nicht unbedingt angewiesen. Lediglich die beiden jungen konnten gegen ein paar Mark Taschengeld hie und da zum Viehhüten angefordert werden. Und die Miete, die von der Behörde be­zahlt wurde, war ihr Wort nicht wert.
Viel war also nicht herauszuholen aus den Flüchtlingen beim Seewirt.

In Josef Bierbichlers Roman nehmen die Vertriebenen einen erstaunlich großen Raum ein. Die Gesangslehrerin Kraus, das “Fräulein” von Zwittau (“Das Fräulein hat eine Zipfelpritsche. So nennt man dieses Phänomen in jener Ge­gend auf dem Land, wohin das Fräulein in den nächsten Ta­gen fliehen wird, wenn man es ins dortige, dialektgefärbte – und plumpt direkte – Reden übersetzt.”), der frühere Bankangestellte Viktor Hanusch, der es sich einrichtet, der fast in die Familie aufgenommen wird. Einen letzten Einbruch setzt die Liberalisierung der Sitten in den 60er-Jahren. Der Fremdenverkehr kommt auf, die Fremden missachten die Bräuche, bringen die Stadt ins Dorf, der Sohn Semi flieht aus dem Klosterinternat und schließt sich den Kommunisten an.

Das Land war in eine innere Unruhe geraten. Bestehende Werte wurden in Zweifel gezogen. Die Jungen verlangten von den Alten Rechenschaft über längst vergangene Zeiten, in denen sie, die jungen, noch gar nicht geboren oder höchstens Kleinkinder waren. Gleichzeitig wurden seit Generationen bestehende Gesetze vom Geben und Nehmen, von der alt­hergebrachten Verteilung von Arbeit und Besitz infrage ge­stellt. An den Universitäten gründeten sich kommunistische Zirkel, die den Keim der Aufsässigkeit, des Aufbegehrens und des sich nicht mehr fügen Wollens in sich trugen, und Ge­danken kamen zur Sprache, die wie eine Irrlehre durchs Land geisterten. Randalierer zündeten Kauf- und Zeitungs­häuser an, Polizisten wurden mit Steinen beworfen, und was einmal Ehrfurcht und Unterwürfigkeit gegenüber der Obrig­keit und den Autoritäten im Land gewesen war, war nun zu Respektlosigkeit, Hohn und Spötterei verkommen. Langhaa­rige Teufel in Menschengestalt, die in schamlosen Verhältnis­sen miteinander lebten und Nachkommen zeugten, machten sich lustig über alles, was Ordnung und Gesetz und für deren Kontrolle zuständig war. Der Staat schien eine Lachnummer geworden zu sein.
So jedenfalls stellte es sich aus der Ferne dar.

In Seedorf verzweifelt der Seewirt. Bierbichler verflicht die Zeitenläufte mit der Seelenarbeit des Einheimischen. Er scheut nicht vor derben Episoden zurück, das gehört dazu und macht beim Erzählen und Lesen Lust.

2011           390 Seiten

2-3

Mittelreich
Nach dem Roman von Josef Bierbichler
Inszenierung: Anna-Sophie Mahler

Anna-Sophie Mahler bringt eine sehr reduzierte Fassung des Romans auf die Bühne. Sechs Personen sitzen auf sechs Stühlen auf der ansonsten unmöblierten, grauen Bühne. Sie fangen an zu singen, verhalten zunächst, sie singen aus dem Requiem von Johannes Brahms: „Selig mittelreich4sind, die da Leid tra­gen, denn sie sollen getröstet werden.“ Auf der Empore stehen junge Sänger uns Sängerinnen des Jungen Vokalensemble München und verstärken und vertiefen Melodie und Ausdruck. Am Anfang steht das Ende: der Tod des Seewirts, der sich teilnahmslos/befreit auf den Boden legt. Ein Leben geht zu Ende, die Zeit drumherum interessiert Anna-Sophie Mahler weniger.

Bierbichler erzählt farbig, aus dem Roman brodelt und stinkt und rumort es, es spritzen Säfte, Saublut und Mönchssperma, es toben Stürme, in der Natur und in den Personen. Wie sollte man das ins Theater bringen? Wo es Anna-Sophie Mahler versucht, geht es schief. Der Sturm versäuselt sich, die Besucher des Balls treten auf und ab, für die pompöse Schweineschlacht steht der aseptische Metalleimer – der mit Talkum gefüllt ist, mit dem sich Semi gegen Schürfwunden einpudert, es soll auch gegen die Übergriffe des Sportpaters im Internat wirken -, in den Kammerspielen spielen sie kein Bauerntheater. Das Stück hat keine Opulenz, keine Sinnlichkeit, kein Leben. Das Theater als farbloser Abglanz des prallen Lebens. Dialoge aus dem mittelreich1Roman werden nachgesprochen, Texte aufgesagt, in Begleitung der Musik meint man die Sprache rhythmisiert zu hören. Der sanfte Spott des Erzählers ist vertrieben, natürlich auch der über die Länge des Brahms-Requiems, von dem im Roman ganz am Schluss beiläufig erwähnt wird, es sei „auf eine Länge von mehr als einer Stunde gedehnt“ worden. Es gibt anfangs ein paar lustige Szenen, auf die sich das Publikum stürzt, aber auch die werden erzählt. Der in Australien geborene Damian Rebgetz darf im gelben Fummel die tragikomische Geschichte vom Fräulein von Zwittau zum Besten geben, den selbstgenügsamen Flüchtling Viktor charakterisiert Jochen Noch durch sein lakonisch-schlesisches „No“. Die Inszenierung verlässt sich ganz auf den Text des Romans. Sie setzt aber Schwerpunkte und lenkt beim Nachlesen die Aufmerksamkeit mittelreich2darauf.

Erst nach der Pause befreit sich die Inszenierung vom Versuch der Abbildung, konzentriert sich und die Zuschauer auf die existenzielle Not und die Seelenqualen des Seewirts Pankraz, für den der leise Stefan Merki die passende Statur hat. In den zögerlichen Gesprächsansätzen wird sein Weltschmerz sichtbar, seine Unsicherheit, seine Sprachlosigkeit, es wird deutlich, wie ihn Annette Paulmann als seine Frau Theres schon qua Person dominiert. Der Sohn Semi ist in jung und älter gesplittet, vielleicht weil Semi ja nur der mittelreich3Halbe ist. Steven Scharf und Thomas Hauser haben wenig Anteil. Im „Orchestergraben“ stehen zwei Klaviere und eine Pauke, doch den Schluss markiert Halb-Semi Steven Scharf, der die Klappe der Musiktruhe zutritt und damit das Wirtschaftswunder-Requiem zum Schweigen bringt.

Ich habe den Roman just-in-time zur Aufführung gelesen, deshalb war es möglich, zu vergleichen, zu entziffern. Man müsste fragen, ob die Inszenierung auch für sich selbst stehen kann.

Münchner Kammerspiele – Aufführung am 24. Februar 2017


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