Nachrichten vom Höllenhund


Barnes
5. April 2017, 18:42
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Julian Barnes: Der Lärm der Zeit

barneslaermIm Februar 1917, vor hundert Jahren, schaffte man in Russland den Zaren ab und mit ihm seine Hungerherrschaft. Das war gewiss verdienstvoll. Damit man die arrogante Monarchie stürzt, muss man radikal sein, was schon die Jakobiner der französischen Revolution 150 Jahre zuvor exekutierten. Am radikalsten waren in Russland die Bolschewiki, und weil/obwohl sie so radikal waren, setzten sie sich durch und weil sie so radikal dachten/fühlten, machten sie die Augen zu und erträumten sich nicht nur eine neue Gesellschaft, sondern auch einen idealen Menschen. Den Sowjetmenschen.

Wer die Augen zum Träumen verschließt, gebiert leicht Ungeheuer. Der Maler Goya wusste dies, die Bolschewiki blieben verblendet. (Biopolitische Utopien hatten Konjunktur – nicht nur in Russland.) „Glaubensinhalte laufen grundsätzlich Gefahr, zur Waffe geschmiedet zu werden: von Herrschern, Demagogen, Sinnsuchern.“ (Michael Lüders)

sowjetmenschRussland war kein aufgeklärt-industrielles Land, sondern zu 85% von Bauern in Wald-Sümpfen bevölkert, beherrscht von hierarchisch-strukturiertem Staats- und Landadel. Um das Land in die westeuropäisch inspirierte Gegenwart zu wuppen, musste man revolutionären Anlauf nehmen und da springt man gerne am Ziel vorbei. Dmitri Dmitrijewitsch Schostakowitsch war das eigentlich egal, denn er verstand sich nicht als politischer Mensch.

Aber er glaubte nicht an Utopia, an die Vervollkommnung der Menschheit, an die in­genieurtechnische Bearbeitung der menschlichen See­le.
Kunst gehört allen und niemandem. Kunst gehört je­der Zeit und keiner Zeit. Kunst gehört denen, die sie erschaffen, und denen, die sie genießen. Kunst gehört ebenso wenig dem Volk und der Partei, wie sie einst dem Adel und den Mäzenen gehört hatte. Kunst ist das Flüstern der Geschichte, das durch den Lärm der Zeit zu hören ist. Kunst existiert nicht um der Kunst willen: Sie existiert um der Menschen willen. Aber um wel­cher Menschen willen, und wer bestimmt das? Für ihn war seine eigene Kunst immer anti-aristokratisch ge­wesen. Schrieb er, wie seine Verleumder behaupteten, für eine bourgeoise, kosmopolitische Elite? Nein. Schrieb er, wie seine Verleumder es von ihm verlang­ten, für den müde von der Schicht heimkehrenden Bergmann im Donbass, der eine wohltuende Stärkung brauchte? Nein. Er schrieb Musik für alle und nieman­den. Er schrieb Musik für die, die seine Musik am bes­ten zu würdigen verstanden, egal welcher gesellschaftlichen Herkunft sie waren. Er schrieb Musik für die Ohren, die fähig waren zu hören. Und darum wusste er, dass jede wahre Definition der Kunst zirkulär ist und jede unwahre Definition der Kunst ihr eine spezifische Funktion zuschreibt.

Er wollte komponieren, denn davon und nur davon meinte er etwas zu verstehen. Musik ist eine Kunst und die Kunst ist nur aus der Kunst heraus zu erfassen. Damit steht er aber schon zu Lenin im Gegensatz: DIE KUNST GEHÖRT DEM VOLK – W.I.LENIN. DIE KUNST GEHÖRT DEM VOLK – W.I.LENIN. Julian Barnes druckt es in gefetteten Majuskeln.

Alle Musik musste für die Massen unmittelbar ver­ständlich und erbaulich sein. (…) Ein Komponist sollte seine Produktionsleistung ebenso steigern wie ein Bergarbei­ter, und seine Musik sollte die Herzen erwärmen, wie die Kohle eines Bergarbeiters die Körper erwärmte. Bürokraten bemaßen die musikalische Produktionsleis­tung wie die Produktionsleistungen in anderen Berei­chen; es gab vorgegebene Normen und Abweichungen von dieser Norm (…) und das geringste Experiment wurde als »For­malismus« verdammt.

