Andrew Miller:
Friedhof der Unschuldigen
Ich habe nicht so viel Erfahrung mit historischen Romanen. Das Genre stellt hohe Ansprüche, wenn das Werk gelingen soll, es will ja mehr sein als bloße Geschichtserzählung. Die Fiktion soll plausibel sein, was den historischen Gehalt betrifft, sie will anschaulich das Geschehen an zeitverhafteten Personen aufzeigen; um zu interessieren, soll sie Belehrung mit Unterhaltung verbinden. Und schließlich gilt es die üblichen Roman-Ingredienzen zu berücksichtigen: Liebe, Suspense, Schauder, Überraschung, Bedrohung u.v.m.
Im Original heißt Millers Roman „Pure“, der im Deutschen titelgebende Schauplatz von Andrew Millers „Friedhof der Unschuldigen“ ist – u.a. – aus Patrick Süskinds „Das Parfüm“ bekannt. Der Protagonist Grenouille (der Frosch) wird direkt neben dem Friedhof auf einem Fischmarkt, „am allerstinkendsten Ort des gesamten Königreichs“, geboren, im Friedhof erhebt er sich zum spektakulären Selbstopfer. Im „Friedhof der Unschuldigen“ heißt der Held Jean-Baptiste Baratte (das Butterfass). Er erhält als Ingenieur aus der Provinz den ministeriellen Auftrag, den Friedhof samt zugehöriger Kirche abzuwickeln. Das ist ganz im Sinne der Vernunft, die „Reinigung“ als Gleichnis, als sozialpolitische Hygienemaßnahme.
Sseit etwa einer Generation bekommen wir Beschwerden. Einige der Anwohner empfanden die Nähe des Friedhofs allmählich als unerquicklich. Nahrungsmittel wollten sich nicht halten. Kerzen erloschen, wie von unsichtbaren Fingern ausgedrückt. Menschen, die morgens ihre Treppe hinunterstiegen, fielen in Ohnmacht. Und es gab moralische Beeinträchtigungen, besonders bei jungen Menschen. Jungen Männern und Frauen von bislang tadelloser Lebensführung (…)
Eine Kommission wurde eingesetzt, die der Sache nachgehen sollte. Sehr viele sachverständige Herren schrieben sehr viele Worte zu dem Thema. Empfehlungen wurden ausgesprochen und Pläne für neue, hygienische Friedhöfe gezeichnet, die wieder außerhalb der Stadtgrenzen liegen würden. (…) Es wurde befohlen, Les Innocents zu schließen. Friedhof und Kirche. Unverzüglich zu schließen, das Tor zu versperren. Und so ist es trotz der Bittgesuche Seiner Gnaden des Bischofs seither geblieben. Geschlossen, leer, still.Was meinen Sie dazu?«
»Wozu, Exzellenz?«
Baratte muss sich zunächst um die Logistik kümmern. Er braucht Material, er braucht vor allem Arbeiter, die sich vor der grauslichen Arbeit nicht scheuen und die mit Geld, Essen, Schnaps und Zuspruch (auch von Frauen) bei Laune gehalten werden wollen. Und er braucht ein Quartier für sich in der Nähe des Einsatzortes. Er stellt fest, dass seine Wirtsleute ein emotionales Verhältnis zu ihrem Wohnumfeld entwickelt haben und nicht unbedingt dem Neuen anhängen.
Monsieur«, begann sie, »stimmt es, was wir über den Friedhof hören?«
»Madame?«
»Dass er … verschwinden soll?«
Er legte Messer und Gabel aus der Hand. »In gewisser Weise ja, Madame. Er soll beseitigt, das Gelände soll gereinigt werden. Auch die Kirche wird irgendwann beseitigt werden.«
»Für uns ist das ein Schlag ins Kontor«, sagte Monsieur Monnard. »Wir haben nicht damit gerechnet.«(…)
»Für uns ist das schwer vorstellbar«, sagte Madame mit seltsam schriller Stimme.
»Ich hoffe, es wird dem öffentlichen Wohl dienen, Madame«, sagte Jean-Baptiste. »Und dieses Haus hier wird nicht mehr an einen Ort angrenzen, wo öffentliche Beisetzungen stattfanden. Wird nicht mehr unter den Folgen dieses Umstandes leiden.«
»Was denn für Folgen?« fragte Monsieur Monnard. (…)
Ziguette begann zu weinen. Ein dünnes Wimmern, gefolgt von einem Schlucken, dann ein aus ihrem Busen aufsteigendes Schluchzen, das Ganze begleitet von einem heftigen Grimassieren, so dass sie Jean-Baptiste wie jemand vorkam, den er noch nie gesehen hatte. (…) Er versuchte sie zu beruhigen.
