Nachrichten vom Höllenhund


Binet
25. Juli 2017, 16:55
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Laurent Binet: Die siebte Sprachfunktion

binetKommissar Bayard hat einen neuen Fall. Ein Mann ist von einem Lieferwagen mit bulgarischem Kennzeichen angefahren und lebensbedrohlich verletzt worden. Der Verletzte ist nicht irgendwer, sondern Roland Barthes, der bekannte (?) Wissenschaftler, einer der renommiertesten Poststrukturalisten. Also ein Mordversuch. Barthes soll ein Papier bei sich getragen haben, es soll sich um die rätselhafte 7. Sprachfunktion des Linguisten Roman Jacobson gehndelt haben, aber der Zettel ist weg. Bayard hat von (der) Wissenschaft keine Ahnung und heuert den jungen Studenten Simon Herzog als „Gehilfen“ an. Er soll ihm die Sprache der Strukturalisten übersetzen.

Das Aufklärungsduo erfüllt natürlich alle Klischees des Genres, doch sind die kriminalistischen Ermittlungen randständig, sie legen nur einen gefälligen Faden durch die persönlichen Wirrnisse der Wissenschaft. Immer, wenn sie mögliche Betroffene befragen wollen, ergeben sich skurrile Situationen, in denen die Heroen des Poststrukturalismus an unerwarteten Orten mit ihrer dort funktionslosen Sprache allein gelassen werden. Die Linie führt zu Barthes in die Intensivstation der Klinik, auf Foucault stoßen sie in der Männersauna, zu Umberto Eco fliegen sie nach Bologna, zu John Searle ans Ithaca College, zum Personal gehören auch Philippe Sollers und seine Frau Julia Kristeva, Bernard-Hénri Levy (BHL), Jacques Lacan und ihrer mehr. Im Tross finden sich undurchsichtige Japaner und Bulgaren und die üblichen maghrebinischen Strichjungen. Die Treffen gestaltet Binet als phantasmogorische Kasperltheater mit Drogen-Sex-Strukturalen Delirien, Walpurgisnächte national- und kulturstereotypischer philosophischer Hexenmeister. Die Ermittler werden eingestrudelt, die Frauen erfüllen ihre Rolle.

Auf einmal ist aus dem Krankenzimmer Lärm zu hören. Bayard macht die Tür auf, er sieht Barthes von Krämpfen geschüttelt, er redet im Schlaf, und die Krankenschwes­ter versucht, ihn zu beruhigen. Er spricht davon, wie der Text «bestirnt» wird: «Wie bei einem winzigen Erdstoß werden die Bedeutungsblöcke auseinandergetrieben, von denen die Lektüre nur die Oberfläche wahrnimmt, die un­merklich durch den Fluss der Sätze, durch den geschmei­digen Diskurs des Erzählens, durch das Natürliche der geläufigen Sprache zusammengeschlossen wird.»

Bayard lässt sofort Simon Herzog rufen, damit er ihm das übersetzt. Barthes wird immer unruhiger in seinem Bett. Bayard beugt sich zu ihm und fragt ihn: «Monsi­eur Barthes, haben Sie Ihren Angreifer gesehen?» Barthes schlägt die Augen auf, packt ihn am Nacken und erklärt mit verrücktem Blick, heftig schnaufend, von Angst zer­fressen: «Der Bezugssignifikant wird in eine Folge sich untereinander berührender kurzer Fragmente aufgeteilt, die wir hier, weil es Leseeinheiten sind, Lexien nennen. Diese Aufteilung wird, das muss gesagt werden, eine sehr willkürliche sein. Sie wird methodologisch nichts zu verantworten haben, denn sie betrifft den Signifikanten, während die vorgelegte Analyse sich nur auf das Sgnifikat ausrichtet …» Bayard sieht Herzog fragend an, der zuckt die Achseln. (…) Barthes ist nun am Rand der Hysterie und schreit, als ob es um sein Leben ginge: «Alles ist im Text! Verstehen Sie! Den Text wie­derfinden! Die Funktion! Ach, das ist zu dumm!» Dann fällt er zurück in sein Kissen.