Dmitri Dmitrijewitsch Schostakowitsch leidet am Unverständnis der Macht, an ihrem einfältigen Anspruch an die Kunst, an die Komponisten, an den Vorwürfen, Formalist zu sein. Weil er sich dieser Einfalt nicht fügen kann, wird er verfolgt, verhört, er fürchtet um sein Leben. Und er leidet darunter, dass er um seines Leben Willen sich der Macht unterwirft. Er unterschreibt Briefe gegen andere Künstler, er tritt in die Partei ein, er wirft sich Feigheit vor.

Nun, das Leben ist kein Spaziergang übers Feld, wie man so schön sagt. Eine Seele konnte auf dreierlei Art zerstört werden: durch das, was andere einem Menschen antaten; durch das, was ein Mensch sich selbst antat, weil andere ihn dazu trieben; und durch das, was ein Mensch sich aus freien Stücken selbst antat. Jede einzelne Methode erfüllte ihren Zweck; wenn aber alle drei zusammenkamen, waren die Folgen unausweichlich.
Er wusste nur eins: Dies war die allerschlimmste Zeit.

Die schlimmste Zeit war nicht dasselbe wie die ge­fährlichste Zeit. Weil die gefährlichste Zeit nicht die Zeit war, in der man am meisten in Gefahr war.
Das hatte er bisher nicht verstanden.
Er saß in seinem von einem Chauffeur gesteuerten Wagen, während draußen die Landschaft vorüberhol­perte. Er stellte sich selbst eine Frage. Sie lautete:

Lenin fand Musik deprimierend.
Stalin dachte, er verstünde Musik und
wüsste sie zu schätzen.
Chruschtschow verachtete Musik.
Was ist für einen Komponisten das
Schlimmste?

Das sind die drei Kapitel von Barnes’ Roman. Die Lebensbedrohung durch den Geheimdienst, Schostakowitsch verbringt die Nächte bekleidet “Auf der Treppe” vor seiner Wohnung, damit er seine Familie schützt, wenn ihn Stalins Schergen abholen. “Der Koffer an seinem Bein sollte ihn beruhigen und auch andere beruhigen; eine praktische Maßnahme. So sah es aus, als habe er die Ereignisse unter Kontrolle, statt deren Opfer zu sein. Männer, die mit einem Koffer in der Hand aus dem Haus gingen, kehrten gemeinhin zurück. Männer, die im Nachtge­wand aus dem Bett gezerrt wurden, kamen häufig nicht schostakowitsch2zurück. Ob das stimmte oder nicht, war unwesent­lich. Wichtig war nur: Es sah so aus, als hätte er keine Angst.” Er fliegt “Im Flugzeug” nach Amerika und verliest von der Macht vorgefertigte Erklärungen der “Überlegenheit des sowjetischen Musiksystems über al­le anderen der Welt. So viele Orchester, Militärkapel­len, Volksmusikgruppen, Chöre – Beweis für den akti­ven Einsatz der Musik bei der Weiterentwicklung der Gesellschaft.” Und er erfährt “Im Auto” mit Chauffeur die tiefste Demütigung, den Verrat an den eigenen Prinzipien, verkommen zum Ausstellungsstück der Macht. Die Methode des “Nikita Kukuruz”.

Julian Barnes’ Schostakowitsch ist ein ironischer Grübler, der manchem auf die Spur kommt, ohne viel zu verstehen. „Er hatte sein Leben lang auf die Ironie vertraut. Er ver­mutete, dieser Charakterzug sei an der üblichen Stelle entstanden: in der Kluft zwischen unserer Vorstellung, unserer Annahme oder Hoffnung, wie sich das Leben entwickeln werde, und dem, wie es sich tatsächlich ent­wickelt. So wird die Ironie zu einem Schutzschild für das ich und die Seele; sie lässt dich von einem Tag zum anderen atmen.” Seine Versuche, Ironie als Selbstschutz einzusetzen, können angesichts einer völlig ironiefreien Macht nicht gelingen. Also verlegt er die Ironie in seine Gedanken. Aber

