Richard Ford: Frank
»Ich habe die Persönlichkeit eines kleineren Mannes, Arnie.« Ich versuche, schnell einzusteigen, bevor Arnie näher kommt. Ich fürchte eine Umarmung. Sie könnte meinen Hals beschädigen und mich zum Invaliden machen. Bonding steht ganz oben auf der Liste der von mir abgeschafften Wörter. Emerson hatte recht – wie immer: Eine unendliche Ferne wohnt uns allen inne. Und ist das nicht auch ganz in Ordnung? Ferne verbindet uns so, wie sie uns trennt, aber auf eine tatsächlich rätselhafte Weise, die zugleich dem weiterlaufenden Leben völlig angemessen ist.
Arnie (der Idiot) hat tatsächlich vor, seine erstaunlich langen, lederumhüllten Torhüterarme um mich zu schließen und mich – wie einen Puck – an seine Brust zu drücken. Eine Abwehrparade. Ich kann nirgendwohin flüchten, versuche mich aber zu ducken, als er mich umschlingt, grässlich.
»Lass«, sage ich, von seinem blöden Mafiamantel gedämpft, der nach dem Inneren seines Lexus riecht, aber auch nach einem geschlechtslosen Herrenduft, den sich Arnie bestimmt ansprüht, apres le bain, unter den gestreng wachenden Augen seiner russischen Frau, die mit dem Zeh trommelt wie Maggie bei Jiggs.
»Ja, Franky, wirklich krass«, murmelt Arnie, damit ich mich nicht so schlecht fühle wegen – was immer er glaubt, weswegen ich mich schlecht fühle (umarmt zu werden). Ganz klar, er ist für mich da (ebenso auf der Liste). Ein heftiges Frösteln fährt mir in die Rippen, das ist die Kälte vom Meer – wobei Arnie womöglich glaubt, ich würde schlottern oder gar schluchzen. Warum sollte ich? Ist doch nicht mein Haus zerstört worden. Ich versuche mich zu befreien. Mein Rücken wird gegen den metallischen Türrahmen gepresst, je mehr ich kämpfe, desto übler für meinen Nacken; oder noch schlimmer, ich kippe rückwärts in mein Auto, Arnie auf mich drauf, und der Schalthebel bohrt sich in meinen C-4-Wirbel, so dass ich als Nächstes im Krankenwagen liege und ins Krankenhaus von Toms River komme, wo ich schon mal war und nie wieder hinmöchte. Ich kann nichts tun – das übliche Dilemma von Menschen meines Alters. Was tue ich also, aus schierer Verzweiflung, ich erwidere Arnies Umarmung, lege meine Arme um seine Lederschultern und drücke zu, und sei’s nur, damit ich nicht umfalle. Wer weiß, vielleicht ist das auch sonst ungefähr der Grund, warum sich Menschen umarmen. Arnie drückt mich viel zu fest. Mir ist, als träten meine Augen hervor. Mein Nacken pocht. Hinter mir gähnt die Leere des Autositzes. »Könnte alles schlimmer sein, Frank«, sagt mir Arnie ins Ohr, so dass mir der Kopf vibriert. Da hat er sicher recht. Könnte alles schlimmer sein. Viel, viel schlimmer, als es ist.
Die Häuser kippen wie die Beziehungen, die Personen werden wie die Heimstätten von Fremden bewohnt. Man richtet sich in der Mobilität ein, auch wenn die Gefühle manchmal ein wenig nostalgisch werden. Man besucht das verflossene Haus und die verfallenden Partner. Gut, dass die Entfernungen nicht allzu groß sind, denn Frank ist mit 68 nicht mehr der Jüngste und auch seine Geselligkeitskompetenz nimmt sich zurück.
In New Jersey wütet der Hurrikan Sandy und Frank Bascombe geht das immer noch nahe, weil er als gewesener Immobilienmakler auch eines der jetzt destruierten Häuser verkauft hat. Vergangenheit und Beruf lassen ihn sowenig los wie gehabte Frauen. Frank Bascombe, Richard Fords Begleiter durch die Roman-Zeiten, meldet sich in vier Geschichten (im Original: Let Me Be Frank With You) und raisonniert über sein Altern und das seiner Umgebungen. „Frank“ heißt auch: offen/freimütig, das Alter entbindet ihn von Rücksichtnahme, auch sich selbst gegenüber.
