Lucia Berlin:
Was ich sonst noch verpasst habe
Lucia Berlin war Tochter eines Bergbauingenieurs und lebte in wechselnden Minenstaaten der USA. Mit zehn Jahren erkrankte sie an Skoliose, was sie später zwang, ein Korsett zu tragen und ihre Atmung stark beeinträchtigte. Sie zog mit ihrer Familie und ihren Männern nach Mexico und Chile. Nach 1968 arbeitete sie kurze Zeit als Aushilfslehrerin an der University of New Mexico und schlug sich dann lange Jahre in Berkeley und Oakland in schlecht bezahlten Jobs als Telefonistin, Krankenhauspflegerin, Putzfrau, Arzthelferin und Lehrerin durch, zog alleinerziehend ihre vier Kinder groß und wurde zusätzlich zu ihren Gesundheitsproblemen noch alkoholabhängig. (nach Wikipedia)
Ihre Geschichten folgen diesem Leben an die Stationen, folgen ihm auch in die persönlichen Beeinträchtigungen, folgen ihm in die Abgründe zwischen selbstbestimmtem Leben und gesellschaftlicher Deprivation. Lucia Berlin hat wohl viel erlebt und kann deshalb so nahe und wirklich, so hart erzählen. Wobei: Die meisten Stories sind eher Beobachtungen. Voller Leid, voller Einsicht in die Gegebenheit der Lasten, voller Verständnis für Krankheit, Drogen, zerstörte Beziehungen. Das „Schicksal“ meint es nicht gut mit ihren Personen, die Personen nehmen das ihnen Zugemutete aber an, Lucia Berlin schreibt, als wäre das Stigma das Normale. Die Ich-Erzählerin ist immer mittendrin. Es wird auch viel geweint.
Als ich anfing, hier zu arbeiten, dachte ich, es sei eine riesige Verschwendung von Steuergeldern, zehn, zwölf OPs an Crack-Babys durchzuführen, die merkwürdige Anomalien hatten, nur um sie mit ihren Behinderungen am Leben zu halten und nach einem Jahr im Krankenhaus von einem Heim ins nächste zu schieben. So viele waren ohne Mütter, noch mehr ohne Väter. Die meisten Adoptiveltern sind großartig, aber manche machen einem Angst. So viele Kinder mit Einschränkungen oder Gehirnschäden, Patienten, die nie älter werden als ein paar Jahre.
Viele Patienten mit Downsyndrom. Ich glaubte, dass ich nie ein solches Kind haben könnte.
Jetzt mache ich die Tür zum Wartezimmer auf, und Toby, der entstellt ist und zittert, Toby, der nicht reden kann, ist da. Toby, der in Beutel pinkelt und scheißt, der durch ein Loch im Bauch ernährt wird. Toby kommt und umarmt mich, lachend, mit offenen Armen.
Wenn ich hinausgehe, stelle ich meine Augen gewissermaßen unscharf, und wenn ich die Namen der Patienten aufrufe, lächele ich der Mutter, Großmutter oder Pflegemutter zu, schaue aber auf ein drittes Auge in ihrer Stirn. Das habe ich in der Notaufnahme gelernt. Es ist die einzige Möglichkeit, wie man hier arbeiten kann, bei den vielen Crack-Babys und Aids- und krebskranken Säuglingen. Babys, die nur wenige Jahre vor sich haben. Wenn du den Eltern in die Augen siehst, dann wirst du ihre ganze Angst, ihre Erschöpfung und den Schmerz mit ihnen teilen, sie darin bestätigen. Andererseits, wenn du sie erst einmal kennengelernt hast, kannst du manchmal nichts weiter tun, als ihnen in die Augen zu sehen mit all der Hoffnung und der Traurigkeit, die sich anders nicht ausdrücken lassen. (…) Es ist eine lohnende Arbeit, anders als in einem normalen Büro. Sie hat auf jeden Fall meine Wahrnehmung der Dinge verändert.