Jacques Bayard und Simon Herzog, ein kleines weißes Handtuch um die Lenden gebunden, flanieren durch die Saunadämpfe, zwischen lauter schwitzenden Gestalten, die sich verstohlen berühren. Seinen Dienstausweis hat der Kommissar in der Umkleide gelassen, sie sind inkognito, denn falls sie ihn auftreiben, soll sich der Stricher mit dem Ohrring nicht erschrecken.
Eigentlich geben sie ein ziemlich glaubwürdiges Paar ab: der Ältere breitschultrig, behaarter Oberkörper, der mit inquisitorischem Habitus den Überlegenen gibt, und der schmächtige bartlose Jüngling, der verstohlene Blicke wirft. Simon Herzog, die Karikatur eines verschüchterten Anthropologen, weckt Begehrlichkeiten; die Männer, die ihm begegnen, mustern ihn lang und drehen sich nach ihm um, wenn er vorüber ist. Aber auch Bayard kommt ganz gut an. (…) Hinter Bayard sitzt ein Glatzkopf mit hagerem Körper und quadratischem Unterkiefer, nackt, die Arme über dem Kopf verschränkt auf einer Holzbank, die Beine breit, wäh­rend ihm ein gertenschlanker Jüngling mit Ohrring, aber kurzem Haar einen bläst. «Haben Sie etwas Interessantes gefunden, Herr Kommissar?», fragt Michel Foucault und mustert Simon Herzog. (…)Bayard: «Ich suche jeman­den, der Roland Barthes noch kurz vor seinem Unfall ge­sehen hat.» Foucault streichelt den Kopf des jungen Man­nes, der sich zwischen seinen Beinen zu schaffen macht: «Roland hatte ein Geheimnis, wissen Sie …» Bayard fragt, was für eines. Das Stöhnen in den Backrooms nimmt zu. Foucault erklärt Bayard, dass Barthes die Sexualität abend­ländisch verstand, also zugleich als etwas Geheimnisvolles und als etwas, dessen Geheimnis man auf die Spur kommen musste. «Roland Barthes», sagt er, «ist das Schaf, das Hirte sein wollte. Das war er! Und wie! Aber für alles andere. Für die Sexualität ist er immer Schaf geblieben.» Tierschreie aus den Backrooms: «Bäh -! Bäh -! Bäh -! Bäh -!»

«Denn die Wunschmaschinen bilden die fundamentale Kategorie der Wunschökonomie, bringen selbsttätig einen organlosen Körper hervor und treffen keine Unterscheidung zwischen ihren eigenen Be­standteilen und den Agenten noch zwischen den Produktionsverhältnissen und ihren eigenen Verhältnissen … » Die Worte von Deleuze durchkreuzen den Geist des jungen Mannes im selben Augenblick, wo sein Körper sich zusam­menkrampft, wo Biancas Körper abhebt, bis sie vollkom­men erschöpft über ihm zusammensackt und ihr Schweiß sich mit dem seinen vermischt.
Die Leiber entspannen sich in abklingenden Zuckun­gen.
«So ist die Phantasie niemals individuell, sondern Grup­penphantasie.»
Dem Behandschuhten gelingt es nicht, aufzubrechen. Auch er ist erschöpft, aber es ist keine gute Ermüdung. Er hat Phantomschmerzen in den Fingern.
«Der Schizophrene hält sich an der Grenze des Kapita­lismus auf. Er verkörpert dessen entwickelte Tendenz, das Mehrprodukt, den Proletarier und den Würgengel.»
Bianca erklärt Simon den Deleuze’schen Schizo und dreht dabei einen Joint. Draußen singen die ersten Vö­gel. Die beiden unterhalten sich bis zum Morgengrauen. «Nein, die Massen sind nicht getäuscht worden, sie haben den Faschismus gewünscht – und das heißt es zu erklä­ren.»

Man könnte aus dem Roman auch lernen, denn manches wird erklärt, so auch „die siebte Sprachfunktion? Si­mon, benebelt, wie er ist, merkt erst gar nicht, dass nicht etwa Bayard, sondern Eco die Frage gestellt hat. Bayard dreht sich zu ihm. Simon nimmt zur Kenntnis, dass Bi­anca ihn noch immer an der Hand hält. Eco blickt das Mädchen leicht lüstern an. (Alles kommt ihm leicht vor.) Simon versucht sich zu konzentrieren: «Wir haben allen Anlass zu der Annahme, dass Barthes und drei andere Per­sonen wegen eines Schriftstücks umgebracht wurden, das sich auf die siebte Sprachfunktion bezieht.» Simon hört seine eigene Stimme reden und hat dabei den Eindruck, da spreche Bayard.