»Denken Sie doch nur, wie schön es sein wird, wenn es getan ist. Ein schöner Platz anstelle dessen, was Sie jetzt haben. Vielleicht sogar ein Park.«
Sie nickte. Sie schien sich zu bemühen, seiner Argumentation zu folgen, aber ihre Augen hatten sich wieder mit Tränen gefüllt. »Es ist«, sagte sie nach kurzem Schweigen, »als wollten Sie meine Kindheit ausgraben.«
»Ihre Kindheit?«
»Unschuldige, mädchenhafte Tage.«
Miller erzählt das im Präsens, anschaulich und einfühlsam. Das führt aber dazu, dass man ein Drittel des Buches lesen muss, ehe die Arbeiten am Friedhof beginnen. Auch hier schildert er die Vorgänge ausführlich, auch hier bleibt aber der unmittelbare Bezug zur Geschichte, zur Aufklärung, zu den vorrevolutionären Gegebenheiten locker, die Handlung schreitet nicht ohne Umschweifen fort. Die Spannungen ergeben sich aus begründeten, aber letztlich im Handlungsgefüge doch eher willkürlichen persönlichen Schwächen. Zu stark drängen sich die Launen in den Vordergrund, das Geschehen verläuft sich. Und Baratte ist keiner, der sich ans Kommandieren drängt. “Die Hälfte der Zeit, so scheint es, weiß man nicht, was man denkt, was man will.“
Zu den Gegenständen, die an diesem Tag gefunden werden, zählen: eine grüne Münze aus der Zeit Charles‘ IX.; eine verrostete, aber noch erkennbare Halsberge; ein Ring mit einem Kreuz darauf- nicht wertvoll; noch mehr Knöpfe; eine Messerklinge – wozu? Zum Gebrauch im Jenseits? Ein merkwürdiges kleines Stück gefärbtes Glas, herzförmig, ziemlich hübsch.
Letzteres spült der Ingenieur ab, als er sich am Abend die Hände wäscht, und schenkt es, einer Laune folgend, oder weil er schlicht nicht weiß, was er sonst damit anfangen soll, Jeanne, die es mit einem seltsamen, feierlichen Lächeln entgegennimmt.
Draußen über der Straße schwebt ein milchiger Frühmorgendunst, etwas wie die abgestreifte Haut einer Wolke, etwas Feuchtkaltes, Giftiges, das ihre Gesichter mit kleinen Tröpfchen überzieht. Block ist bereits an der Straßenecke. Er blickt zurück, treibt den Ingenieur stumm zur Eile an. »Ich will verdammt sein, wenn ich renne«, sagt Jean-Baptiste, allerdings mehr zu sich selbst als zu Block. Er versucht sich vorzustellen, was für ein Unfall Jeanne mitten in der Nacht zugestoßen sein könnte. Und was Lecoeur angeht, warum zum Teufel sollte er verschwinden? Oder hat Block gemeint, er sei Hilfe holen gegangen? Vielleicht wollte er ja sogar Guillotin oder Thouret suchen gehen. Das wäre eine plausible Erklärung für die Geschichte, doch noch während er das denkt, weiß er, dass die Wahrheit ganz anders aussieht.
Auf Wunsch seiner Partnerin Heloïse, einem klugen leichten Mädchen, geht er mit ins Theater. “Figaros Fochzeit” von Beaumarchais. Doch “Jean-Baptiste findet das Stück schwer verständlich, zuweilen verwirrend. Wer genau ist Marceline? Warum kann Suzanne Figaro nicht heiraten? Und wer versteckt sich in dem Schrank? Die Lippen an seinem Ohr, erklärt Heloise es ihm geduldig. Er nickt.” Miller belässt es beim Kolorit. “Der Ingenieur, Armand, Heloise und Lisa Saget schlürfen Orangen, nagen an den Knochen kräftig gewürzter Hühnchen, lassen die Knochen unter ihre Plätze fallen.” Die vorrevolutionären Anspielungen der Komödie interessieren Baratte kaum, er ist Ingenieur, darin besteht sein Freidenkertum.Er “ist als Menschenfreund, Liebhaber und Revolutionär ein blutiger Laie, zerrissen zwischen Zukunft und Vergangenheit. Er schätzt die Enzyklopädisten, aber im Notfall benutzt er La Mettries „L’homme machine“ als Klopapier. Er betet vor dem Einschlafen den „Katechismus der Selbstvergewisserung“, aber in seinen opiumgeschwängerten Albträumen wird er von den Geistern der Toten heimgesucht“ (Martin Halter, FAZ).
So finde ich im Buch viele Zutaten des historischen Romans, genaue Wegbeschreibungen, Blicke in die menschlichen Abgründe, atmosphärische Dichte, aber zu wenig über die historischen Einbettungen der Friedhofsbereinigung. Süskinds Grenouille benötigt den Cimetière des Innocents nur zu Anfang und Ende seiner Wanderschaft als Schauplatz, bei Miller steht er im Zentrum, die Erzählung umkreist ihn, aber Baratte ist kein Grenouille, Miller erreicht nicht die magische Wucht Süskinds.
2011 380 Seiten
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