Ironie war, wie er inzwischen erkannt hatte, ebenso anfällig für die Wechselfälle des Lebens und der Zeit wie jede andere Geisteshaltung. Man wachte eines Morgens auf und wusste nicht mehr, ob man es nicht doch ernst meinte; und selbst wenn nicht, ob das noch eine Rolle spielte, ob es überhaupt jemand merkte. Man meinte, einen ultravioletten Lichtstrahl auszusenden – aber wenn das niemand zur Kenntnis nahm, weil der Lichtstrahl außerhalb des allgemein bekannten Spek­trums lag? In sein erstes Cellokonzert hatte er einen Verweis auf »Suliko« eingefügt, Stalins Lieblingslied. Aber Rostropowitsch hatte darüber hinweggespielt, oh­ne es zu merken. Wenn man Slawa eigens auf diese Anspielung hinweisen musste, wer in aller Welt würde sie dann je erkennen?

Die Ironie, die er Schostakowitsch unterschiebt, ist auch Stilmittel von Barnes. Er schreibt sich seinen Komponisten, stellvertretend für die Haltung des Künstlers zur Macht. In der “Anmerkung des Autors” nennt Barnes seine Quellen, betont jedoch seine dichterische Freiheit. “Der Lärm der Zeit” ist keine Biographie, sondern ein Versuch über den Wert der Kunst als humanes “Flüstern” gegen den “Lärm” der politischen Barbarei.

Schostakowitsch’ Musik kann man nicht beschreiben, man muss sie hören. Auch um zu verstehen, welche Welten zwischen seinen modernen Tönen und dem biederen “Geschmack” der Mächtigen liegen. Auf das frohgemute Wanderlied vom “Gegenplan” wollten sie ihn festlegen, die verkümmerte Landlust gegen die städtische Genialität, eine Schmach für den ernsthaften Komponisten. Seine “Jazz-Suite” zeigt den eingehegten Schostakowitsch im populären Walzer- und Polkaschritt. Seine eigenen Ansprüche hört man – z.B. – in den Streichquartetten.

Julian Barnes rahmt seinen vortrefflichen kleinen Roman mit einer Begebenheit.

Es geschah mitten im Krieg auf einem Bahnsteig, so flach und staubig wie die endlose Ebene ringsum. (…) Da war ein langer Bahnsteig, der eben erst von der Sonne beschienen wurde. Da war ein Mann, in Wirklichkeit ein halber Mann, der sich auf einem Roll­brett vorwärtsschob und sich mit einem Seil daran festgebunden hatte, das oben mit seiner Hose ver­schlungen war. Die beiden Reisenden hatten eine Fla­sche Wodka. Sie stiegen aus dem Zug. Der Bettler hielt in seinem zotigen Lied inne. Dmitri Dmitrijewitsch hatte die Flasche in der Hand, er selbst die Gläser. Dmitri Dmitrijewitsch goss Wodka in jedes Glas; wäh­rend er das tat, wurde ein Armband aus Knoblauch sichtbar. Er war kein Barkeeper, und die Menge an Wodka war in jedem Glas unterschiedlich. Der Bettler sah nur, was aus der Flasche kam, er dagegen dachte, dass Mitja immer anderen helfen wollte, dabei war er von Natur aus unfähig, sich selbst zu helfen. Aber Dmitri Dmitrijewitsch lauschte und hörte, wie immer. Und als die drei Gläser mit ihrer unterschiedlich hohen Füllung in gemeinsamem Klirren aneinanderstießen, lächelte er, neigte den Kopf zu Seite, sodass kurz das Sonnenlicht in seiner Brille aufblitzte, und murmelte:

»Ein Dreiklang.«

Und das war es, woran sich der, der sich erinnerte, erinnerte. Krieg, Angst, Armut, Typhus und Schmutz, aber mittendrin, darüber und darunter und durch alles hindurch hatte Dmitri Dmitrijewitsch einen perfekten Dreiklang gehört. Der Krieg würde bestimmt zu Ende gehen – es sei denn, er ginge nie zu Ende. Die Angst würde weitergehen, und der sinnlose Tod und die Ar­mut und der Schmutz ebenso – vielleicht würde das ewig weitergehen, wer wusste das schon. Und doch war ein Dreiklang, den drei nicht sehr saubere Wodkagläser und ihr Inhalt hervorgebracht hatten, ein Geräusch, das vom Lärm der Zeit rein war und alle und alles überdauern würde. Und vielleicht kam es am Ende nur darauf an.

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