Nachrichten vom Höllenhund


Veremej
19. August 2017, 19:41
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Nellja Veremej: Nach dem Sturm

veremejGradow heißt die Stadt und auch die Festung, die Gefahren abwehrt und gerade deshalb im Zentrum der Gefahr steht. Gradow liegt auf dem Balkan, Südostmitteleuropa. In der Stadt treffen sich die Völker und Kulturen der Region, von außen droht das Fremde: die Osmanen, später die westliche Gier. „Griechen und Skythen, Städter und Nomaden, Römer und Bar­baren, Ostkirche und Westkirche, Wien und Istan­bul, Westblock versus Ostblock – die Namen ändern sich, die Machtzentren verschieben sich, aber die beiden Pole bleiben, und unsere Festung liegt mit­ten im Spannungsfeld.” Der “Zusammenstoß mit den Osmanen im Frühjahr 1715 (…) ist das Herzstück der Überlieferung, ihr Kern, um den die Geschichte der Stadt wächst. Auf die Schlacht folg­te eine lange Belagerung und darauf eine wundersame Rettung.”

Nellja Veremej will von allem erzählen, alles in ihrer Stadt versammeln. Die Familie von Ivo und Milly, die Kinder Ana und Boris, Freunde, Sonderlinge. Viele Personen repräsentieren Geschichte, haben ihren Auftrag im Roman. Ivo stammt aus einer bildungsbürgerlichen jüdischen Familie, seine Mutter war Deutschlehrerin aus Prag, seine Großeltern waren, wie es sich gehörte, Kommunisten, Ivo lebt in einer Zeit, in der beides nicht mehr angesehen ist. Seine Frau Milly war Sängerin, bis sie in einer Erkältung ihre Stimme verlor, jetzt haben sie sich auseinandergelebt.

Sohn Boris und Tochter Ana gingen nach 1989 in den Westen, kehrten aber nach Gradow zurück. Ana als Lehrerin, unzufrieden, seit sie ihren Freund Adnan bei einem Badeunfall verlor, Boris lebt und lobt als Generalbevollmächtigter Südosteuropa der AKRO die Segnungen des Neoliberalismus.

Boris hatte für einen Augenblick eine flüchti­ge Ähnlichkeit mit seinem Großvater Dragasch: sein Ordnungssinn, die Vorliebe für weiße Hemden, die mit seinem tadellos frisierten Haupthaar kontrastier­ten, für Halbtöne hatte auch Dragasch keinen Sinn ge­habt. Sein missionarischer Glaube war felsenfest, seine Visionen waren weltumspannend. Der eine glaubte an den Sieg der proletarischen Internationale, der ande­re an die Globalisierung und den weltweiten Triumph von AKRO.
»Alles spielt eine Rolle, wenn du etwas verkaufen musst! Selbst die Länge der Bartstoppeln in dem Ge­sicht des Mannes, der für Reisekoffer wirbt. Im Nor­den gilt ein Dreitagebart als attraktiv, hier bei uns we­cken glattrasierte Gesichter mehr Vertrauen. Bart hin oder her, die Zähne müssen immer tadellos sein; bei Zähnen gibt es in der Werbung keine Kompromisse.«
Vorsichtig tastete Ivo mit der Zunge nach der Lü­cke links oben und dem schiefen Zahn unten – er hat­te versprochen, auf Empfehlung seines Sohnes einen Kieferorthopäden aufzusuchen. Daher vermied er es, in seiner Anwesenheit laut zu lachen. Boris dagegen zeigte gern seine Zähne. Sein sanftes Lächeln war of­fen, als er den Zeigefinger auf seinen Vater richtete, um ihn an sein Versprechen zu erinnern.

Zu Mira hat er eine abgekühlte Beziehung, Vater Ivo aber ist ihr verfallen, ohne seine Glut ausleben zu können. “Ivo bleibt ste­hen, stemmt sich gegen die Stuhllehne, und plötzlich ist er Mira sehr nah, zu nah – sein Gesicht schwebt über dem Abgrund.” Ivo betreibt das Museumscafé, Mira “möchte die Ausstellung im Museum anders gestalten, so, dass sich die Geschichte wie ein Roman lesen lässt. Ein Roman voll Schmerz, Hoffnung und Liebe. (…) Mira hält triumphierend ein dicht bedrucktes Blatt in die Höhe: »Das ist genau das, was wir brauchen: politische Umwälzungen plus große Leidenschaften. Eitelkeit, Liebe, Eifersucht, Tod – alles da!«

Mira erzählt die Geschichte der Belagerung und Befreiung der Stadt Gradow in der Schlacht von 1715. Sie erzählt sie ausführlich.Wir sind Europas Nabel, sein Sonnengeflecht, das Reich der Mitte. Nur wenn wir uns so verkaufen, kommen die Touristen in Strömen, da bin ich sicher!« Ivo hört gebannt zu, ich bringe weniger Interesse dafür auf. Nellja Veremej packt zu vieles in ihren Roman. Entwicklungen über die Jahrhunderte werden parallelgesetzt, der Kommunismus als besiegter Besatzer, der Neoliberalismus als verstörender Sieger, auch die Flüchtlingszüge von 2015 tauchen auf, sogar Dean Reed, der „Rote Elvis“ kriegt sein Plätzchen. Die Familiengeschichte ist zugeschüttet.

Nellja Veremej wurde 1963 in der Sowjetunion geboren und kam 1994 nach Berlin. Sie schreibt auf Deutsch und stand 2013 mit ihrem ersten Roman „Berlin liegt im Osten“ auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis. „Gradow verdankt sich den Ideen des russischen Schriftstellers Andrej Platonow: 1926 erschien seine Novelle „Die Stadt Gradow“. Platonows Erzählungen schwappen in den Roman herüber, wie die Atmosphären aus Gemälden von Hieronymus Bosch oder Albrecht Dürer. Die vielleicht schönste Anverwandlung ist aber eine Überschreibung der Texte von Bruno Schulz. Wenn Veremej Mira durch das Labyrinth verlassener Werkstätten von Schneidern, Schustern und Uhrmachern streifen lässt, erwachen in Zitaten die „Zimtläden“ des großen polnischen Autors für Momente zum Leben: „Du konntest dort bengalisches Feuer finden, Zauberkistchen, Briefmarken, chinesische Abziehbilder, Indigo, Kolophonium aus Malabar, Eier exotischer Insekten, Papageien, Tukane oder lebende Salamander und Basilisken“. (Nico Bleutge, SZ)
2016         240 Seiten

Leseprobe beim Verlag Jung und Jung

Nellja Veremej liest aus dem Roman bei zehnseiten.de (11 Minuten)

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