Nach Austin ist jedes Sprechen ein Sprechakt, weil es zum einen darin besteht, etwas zu sagen, zum anderen aber auch ein illokutiver oder perlokutiver Akt ist, der über den rein verbalen Austausch hinausgeht, weil er etwas bewirkt, also eine Handlung zur Folge hat.
Es handelt sich um die Fähigkeit bestimmter Aussagen, im Sprechakt selbst das zu realisieren (Eco sagt «aktua­lisieren»), was sie aussagen. Wenn zum Beispiel der Bür­germeister «Ich erkläre Sie zu rechtmäßig verbundenen Eheleuten» sagt oder wenn der Lehnsherr jemanden adelt mit den Worten «Ich schlage dich zum Ritter» oder wenn der Richter «Ich verurteile Sie» sagt, wenn der Vorsit­zende einer Versammlung «Ich erkläre die Versammlung für eröffnet» sagt, ja selbst wenn man jemandem «Ich verspreche es dir» sagt, dann tritt mit dem Aussprechen dieser Sätze bereits das ein, was sie aussagen.
Eco setzt seine Erläuterungen fort: «Also, stellen wir uns einmal vor, die performative Funktion würde sich nicht auf diese wenigen Beispiele beschränken. Stellen wir uns eine Sprachfunktion vor, die sehr viel extensiver ir­gendjemanden davon überzeugen könnte, irgendetwas in irgendeiner Situation zu tun.»
10 Uhr o6.
«Wer diese Funktion kennt und beherrscht, wäre prak­tisch der Herr der Welt. Seine Macht wäre grenzenlos. Er könnte sich bei jeder Wahl wählen lassen, könnte die Mas­sen mobilisieren, Revolutionen auslösen, Frauen verfüh­ren, jedes beliebige vorstellbare Produkt verkaufen, Impe­rien errichten, die ganze Welt betrügen, alles bekommen, was er will.»

Binet spielt und führt seine spielerische Kompetenz vor, indem er die Hohlheit der Aussagen verdoppelt, indem er den Figuren die Schauplätze zuweist, indem er die Koinzidenzen verwirbelt. Das Jahr ist 1980: Da kam Barthes ums Leben, da forderte ein Erdbeben in Süditalien fast 3000 Opfer, in Bologna lehrte Umberto Eco und sprengten Faschisten den Bahnhof in die Luft und töteten 85 Menschen. Binets Akteure sind immer mittendrin, was manchmal makaber ist. 1980 befand sich François Mitterrand im Wahlkampf mit Giscard d’Estaing und wird zur Romanfigur:

Giscard verhaspelt sich immer mehr.
Simon zieht sein Resümee: «Mitterrand hat die siebte Sprachfunktion gefunden.» (…)
Simon versteht. Mitterrands Ziel war ein Nahziel: Giscard im TV-Duell zu schlagen.“

Und hier wird’s etwas krude und der Roman entzieht sich selbst sein Fundament und löst sich in Verkrampfungen auf. Die Verknüpfung von Politik und Sprachtheorie ist ein arg oberflächlicher Gag, den Binet auch zu lange am Köcheln hält. Die Rhetorik-Duelle im “Logos-Club” spinnt er aus, wiederholt die Treffen in der Geheimloge mit ihren humorig-blutigen Ritualen, die Lust am Parlieren weitet sich vom Jargon der Linguisten ins Englische und mit Vorliebe ins Italienische. Der Roman strotzt von Anspielungen, Referenzen und Spitzen, alles wird zum Symbol, man überliest viel. Natürlich ist “Die siebte Sprachfunktion” zu lang, aber trotz sich ähnendeln Humormechanismen wiederholt vergnüglich.

Der Roman von Binet ist eine Satire. Man muss nichts von Poststrukturalismus oder Sprachfunktionen wissen, um ihn lesen und verstehen zu können, dass Binet die Philosophen und ihre Sprachperformanzen veruzt. „Binet überzeichnet seine Figuren dabei ins Groteske: Tendenziell taktlos und mit durchaus erfrischender Respektlosigkeit entlarvt er ihre Eitelkeiten, internen Hahnenkämpfe, festgefahrenen Konflikte und unerfüllbaren Geltungsbedürfnisse. Doch vom Grotesken zum Klamauk ist es immer nur ein kurzer Weg, und Binet lässt die Phantasie ein wenig zu oft mit sich durchgehen.“(Patrick Kilian, foucaultblog)

Simon Herzog ist zum Semiotiker avanciert: „Meiner Meinung nach gibt es zwei große Herangehensweisen. Die Semiotik und die Rhetorik, verstehen Sie? (…) Die Semiotik hilft verstehen, analysieren, dekodieren – sie ist defensiv, sie ist Borg. Die Rhetorik ist dazu da, zu überreden, zu überzeugen, zu besiegen – sie ist offensiv, sie ist McEnroe. (…) Die Semiotik ist wie Borg: Es reicht, den Ball ein einziges Mal mehr zurückzuspielen als der Gegner. Die Rhetorik, das sind die Asse, Volleys, Spin- und Longline-Bälle, aber die Semiotik, das sind die Returns, Passierschläge und Lobs“ .

2015            525 Seiten

Leseprobe beim Rowohlt-Verlag

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