Die vier Geschichten sind eher Unterhaltungen, die Frank eigentlich vermeiden möchte. Die Partner sind ihm fremd oder fremd geworden, sie werfen die Gespräche auch auf ihn selbst zurück. Seine frühere Frau Ann ist in ein nahegelegenes Heim für demente Alte gezogen. Frank bringt ihr eine Decke, das Treffen gestaltet sich schwierig. Denn gerade ihr Zustand macht Ann zur Überlegenen, der gegenüber man sich zurückhalten muss, auch wenn sie nicht mehr alles verrsteht. Frank lässt sich von einem flüchtigen Bekannten in einen Besuch verwickeln. Der Mann liegt im Sterben nud hat nichts mehr zu erwarten und nichts mehr zu befürchten, auch das macht ihn Frank gegenüber frei. Ms. Pines steht vor der Tür zu Franks Haus. Sie, eine Schwarze – das muss man in den USA und speziell in New Jersey sagen -, hat in diesem Haus gelebt und möchte sich noch einmal erinnern – auch an die Schrecken. Auch hier belastet Franks sinnierende Zurückhaltung das Gespräch. Er möchte nicht aufdringlich, paternisierend wirken, aber er kann zuhören.
Sally und ich sind oft verschiedener Ansicht über das Leben an sich, Differenzen, die vielleicht unsere Gemeinschaft als engagierte Zweitehepartner nicht gerade stärken, aber keinen Schaden anrichten – was als gut gelten kann. Sally versteht das Leben als eine Sache, die auf natürliche und faszinierende Weise zur nächsten führt; während ich es eher im Sinne der überlebten Niederlagen begreife, der Momente, in denen sich dankenswerterweise – aber vorübergehend – keine Hindernisse am Horizont abzeichnen. Sally fände es immer gut, einen alten Freund wiederzutreffen. Ich muss mit so etwas von Fall zu Fall umgehen, und das Ergebnis ist jedes Mal wieder offen.
Die Texte sind locker verwoben. Die Personen wechseln, Frank bleibt – Frank. Seine politische Heimat ist bei den Demokraten; die Stimmung neigt zur „Tea-Party“, prä-trumpesk. Frank betreibt eine trotzige Munterkeit. Er durchschaut andere Menschen und auch sich, lässt sich das aber kaum anmerken, er ist weder blasiert noch süffisant, er nutzt sein Alter für gedachte Weisheiten über Menschen, Lieben, Leben. Ein sympathischer Amerikaner, dem man gern durch die vier Geschichten folgt.
Zu Menschen wie mir passt es perfekt, Immobilien zu verkaufen, beim Sportjournalismus war’s ähnlich – zwei Sachen, die ich ziemlich gut konnte. Schließlich bin ich das einzige Kind älterer Eltern, die auf mich gesetzt haben – bessere Familienumstände zum Erwachsenwerden findet man in Amerika nicht. Aber deshalb hatte ich auch nie sehr viele Freunde und war immer fasziniert von dem, was die Erwachsenen machten. Das Standardmodell amerikanischen Lebens sieht, vor allem in den Vorstädten, so aus: Wir alle haben auf der anderen Seite unseres Gartenzauns einen grinsenden Thorny Thornberry, mit dem wir ins Stadion gehen oder in einer Bar an der Landstraße alles Mögliche bekakeln, bis tief in die Herbstnacht hinein: einen Freund, der dir beim Handschmirgeln der genau richtigen abgeschrägten Kanten der Kiefernplanken für das Kanu hilft, das ihr nächsten Juni zusammen in den Lake Naganooki setzen wollt, um eine Runde Zander zu angeln. Nur dass mein Schicksal anders lief. Die meisten meiner Freundschaften entstanden im Lauf der Jahre ganz klar aus Zufallsbekanntschaften, und der Kontakt blieb stets flüchtig. Aber ich habe nicht das Gefühl, ich hätte deshalb etwas versäumt. Es ist im Grunde wie mit vielen Dingen, die wir irgendwann nicht mehr an uns bemerken: Wenn unser Leben erst mal ziemlich fortgeschritten ist, sind wir so, wie wir sind, weil es uns entspricht.
2014 220 Seiten
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