Lucia Berlin hat den Vorteil, durch ihre Bildung außerhalb der Personen stehen zu können, über ihnen, genau hinzusehen und die Wörter für die Beschreibung zu haben. Oft wird zwischen Englisch und Spanisch vermittelt, sie kehrt das nie hervor, betont aber stets ihre Erkenntnisse. Die Geschichten treten auf der Stelle, sind aber doch strukturiert, leben von einem nüchternen, einfühlsamen, lakonischen Schlusssatz, wie in der Geschichte von „El Tim“, dem renitenten Schüler:
Seine dunklen Augen suchten mein Gesicht. Für einen Augenblick war der Schleier verschwunden. »Ich schätze, dann sind wir quitt«, sagte er. »Ja«, sagte ich, »lass uns zum Unterricht gehen.« Ich ging mit Tim den Flur entlang und gab mir Mühe, mich nicht dem Rhythmus seiner Schritte anzupassen.
Oder “Carmen”: »Wo ist mein Baby? Wo ist sie?« Die Schwester verließ das Zimmer. Ich war an die Seiten des Bettes gefesselt. Ein Arzt kam herein. »Bitte binden Sie mich los.« Er tat es und war so liebevoll, dass ich Angst bekam. »Was ist los?«
»Sie wurde zu früh geboren«, sagte er, »wog nur wenige Pfund. Sie hat nicht gelebt. Es tut mir leid.« Er streichelte meinen Arm, so unbeholfen, als würde er ein Kissen streicheln. Er sah sich mein Krankenblatt an. »Ist das Ihre Telefonnummer? Soll ich Ihren Mann anrufen?«
»Nein«, sagte ich. »Es ist niemand zu Hause.« – Ende. Keine weiteren Aussichten.
Antje Rávic Strubel hat 30 Stories aus den Jahren 1977 – 1999 ausgewählt und treffsicher übersetzt in ein sachliches Deutsch. Die meisten Geschichten kreisen um Krankendienste, Putzhilfen, Alkohol, Familiendesaster, es ergeben sich viele Ähnlichkeiten, Überlagerungen und Verknüpfungen, auch Ermüdungen. Mit der Hälfte der Texte hätte man ein ebenso gutes Bild vom Schreiben Lucia Berlins. Sie ergeben ein Kaleidoskop, den Schritt zum Roman hat Lucia Berlin nicht geschafft. Nur wenige Geschichten durchbrechen die Thematik, etwa “Toda Luna, Todo Año” vom Tauch-Erleben auf “La Isla”, eine der wenigen Stories, die nicht in Ich-Form geschrieben sind. Ein Buch, auf dessen heitere Härte man nicht gefasst ist. Ein Buch auch über Leben in Amerika (“Wie Heroin die amerikanische Mittelschicht zerstört – Eine nie da gewesene Drogenepidemie hat die ländliche US-Bevölkerung erfasst”, schreibt der Spiegel im August 2017). Vom allgemeinen Rezensentenjubel lassen sich die Kritiker gerne anstecken: „Man muss sie einfach mögen “ (Susanne Mayer, ZEIT)
Erwischte er das Ende einer Geschichte, dachte er sich aus, was vorher passiert war, oder versuchte, es aus anderen Seiten in der Hütte zusammenzustückeln. Sobald er den gesamten Raum durchgelesen hatte, lief er tagelang hin und her und fing dann wieder von vorn an. Ich war nicht dabei, als mein Vater dann im Frühjahr zum ersten Mal hochging und den alten Mann tot auffand. Auch die Ziegen und der Hund waren tot, alle in seinem Bett. »Wenn mir kalt wird, hol ich mir einfach noch eine Ziege dazu«, hatte Hancock immer gesagt. (“Phantomschmerz”)
Ich weiß nicht, wie ich überhaupt darauf komme. Elstern blitzen jetzt blau und grün vor dem Weiß des Schnees auf. Sie haben ein ähnliches herrisches Kreischen. Natürlich könnte ich in einem Buch nachsehen oder jemanden anrufen und nach den Nistgewohnheiten von Krähen fragen. Aber was mich stört, ist, dass ich sie nur zufällig bemerkt habe. Was habe ich sonst noch verpasst? Wie oft war ich in meinem Leben gewissermaßen auf der hinteren Veranda statt auf der vorderen? Was hat man mir gesagt, ohne dass ich es hörte? Welche Liebe mag es gegeben haben, die ich nicht spürte?
2015 380 Seiten
Das Literarische Quartett vom Juni 2016 (0:17)
SRF-Literaturclub vom Mai 2016
Kritik von Christopher Schmidt in der SZ
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